Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Corona-Jahre haben gezeigt: Viele Bürger waren bereit, ihre Freiheit zugunsten einer vermeintlichen Sicherheit aufzugeben. Grundrechte wurden zur Verhandlungsmasse. Wie erklären Sie sich das?
Michael Esfeld: Zunächst einmal ist ja völlig in Ordnung, wenn Leute ihre Freiheit aufgeben wollen, Orientierung suchen und so weiter. Das tun wir ja alle. Das ist überhaupt kein Problem. Das Problem ist, wenn sie anderen aufzwingen wollen, ihre Freiheit aufzugeben. Also das Problem ist nicht, dass jemand in bestimmter Hinsicht seine Freiheit aufgibt und sich Anordnungen anderer fügt, da Orientierung sucht und sich deswegen an Experten oder meinetwegen Religionsführern oder an wem auch immer orientiert. Das ist überhaupt nicht der Punkt. Da ist jeder willkommen, das zu tun. Der Punkt ist nur, wenn ich anderen etwas aufzwingen will. Ich kann ja versuchen, andere zu überreden. Also ich kann Plakate aufhängen, „Jesus liebt dich“ und sagen, bitte folgt Jesus und so weiter. Aber wenn ich andere dazu zwingen will, ist das ein Problem. Weil Freiheit ja bedeutet, dass jeder sich zu dem, was ihm gegeben ist, an Sinneseindrücken, an Begierden, an Umwelteinflüssen etc. positionieren kann, darüber nachdenken kann und sich selbst überlegen kann, wie sie oder er sich dazu verhalten will. Und da darf man nichts aufzwingen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie erklären Sie sich, Herr Professor Schubert, diese Vehemenz, mit der man versucht hat, anderen ihre Freiheit zu nehmen? War es die Angst vor Corona?
Christian Schubert: Also ich bin der Meinung, dass es bereits eine Art Vorabverwundbarkeit gab. Denn ich denke nicht, dass wir bei Corona in den letzten drei Jahren eine Situation erlebten, die aus dem Nichts kam, sondern ich glaube, dass es da eine gewisse Prädisposition in der Bevölkerung gab, ich würde sogar einen Schritt weitergehen und sagen, in unserer Kultur gab. Und diese Prädisposition hat Menschen bereits seit langer Zeit anfällig dafür gemacht, während einer vermeintlichen Gefahrensituation, wie sie in den letzten drei Jahren bestand, in einen Zustand zu geraten, der unter anderem mit einer Aufgabe der eigenen Freiheit verbunden sein kann.
Aber Vorsicht, waren wir vor Corona überhaupt frei? Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Ich frage mich nämlich, ob wir nicht schon länger in einem Menschenbild, in einer Ideologie gefangen sind, die per se mit Unfreiheit in Verbindung steht. Also ich argumentiere aus der Medizin heraus, ich bin Mediziner, und setze mich schon seit vielen Jahren kritisch mit dem reduktionistisch-mechanistischen Menschenbild in der Medizin auseinander. Mittlerweile würde ich jedoch sagen, dass das falsche Menschenbild nicht nur ein medizinisches Thema ist, sondern dass der reduktive Materialismus, der natürlich während der letzten drei Jahre ganz besonders in der Medizin deutlich wurde und dessen Begrenztheit ich erkennen konnte, auch weit über die Medizin hinausgeht und unsere gesamte westliche Kultur umfasst. Das heißt, den Materialismus, den reduktiven Materialismus, also die Idee, dass Leben Stoff ist und auf Stoff reduziert werden kann, den halte ich mittlerweile für ein tödliches, ideologisches und damit auch totalitäres Menschenbild und Unterfangen, in dem wir uns aber seit Jahrhunderten befinden. Der ist nichts Neues.
