Das Entsetzen im Saal war vernehmlich. „Das hat uns Angst gemacht“, bekannte Monika-Fontaine-Kretschmer, Vizepräsidentin des DV und Geschäftsführerin der Nassauischen Heimstätte. Immer wieder wurde von Rednern und Moderatoren gestichelt - und damit sogar ein Stück weit die eigene Zunft in Frage gestellt. Schließlich dachten Städte und Kommunen, sie seien längst über Trabantenstädte und Banlieues mit den sozialen Problemen hinaus gewachsen in den vergangenen 30 Jahren. Weit gefehlt. Die Provokation war womöglich ein Weckruf.
Baulücken finden und Dachgeschoss-Ausbau reichen nicht
Der Versuch, Baulücken zu finden, Dachgeschosse auszubauen, gleich ganze Häuser mit weiteren Geschossen aufzustocken oder am besten nicht mehr benötigte Konversionsflächen zu entdecken und zu entwickeln und zu bebauen, sind zwar nicht gescheitert, erfüllen die anstehenden Aufgaben allerdings nicht. Die Referenten aus dem Nord und Süden Republik wussten von vielfältigen Anstrengungen zu berichten, Restflächen zusammen zu klauben.
In Göppingen östlich von Stuttgart werden etwa brachliegende Einzel-Grundstücke gegen Eigentumswohnungen getauscht, gesammelt und verwertet, referierte Frank Friesecke, Geschäftsführer der Stuttgarter STEG Stadtentwicklung GmbH. 400 Baulücken wurden so zusammengetragen, nachdem sich deren Eigentümer endlich eingestanden hatten, dass ihre Enkelkinder diese sicherlich nie selbst nutzen, weil sie eher nicht an den Ort ihrer Kindheit zurückkehren wollen - wie so oft im ganzen Lande.
„Die Probleme sind diffus“, gestand Henk Brockmeyer, Geschäftsführer der NRW.Urban Service GmbH, „mit Schema F kommen wir heutzutage nicht mehr zum Zuge. Jedes Grundstück braucht seinen eigenen Fahrplan.“ Sein Haus hat es in mühsamen Baulandgesprächen in über 1000 Kommunen geschafft, im bevölkerungsreichsten Bundesland immerhin noch 5800 Hektar Flächenreserve zu identifizieren. „340 Brachen wurden gegutachtet, 75 Standorte sind noch in der Prüfung“, so Brockmeyer, darunter Tagebau-Flächen an der Abbruchkante. Es gibt aber auch 2500 Eigenheim-Grundstücke mit Potenzial. Große Überraschungen seien nicht zu verzeichnen, auch der Pott wird nicht immer wieder aufs Neue entdeckt.
Ob tatsächlich noch Parkplätze und überflüssige Straßen zu entdecken wären, die sich so ohne weiteres in Bauland verwandeln könnten, so die von Anja Liebert geäußerte Hoffnung, der grünen Bundestagsabgeordneten im Bauausschuss, darf bezweifelt werden. Auch leerstehende Hertie-Kaufhäuser in Innenstädten schaffen es nicht nennenswerte Zahlen für den Wohnungsbau auf die Waagschale zu werfen.
Die Migrationskrise hat endgültig offenlegt, wie die öffentliche Hand im Blindflug in eine der größten sozialen Krisen Deutschlands geschlittert ist. Wohnungen kann man nirgends en gros anmieten oder gar einkaufen. Der Wohnungsmangel (bei gleichzeitiger Hoffnung klimaneutraler Sanierung des Bestands) wird sich erst mühsam in Jahren oder gar Jahrzehnten lösen lassen, selbst wenn Scholz seine Blüten-Träume von 20 Neustädten verwirklichen könnte.
70er-Jahre-Siedlungen? „Der Impuls war notwendig!“
Bernhard Daldrup, baupolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, mühte sich deshalb auch redlich, seinen Kanzler zu interpretieren und verständlich zu übersetzen. „Dieser Impuls war dringend notwendig“, entgegnete Daldrup trotzig dem Plenum. Scholz gehe es darum, wie in der sozial-liberalen Regierungs-Ära politisch drängende Probleme angegangen worden sind. Nicht kleckern, sondern klotzen! Tatsächlich sind anno 1973 in Westdeutschland über 800,000 Wohnungen in nur einem Jahr fertiggestellt und bezogen worden, von den vergleichbaren Anstrengungen der DDR am Rande ihrer Großstädte ganz zu schweigen.
Seinerzeit gab es mit der Ölkrise 1973 sogar einen weltwirtschaftlichen Schockzustand. Freilich stand da noch keine Schuldenbremse im Grundgesetz. Immerhin versicherte Dahldrup, dass sicher niemand mehr Großwohnsiedlungen wie das Märkische Viertel in Berlin, die Bremer Neue Vahr oder Köln Chorweiler errichten möchte. Die technischen Fortschritte beim seriellen Bauen von heute seien nicht gleichbedeutend mit den rudimentären Plattenbauten dieser Zeit.
Die Wohnungsnot ist jedenfalls durch Verdichtung nicht mehr lösbar, dieses Fazit der Diskussion wurde augenscheinlich. Insofern hatte sich die Tagung mit dem Titel „Innenentwicklungs-Potenziale für den Wohnungsbau aktivieren“ bereits in der Überschrift die falsche Aufgabe gestellt. Sich an den Wunsch-Standorten des Bundeskanzlers abzuarbeiten, wäre vermutlich das bessere Thema gewesen. Stadtplanerin Elke Pahl-Weber, Innenstadt-Koordinatorin der Hansestadt Hamburg und Moderatorin der DV-Tagung, ahnte wohl bereits, Scholz könnte ein bestimmtes Hamburger Quartier im Kopf herumschwirren. Olaf Scholz war von 2011-2018 Erster Bürgermeister und hatte es dort anno 2016 höchstselbst als IBA-Projekt auf den Weg gebracht: die Neubaustadt Oberbillwerder.
