Unternehmen

Die deutsche Wirtschaftskrise ist eine Chance für Start-ups

Lesezeit: 6 min
24.02.2024 11:27
Die Berliner Unternehmerin Julia Derndinger spricht im exklusiven DWN-Interview über den aktuellen Zustand der deutschen Gründerszene, die Frage, ob der deutsche Mittelstand wirklich Krise „kann" und warum die derzeitige wirtschaftliche Lage in Deutschland für Start-ups mehr Chance als Risiko ist.
Die deutsche Wirtschaftskrise ist eine Chance für Start-ups
Die Berliner Unternehmerin Julia Derndinger: Die deutsche Wirtschaftskrise ist eine Chance für Start-ups (Foto: Markus Braumann)
Foto: Markus Braumann

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Frau Derndinger, würden Sie in die anhaltende wirtschaftliche Unsicherheit hierzulande ein Unternehmen gründen?

Julia Derndinger: Wenn ich die richtige Idee finde, die zu mir passt: in jedem Fall.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Warum sind Start-ups gerade in Krisenzeiten wichtig für die Wirtschaft?

Derndinger: Zunächst würde ich sagen, dass Start-ups aufgrund ihrer Innovationskraft grundsätzlich wichtig für die Wirtschaft sind. Sobald Unternehmen größer werden, wird es deutlich schwieriger, innovative Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Da haben Start-ups einen klaren Vorteil. Sie können eine Idee ausprobieren und immer wieder anpassen. In der Krise, die wir jetzt haben, sind Start-ups insofern im Vorteil, als dass sie sich schnell an veränderte Bedürfnisse anpassen können oder dass gerade wegen der aktuellen Krise überhaupt ein Start-up gegründet wird. Die meisten Startups werden entweder aufgrund eines Problems des Gründers oder aufgrund einer veränderten Marktsituation gegründet. In Krisenzeiten wie der aktuellen gibt es immer einen erhöhten Innovationsbedarf aufgrund veränderter Bedürfnisse.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer Krise?

Derndinger: Ja, ich glaube, wir sind in einer Krise. Erst Corona, dann der Ukraine-Krieg, dann der Israel-Konflikt, dazu die anhaltende Inflation und ein stetiger Rechtsruck in diesem Land. Wir haben eine Krise und eine Unsicherheit, wie ich sie noch nie erlebt habe, und ich bin mir nicht ganz sicher, wie gut der Mittelstand darauf vorbereitet ist. Es gibt sicherlich Ausnahmen. Aber grundsätzlich glaube ich, dass der Mittelstand ab einer gewissen Größe und wenn auch das Management überaltert ist, Schwierigkeiten hat, auf solche Krisen adäquat zu reagieren. Viele der Gründer von vor 30 oder 50 Jahren kennen ausschließlich Aufschwung und Wachstum.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Obwohl dem deutschen Mittelstand nachgesagt wird, dass er Krisen „kann“?

Derndinger: Ich bin mir nicht sicher, ob der deutsche Mittelstand wirklich Krise kann. Für den Handel scheint das zumindest schon mal nicht zu gelten. Wobei Pauschalaussagen natürlich immer ein wenig provozieren. Ich denke, hier braucht es in den kommenden zehn Jahren einen Change Prozess. Zwar finden sich im Mittelstand viele erfolgreiche Unternehmen. Doch beim Gros der kleinen und mittleren Unternehmen ist noch immer die erste Generation der Gründer am Ruder. Sie müssen Nachfolger nachbringen, die der Rolle und diesen unsicheren Zeiten gewachsen sind. Start-ups hingegen haben es deutlich leichter, was zu gründen und aufzubauen, da geht es nur nach oben. Doch jetzt geht es um Veränderung und Besinnung, und da hinkt der Mittelstand hinterher.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das wirft die Frage nach der Krisenresistenz von Start-ups hierzulande auf. Wie schätzen Sie diese ein?

Derndinger: Wenn ich mir die deutschen Technologie-Start-ups anschaue, dann halte ich einige auch für nicht krisenfest. Sie waren es gewohnt, in guten Zeiten Geld einzusammeln, jetzt findet eine Korrektur statt, die sehr schmerzhaft ist. Wir sehen bei großen Start-ups, dass dort gerade viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen werden, weil Finanzierungsrunden nicht erfolgreich verlaufen. Und Profitabilität das neue sexy ist. Im Moment ist der Markt sehr schwierig und gerade Technologie-Start-ups reagieren darauf mit Kosteneinsparungen und Entlassungen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Woran liegt das?