Ich glaube daher, dass wir längst nicht mehr frei sind. Ich bin der Überzeugung, dass die menschlichen Fehlentwicklungen dieses reduktiven Materialismus wie Industrialisierung, Technisierung, Kapitalismus, Neoliberalismus, ja Transhumanismus, sich immer weiter zuspitzen werden und bereits jetzt in alle Facetten unseres Lebens vorgedrungen sind. Deswegen glaube ich zum Beispiel auch nicht, dass uns irgendwelche Bösewichte ständig die Freiheit nehmen, uns herumjagen wollen und uns die Corona-Pandemie bewusst willentlich aufgebürdet haben. Ich glaube, wir sind der Materialismus. Wir existieren in ihm, er ist in dieser Hinsicht immerzu wirksam, hat sich verselbstständigt, ist an sich totalitär. Auch wenn das vielen nicht bewusst ist. Wenn wir Leute draußen auf der Straße fragen würden, ob sie sich frei fühlen, dann würden die meisten sagen, dass sie in einer freien Gesellschaft und Kultur leben. Genau das bezweifle ich aber. Den Einfluss, den der Kapitalismus mit Hilfe von Soft Power-Techniken wie Framing und andere Formen der Tiefenindoktrination und Meinungsmanipulation auf unser alltägliches Erleben und Verhalten, auf Konsum und Leistung und auf Menschenmaschinen in allen Lebensbereichen ausübt, lässt uns viel weniger frei sein als wir denken.
Michael Esfeld: Also ich würde sagen, wir sind frei. in einer freien Gesellschaft, ganz einfach deshalb, weil wir hier reden können. Also ich nehme an, dass wenn das Video im Netz steht, dann kann es schon passieren, dass es zensiert wird. Aber dann können wir es auf eine andere Plattform stellen. Und ich gehe davon aus, dass heute Mittag, wenn das Video einmal da ist, keine Polizei vor unserer jeweiligen Haustür steht und uns in irgendein Lager abführt. Ich habe gerade heute Morgen im Deutschlandfunk einen Beitrag über den Iran gehört. Darin ging es um zwei Mädchen. Das eine hatte ihren Schleier nicht richtig getragen. Es kam eine Woche ins Gefängnis und wurde gefoltert. Und das andere Mädchen hatte noch ein Flugblatt für Demokratie in der Tasche. Beide waren 15 Jahre alt und das 15-jährige Mädchen mit dem Flugblatt für Demokratie wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Also das ist dann keine freie Gesellschaft. Und das haben wir hier nicht.
Also da denke ich, dass man hier bei uns vieles beklagen kann. Aber in dem Sinne, dass wir unsere Meinung äußern können, dafür auch werben können über Videos etc. haben wir hier eine freie Gesellschaft. Da kommt in der Regel keine Polizei und holt einen ab.
Doch nun zu dem, was Christian als reduktiven Materialismus bezeichnet hat. Ich würde das Szientismus nennen. Der beschreibt den Moment, in dem Wissenschaft übergreift auf den Menschen als Wesen mit Bewusstsein, als fühlendes Wesen, als denkendes Wesen, als handelndes Wesen. Mein Hauptarbeitsgebiet ist eigentlich Philosophie der Physik. Und ich würde auch sagen, die moderne Physik, die von Descartes ausgegangen ist, ist für die unbelebte Natur ja vollkommen richtig. Und sie ist da erfolgreich. Der Fehler besteht jetzt darin aus diesem Erfolg, den Schluss zu ziehen, dass diese physikalische Beschreibung der nicht menschlichen Umwelt alles ist. Das ist das, was Hayek und Popper dann Szientismus nennen. Und Hayek sagt, das ist die Counter-Revolution of Science, also die wissenschaftliche Gegen-Revolution.
In dem Moment, wo es in die Gesellschaft reingeht, wo man sagt, ihr seid selbst nur physikalisch bewegte Objekte, wird es unwissenschaftlich. Und jetzt kommen irgendwelche Experten in Anführungsstrichen, die dann Social Engineering betreiben, also soziale Ingenieurskunst, und uns lenken. In dem Moment wird es totalitär. Das ist dann der politische Szientismus. Und genau das haben wir in der Medizin erlebt, Christian. Da würde ich dir auch vollkommen zustimmen.