Hamburg erfüllt Kanzlerwunsch in Oberbillwerder
Beseelt, seiner Heimatstadt international Geltung zu verschaffen, ist Oberbillwerder mindestens so sehr Vermächtnis von Scholz wie der jetzt brachliegende Elbtower des Immobilien-Tricksers Rene Benko am Rande der neuen Hafen-City. „Gut möglich“, gestand jedenfalls Timo Weedermann-Korte, Referatsleiter für Stadtentwicklung in Hamburg, auf Nachfrage der Deutschen Wirtschaftsnachrichten, „dass bei uns im Südosten mit Oberbillwerder genau das entsteht, was dem Kanzler vorschwebt“.
Prof. Pahl-Weber hatte Stadtplaner Weedermann-Korte im Saal ermutigt, über die mannigfaltige Zielrichtungen des Hamburger Senats bei der Landgewinnung zu berichten. Oberbillwerder sollte nicht mal so im Mittelpunkt stehen. Hamburg-Tonndorf eher, wo entlang einer Magistrale eingeschossige Wohnbauten mit tiefreichenden Gartenflächen eine Fehlallokation von Baugrund darstellen, der übliche Kleinkram aus dem Instrumentenkoffer der Innenstadtentwicklung halt.
Oberbillwerder wird der 115. Stadtteil der Hafenstadt. Auf 120 Hektar einstiger Ackerflächen sind bis zu 8,000 Wohnungen, 14 Kitas, zwei Grundschulen und 28 Hektar Grünflächen geplant – es könnte eine Kleinstadt mit über 15,000 Bewohnern werden. Hamburg nennt diesen Modell-Stadtteil in Broschüren „Active City“. Ganz ähnlich der Seestadt Aspern, dem 22. Wiener Bezirk.
Wie in Wien, wo heute über 500,000 Bürger in Gemeindewohnungen leben, scheint Hamburg ohnehin beim Thema Wohnraum und Neubau vieles richtig zu machen. Das geht auch aus dem aktuellen Mietspiegel hervor. Nach Angaben des Immobilienverbund Deutschland (ivd) ist der Mietenanstieg in 2023 „deutlich geringer ausgefallen als bei der letzten Erhebung in 2021“. Der Durchschnittswert von 9,80 Euro pro Quadratmeter veranschaulicht, dass sich Hamburg aus dem Wettbewerb mit München und Berlin um den Rang der teuersten Städte verabschiedet hat.
Kleingärten für den Wohnungsbau vielerorts sakrosankt
Und selbst innerstädtisch bekommt Hamburg Dinge hin, an denen etwa Berlin verzweifelt. So ist entlang der Elbe in den vergangenen Jahren mit zehn Quartieren auf 157 Hektar die maritime Hafen-City entstanden, ein Projekt von nicht nur regionaler Dimension, sondern europäischem Maßstabe. 8000 Wohnungen wurden gebaut, vor allem zehn Milliarden Euro an privaten Investitionen angelockt. Die öffentlichen Investitionen betrugen dabei gut drei Milliarden, wurden überwiegend aber aus Grundstücks-Verkaufserlösen refinanziert. Ein Perpetuum mobile, das längst noch nicht abgeschlossen ist, im Frühjahr erst hat die ECE-Gruppe Baustart für weitere 600 Wohnungen in bester Wasserlage gefeiert. Die Hamburger Innenstadt ist mit der Hafencity so flächenmäßig allmählich 40 Prozent gewachsen.
Und selbst mitten im Hamburger Stadtpark wurde fortgebaut, ohne dass sich jemand an Bäume angekettet hätte – mitten in einer Kleingartenanlage. „Wir haben bei uns den so genannten 10,000er-Vertrag mit dem Landesverband der Kleingärtner“, erklärt Stadtplaner Weedermann-Korte. Diese Übereinkunft ermöglicht der Stadt problemlos bei Bedarf, Laubenpieper umzusiedeln, wenn Flächen für Bauvorhaben benötigt werden. „Dadurch konnten wir beispielsweise das Pergolenviertel am Stadtpark auf ehemaligem Kleingartengelände errichten.“ Immerhin 1700 Wohnungen auf 27 Hektar entlang der S-Bahn-Station Alte Wöhr zwischen Innenstadt und Flughafen. Den Kleingärtnern werden zum Ausgleich kleinere Flächen angeboten.
Not in my backyard - eine Phrase zum Verzweifeln
In Berlin, wo es noch weit mehr Möglichkeiten gebe, beste innerstädtische Lagen für Wohnungen zu nutzen, statt auf der grünen Wiese planen zu müssen, gilt dies als heilige Kuh, die weder Grüne noch SPD oder CDU schlachten wollen. Allein der Gedanke, Datschen an den Stadtrand zu verlagern, bringt die Volksseele zum Kochen - es kommt nicht mal zu Diskussionen. Selbst nur die Nachverdichtung von grünen Innenhöfen wie (in einem Block der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Gesobau) am Schloss Schönhausen oder die Einengung einer extrabreiten Magistrale wie an der Michelangelostraße in Weißensee führt zu erbittertem Streit und Anwohnerprotesten. Seit Jahren prangen Widerstands-Transparente von den Balkonen. „Not in my backyard“, so die ernüchterte Phrase aus dem Repertoire verzweifelter Stadtplaner.