Derndinger: Weil gerade Technologie-Start-ups bisher nur den Weg nach oben kannten und diese Fähigkeit, auch in Krisen gut zu wirtschaften, nicht überall vorhanden ist. Ich glaube aber, dass Krisen, wie wir sie bei unseren Start-ups erlebt haben, auch neue Chancen bieten. Wenn fünf Start-ups ihr Geschäft herunterfahren, kommt ein sechstes und sieht eine neue Lücke und freut sich über die vielen erfahrenen Mitarbeiter, die jetzt verfügbar werden. Insofern sehe ich in der aktuellen Krise auch eine Chance für Neugründungen. Ich glaube allerdings, dass die alte deutsche Tugend wieder an Wert gewinnt, nämlich nur das Geld auszugeben, das ich auch verdient habe. In der deutschen Gründerszene kehrt gerade eine gewisse Vorsicht ein und das finde ich gut.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Bedeutet das ein Schrumpfen der deutschen Gründerszene?

Derndinger: Nein, aber sie entwickelt sich auf ein gesundes Maß zurück. Ich fliege damit vielleicht nicht auf den Mond, aber ich glaube auch nicht, dass jeder Unternehmer eine KI entwickeln muss, sondern dass wir Lösungen entwickeln können, die nicht hyper-innovativ sind, uns und unser Land trotzdem aufs nächste Level bringen. Beim Thema Digitalisierung ist Deutschland eindeutig Schlusslicht in Europa, da kann ich mir noch ein paar Hundert Gründungen vorstellen ohne Raketenwissenschaft.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie haben Ihr erstes Unternehmen Anfang der 2000er Jahre gegründet, ohne Business Angels und ohne Finanzierungsrunden.

Derndinger: Mein erstes Start-up habe ich tatsächlich mit einem Bankkredit gegründet. Ich hatte einen Kredit über 250.000 Euro und habe später bei der Sparkasse Mülheim für über eine Million Euro gebürgt. Dieses Risiko bin ich eingegangen, weil ich an mein Geschäft geglaubt habe. Insofern glaube ich, dass ich für ein sehr bodenständiges, gesundes und nachhaltiges Unternehmertum stehe und vielleicht auch für alte und konservative Werte. Insofern ziehe ich den Hut vor Gründerinnen und Gründern, die teilweise schon Millionen Euro Umsatz machen, aber nur fünf Mitarbeiter haben und jeden Euro selbst reingesteckt haben - ohne Unterstützung von Business Angels und Venture Capital-Gebern.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was sind die Herausforderungen und Chancen für Start-ups, die in der Krise gründen?

Derndinger: Was die Chancen angeht, glaube ich, dass Krisen immer auch Märkte verändern. Es gibt Player, die verschwinden, und es gibt Start-ups, die erfolgreich sein werden, weil sie die veränderten Bedürfnisse bedienen. Was die Herausforderungen betrifft, so hat sich der Kapitalmarkt verändert. Business Angels und Venture Capital-Geber sind aktuell sehr zurückhaltend geworden, so dass es sehr schwierig ist, Finanzierungsrunden erfolgreich abzuschließen. Auch bei semiprofessionellen und institutionellen Investoren nimmt diese Unsicherheit derzeit zu. In der Folge scheitern gerade Anschlussfinanzierungen und Exits, weil die Konzerne oder Marktführer, die vielleicht etwas kaufen würden, ihr Geld zusammenhalten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was bedeutet das für Gründer, die jetzt ein Start-up am Markt platzieren wollen?

Derndinger: Für Gründer heißt das jetzt: Budgetschonend erste Ideen ausprobieren und Hypothesen testen, bevor ich richtig viel Geld investiere. Ich glaube, die Konsequenz muss sein, dass ich schauen muss, wie ich mit weniger Kapital eine Geschäftsidee testen kann. Denn in dem Moment, in dem ich einen Prototypen und erste Käufer habe, kann ich auch wieder Geld dafür einsammeln.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Würden Sie sagen, dass Start-ups, die in Krisenzeiten gegründet werden, nachhaltiger sind, weil sich die Gründer zweimal überlegen, welche Idee sie bedienen und wie viel Budget sie dafür investieren?

