Der ungarische Regierungschef Viktor Orban will über eine neue Vetodrohung eine Grundsatzdebatte über die Ukraine-Politik der Europäischen Union erzwingen.
Solange man keinen Konsens über die zukünftige Strategie im Umgang mit dem Land gefunden habe, könne es auf Ebene der Staats- und Regierungschefs keine Entscheidungen über zusätzliche finanzielle Unterstützung, Sicherheitsgarantien oder den EU-Erweiterungsprozess geben, schreibt Orban in einem Brief, der an EU-Ratspräsident Charles Michel ging und auch an die EU-Partnerländer in Brüssel verteilt wurde.
Auch eine Einigung auf weitere Russland-Sanktionen sei bis dahin nicht möglich.
Der Brief Orbans sorgt in Brüssel für Aufregung, weil eine Mehrheit der EU-Staaten bei einem Gipfeltreffen am 14. und 15. Dezember eigentlich weitreichende Entscheidungen zugunsten der Ukraine treffen will.
Dazu gehört der Start von EU-Beitrittsverhandlungen und weitere finanzielle Unterstützung in Milliardenhöhe bis Ende 2027. Ein Beschluss ist aber nur möglich, wenn keiner der Mitgliedstaaten ein Veto einlegt.
Orban stellt strategische Fragen
Konkret fordert Orban, sich in der Runde der Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten mit einer Reihe von Fragen zu beschäftigen. Eine ist die, ob das strategische EU-Ziel eines Siegs der Ukraine in Verbindung mit grundlegenden politischen Veränderungen in Russland noch immer als realistisch angesehen werden kann.
Zudem stellt er etwa die Frage, was für eine Sicherheitsarchitektur in Europa nach dem Krieg denkbar sei und wie man den Wunsch der Ukraine nach einem EU-Beitritt mit den politischen und wirtschaftlichen Realitäten in Einklang bringen könne.
Grundlage für die Debatte sollte Orbans Meinung nach eine ausführliche Analyse der bisherigen Sanktionsfolgen und der Unterstützungsprogramme für die Ukraine sein. Bislang hat die EU-Kommission beispielsweise noch nicht darüber kommuniziert, wie auch die europäische Wirtschaft von den Strafmaßnahmen gegen Russland getroffen wird.
Die jüngste, im Oktober beschlossene EU-Erklärung zur Ukraine basiere auf der Annahme, dass die derzeitige Strategie der EU funktioniere, argumentiert Orban in dem Schreiben, das die Deutsche Presse-Agentur einsehen konnte.
Die Situation vor Ort lasse daran allerdings Zweifel aufkommen, da die Lage auf dem Schlachtfeld trotz der ukrainischen Gegenoffensive weitestgehend unverändert sei. Die Entwicklungen rechtfertigten eine «Reflexionsphase» und möglicherweise eine Anpassung der Ziele und Instrumente der EU, schreibt er.
Diplomaten räumten am Mittwoch ein, dass Orban in dem Brief richtige und wichtige Fragen stelle. Zugleich habe er allerdings durch sein jüngstes Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin den Verdacht genährt, unter Einfluss von Russland zu handeln.
Hinzu sei wahrscheinlich, dass es Orban auch darum gehe, mehr als 13 Milliarden Euro an eingefrorenen EU-Fördermitteln für sein Land freizupressen. Die EU-Kommission hatte vor rund einem Jahr angekündigt, die Gelder erst dann freizugeben, wenn die Regierung von Orban Versprechen zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit komplett umsetzt. Orban ist der Ansicht, dass sein Land alle Auflagen erfüllt hat.
Milliarden für Kiew
Gesichert ist die finanzielle Unterstützung der EU für die Ukraine derzeit nur bis Ende des Jahres. Insgesamt wurden 18 Milliarden Euro eingeplant, am Mittwoch überwies die EU davon einen weiteren Teilbetrag in Höhe von 1,5 Milliarden Euro.
«Das hilft uns, die ökonomische Stabilität unter Kriegsbedingungen zu wahren», dankte Regierungschef Denys Schmyhal bei Telegram. Brüssel hat die Ukraine seit dem russischen Einmarsch vor knapp 21 Monaten mit 85 Milliarden Euro unterstützt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte vorgeschlagen, dass der EU-Beitrittskandidat bis Ende 2027 weitere 50 Milliarden Euro erhalten solle.
Die EU hat die USA inzwischen als größten Finanzier der ukrainischen Regierung überholt. Die Bundesregierung hatte zudem angekündigt, die Rüstungshilfen für das Land zu verdoppeln.