Aber inwieweit das jetzt die Mediziner machen, kann ich nicht beurteilen. Ich habe dieses Strategiepapier von Neil Ferguson, dem seinerzeitigen Berater von Boris Johnson, in Erinnerung. Darin steht: wenn es keinen Lockdown gibt, dann gibt es im Vereinigten Königreich 500.000 Tote und in den USA 2 Millionen Tote. Das war im März 2020 und die Prognose für Sommer 2020. Das Problem ist: Darin kamen Menschen überhaupt nicht vor. Der hat Menschen wie physikalische Objekte behandelt, die von alleine nicht reagieren, die nicht selbst denken und die, wenn sie ein Virus kommt, ihr Verhalten nicht anpassen. Die infizieren sich gegenseitig. Als ob ihre Bahnen rein mechanisch wären. Und jetzt muss der Experte eingreifen und dem Politiker sagen, okay, ihr müsst die Bahnen dieser Menschen steuern, die einsperren und sonst was. Und das ist genau das, was du sagst. Das ist genau dieses szientistische Weltbild. Menschen sind auch physikalische Objekte. Aber - und jetzt kommt eben das, das Elitäre da rein, das Platonische - einige Menschen, also der Herr Ferguson zum Beispiel, natürlich nicht. Das ist jetzt die Elite der Lenker. Also ich glaube auch nicht, dass diese Geschichten, wir hätten es mit ein paar Bösewichten zu tun, stimmen. Aber wir haben es mit Personen zu tun, mit einflussreichen Personen, die für sich natürlich die Freiheit in Anspruch nehmen, andere zu lenken. Die nehmen ihre Freiheit in Anspruch und die sprechen anderen, die Freiheit ab. Sie sagen, die Bevölkerung, die Menschen, das sind bloße Objekte. Aber wir sind die Platonischen. Wir wissen das Gute. Wir können die lenken. Und das ist dann ein abscheulicher und totalitärer Cocktail. Also der Szientismus übertragen, plus jetzt dieser Expertenarroganz.
Christian Schubert: Ja, ich glaube, wir sind uns in diesem Punkt sehr einig. Das Einzige was ich noch gerne aufgreifen würde, ist der Unterschied zwischen Hard Power und Soft Power. Weil das, was du erzählt hast über den Iran, das ist Hard Power. Und da scheint Meinungsmanipulation noch mit schierer körperlicher Gewalt möglich zu sein, ohne dass es eine Revolution oder ähnliches zur Folge hat. Aber ich glaube bei uns, den vermeintlich Aufgeklärten, nutzen sie eher Soft Power-Techniken zur Meinungsmanipulation und zur Aufrechterhaltung einer Scheindemokratie.
Wir müssen uns vielleicht mehr mit der Frage beschäftigen, ob nur der Verstand und die Vernunft reichen, um frei sein zu können, oder ob da vielleicht doch noch etwas Übergeordnetes oder wenn man so sagen will Tieferes existiert, etwas, was psychologisch Denkende als unbewusst bezeichnen würden. Dass sozusagen dieser Ratio eine Irratio gegenüberzustellen ist, die einen riesigen Teil ausmacht, wenn es um die Frage der Freiheit geht. So gesehen müssen wir uns auch fragen, ob die oft gepriesene Aufklärung nicht doch eher in Richtung des von dir erwähnten Szientismus geht, also eher den kühlen, rationalen Teil betrifft. Also ich würde die Welt, in der wir uns bewegen, deswegen als unfrei sehen, weil ich mittlerweile den starken Verdacht habe, dass hier enorme Soft Power-Techniken verwendet werden, um über unbewusste Prozesse unser Denken zu manipulieren und unsere Meinungen zu beeinflussen. Wer hingesehen hat, konnte in den letzten drei Jahren sehr gut beobachten, wie uns scheibchenweise Informationen zugespielt wurden mit dem offensichtlichen Ziel, Menschen in Angst zu versetzen. Indem fundamentale Gefühle wie Angst oder Schuld aktiviert wurden, hat man eine Masse, die bereits seit Langem der kulturellen Entfremdung des Materialismus zum Opfer fällt, auf einer tiefen emotionalen Ebene getriggert – es war damit zu rechnen, dass diese verwundete Gesellschaft kippt.