Derndinger: Man kann das sicherlich als Konsolidierung hin zu mehr Besonnenheit und Nachhaltigkeit sehen und das ist für den Moment auch gut so. Wir müssen aber aufpassen, dass daraus keine Innovationsfeindlichkeit wird und wir gar nichts Neues mehr ausprobieren. Denn gerade technologische Innovation braucht eine gewisse Risikobereitschaft und oft auch Jahre oder Jahrzehnte bis sie Geld verdienen können. Meine oben beschriebenen Wunschkriterien passen nicht für forschende und hochtechnologische Innovationen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Schlüsselfaktoren sollte ein Gründer in solchen Zeiten mitbringen, welches Skillset?

Derndinger: Zunächst einmal braucht er eine Idee und ein Problem, das er lösen will. Und dann muss er sich ein Geschäftsmodell dazu überlegen, denn nicht für jede Lösung, die jemand haben will, gibt es auch eine Zahlungsbereitschaft. Unabhängig davon, ob ich in einer Krise gründe oder nicht, brauchen Gründer grundsätzlich Anpassungsfähigkeit. Im Idealfall brauche ich Leute, die etwas besser können als ich, die besser programmieren können, die besser vermarkten können, die besser verkaufen können. Meine Aufgabe als Gründer und CEO ist es, dieses Team auf den Platz zu bringen - Krise hin oder her.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Anlaufstellen und Vernetzungsmöglichkeiten gibt es für Gründerinnen und Gründer?

Derndinger: Die erste Anlaufstelle für echte Startup-Gründer ist der Bundesverband Deutsche Startups, der vor etwa 10 Jahren gegründet wurde. Das ist eine gute Anlaufstelle, die auch die Interessen der Gründerszene gegenüber der Politik vertritt. Dann gibt es regionale Startup-Verbände, aber auch Gründerzentren an den Universitäten und Fachhochschulen. Darüber hinaus hat Mentoring in den letzten Jahren deutlich an Popularität gewonnen. Grundsätzlich ist Mentoring niederschwelliger geworden, was ich gut finde.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche wichtigen Lehren sollten Gründer aus der aktuellen wirtschaftlichen Situation ziehen, um auf künftige Krisen besser reagieren zu können?

Derndinger: Mittelständler haben den Vorteil, dass sie in Krisenzeiten auf ein dickeres Polster und mehr Erfahrung zurückgreifen können. Start-up-Gründer haben das nicht. Sie müssen schneller auf veränderte Marktbedingungen reagieren und agiler sein, und das stresst.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Zum Abschluss ein Blick in die Glaskugel: In welcher Branche würden Sie sich mehr innovative Start-ups wünschen und warum?

Derndinger: Wo wir in Deutschland dringend Innovationen brauchen, ist in der Bildung. Unser Bildungssystem ist veraltet und wird durch unser föderales Bildungssystem schwer als Ganzes zu reformieren, da sind wir nicht mutig genug und uns sind häufig die Hände gebunden. Ich glaube, dass gut ausgebildete Menschen bessere Entscheidungen treffen. Ich glaube, wir brauchen nach wie vor Bildung für alle und nicht Bildung für eine Elite. Und ich bin auch ganz optimistisch, dass wir in dieser Richtung noch spannende Innovationen erleben werden.

Zur Person: Mit über 20 Jahren Erfahrung als Unternehmerin und über 10 Jahren Erfahrung als Sparringspartnerin für Unternehmen gilt Julia Derndinger als eine der renommiertesten Sparringspartnerinnen für Start-ups in Deutschland. 2008 baute sie für die Entrepreneurs Organization (EO) das EO Accelerator Program auf, dass bis heute Gründerinnen und Gründer bei der Skalierung ihrer Unternehmen betreut. Im April 2023 gründete sie schließlich ihren eigenen Accelerator: TeamJulia. Gemeinsam mit namenhaften Experten hilft sie Gründern und Startups auf dem Weg zur nachhaltigen Skalierung und Unternehmertum.

 



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