Aber das wurde nicht mit Hard Power gemacht, das wurde alles, wenn man es genau betrachtet, mit Soft-Power-Techniken gemacht. Und diese sind wirkmächtiger. Dabei gehe ich jetzt von einem medizinisch ganzheitlichen, biopsychosozialen und systemtheoretischen Zugang aus, wo Soziales komplexer ist als Biologisches. Also man dreht sozusagen das Ganze um und sagt jetzt nicht wie der Schulmediziner – der szientistische, reduktiv-materialistische Mediziner – das Biologische sei die Ursache für Gesundheit und Krankheit, die Gene, die Moleküle. Das neue Medizinparadigma würde das Ganze umdrehen und sagen, nein, es ist die Kultur, die uns krank macht, es ist die Gesellschaft, und die Gene stehen unter der Kontrolle von immateriellen Faktoren, die offensichtlich weit wirksamer sind. Damit wäre auch Soft Power wirksamer als Hard Power. Also es würde bedeuten, dass Hard Power stofflich und Soft Power feinstofflich ist. Und vielleicht abschließend, ich fand super, was du vorhin mit dem Fehler, aus Unbelebtem auf Belebtes zu schließen, gemeint hast: Also Du hast gesagt, dass wir durch die physikalistische Analyse des Unbelebten wahnsinnig viel in der Wissenschaft geschaffen haben und dass der große Fehler dabei war, all das auf Belebtes zu übertragen und somit letzten Endes Reduktionismus zu betreiben. Genau das sehen wir in der Medizin: Sie ist enorm erfolgreich im Physikalisch-Technischen, wenn es um den Notarztwagen geht und um all diese wunderbaren technischen Fortschritte. Schauen wir uns aber die chronischen Krankheiten an, die immer weiter zunehmen und ein Leben lang andauern, bis ein Mensch dann reparaturbedürftig ist, versagt die derzeitige Schulmedizin kläglich. In der gängigen Schulmedizin wird ja dieses Wissen aus dem unbelebt Technischen auch auf das Belebte übertragen, also in Form von Medikamenten, Operationen, Ratschlägen für Ernährungsveränderungen und Veränderungen der körperlichen Fitness des Menschen. Für eine langfristige Gesundheit gibt man also Tipps, die höchst materialistisch sind und überhaupt nichts damit zu tun haben, wer wir eigentlich sind, warum wir ungesund leben, weshalb wir in so offensichtlich chronischen psychosozialen Belastungssituationen gefangen bleiben, so dass wir dadurch früher oder später krank werden. Also dieser Aspekt des belebten Psychosozial-Kulturellen ist in der Medizin ein Fremdwort, den gibt es da gar nicht. Der wird nicht gelehrt, der wird nicht angewendet, das sind vielleicht ein paar Ganzheitsmediziner, die sich zwar damit auseinandersetzen, es aber auch nicht wirklich gelernt haben. Eine wirk-liche Medizin hingegen würde sich mit diesen Grundthemen des Nicht- oder Feinstofflichen in Gesundheit und Krankheit auseinandersetzen.
Lesen Sie morgen den zweiten Teil des Interviews.
Infos zu den Personen: Prof. Dr. Michael Esfeld ist seit 2002 Professor für Philosophie an der Universität Lausanne und Mitglied des Akademischen Beirats des Liberalen Instituts. Er ist seit 2010 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, 2013 erhielt er den Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Er ist Autor u. a. von „Philosophie der Physik“ und „Wissenschaft und Freiheit“, kürzlich ist von ihm „Land ohne Mut“ erschienen.
Univ.-Prof. Dr. Dr. Christian Schubert ist Arzt, Psychologe und Ärztlicher Psychotherapeut mit tiefenpsychologischer Ausrichtung. Seit über 25 Jahren erforscht er die Wechselwirkungen von Psyche, Gehirn und Immunsystem. Er ist Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie am Department für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie der Medizinischen Universität Innsbruck und Autor zahlreicher vielbeachteter Fachpublikationen und Sachbücher. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt ist die Entwicklung eines Forschungsdesigns zur Untersuchung psychosomatischer Komplexität, die Integrative Einzelfallstudie.