Wirtschaft

Japans selbstverschuldeter Niedergang

Trotz seiner gut ausgebildeten und disziplinierten Erwerbsbevölkerung sowie seiner hohen Investitionen in Forschung und Entwicklung setzt sich Japans relativer Niedergang fort. Was sind die Gründe dafür, welche Lehren kann Deutschland daraus ziehen? 
Autor
avtor
21.03.2024 13:12
Lesezeit: 3 min
Japans selbstverschuldeter Niedergang
Die führenden japanischen Unternehmen waren stolz auf ihre technische Leistungsfähigkeit, die jedoch jetzt an Wert verlieren (Foto: dpa). Foto: Kimimasa Mayama

Es sollte Japan eigentlich gut gehen. Es hat eine gut ausgebildete und disziplinierte Erwerbsbevölkerung und übertrifft die meisten anderen Industrieländer in Bezug auf seine Investitionen und Forschungs- und Entwicklungsausgaben. Tatsächlich waren die japanischen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung mit 3,3 % vom BIP bis vor kurzem sogar höher als die der USA. Und doch setzt sich Japans relativer Niedergang weiter fort.

In den 1980er und 1990er Jahren war Japan, nicht zuletzt aufgrund seines scheinbar unbezwingbaren industriellen Sektors, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Inzwischen ist es nur noch die viertgrößte: Die Daten zeigen, dass es vor kurzem hinter Deutschland zurückgefallen ist – ein Land mit viel kleinerer Bevölkerung (83 Millionen, im Vergleich zu 123 Millionen), das ähnlich ungünstigen demografischen Trends unterliegt wie denen, die in Japan zu beobachten sind.

Videorekorder - einst Japans Wunderwerke

Wer Japans wirtschaftlichen Niedergang verstehen will, sollte die Geschichte des Videorecorders (VCR) betrachten. Diese technologischen Wunderwerke, die sehr kleine und zuverlässige mechanische Komponenten erfordern, waren einst der Stolz der japanischen Präzisionsfertigung. Japan hatte ein annäherndes Monopol auf dem globalen VCR-Markt, denn amerikanische Hersteller gab es nicht, und die europäischen Firmen konnten mit Japan beim Preis-Leistungs-Verhältnis nicht mithalten. In ihrer großen Zeit Mitte der 1980er Jahre wurden viele Millionen dieser Geräte produziert und exportiert. Die japanischen Exporteure forderten dafür relativ hohe Preise und erzielten eine gute Gewinnmarge.

Doch konnte die analoge VCR-Technologie nicht mit den digitalen Ersatzprodukten konkurrieren, die in den 1990er auf den Markt kamen und Anfang der 2000er Jahre allgegenwärtig wurden. Die VCR-Produktion ging zurück, was die Unternehmen zwang, ihre Preise und Gewinnmargen zu senken, bis sie eins nach dem anderen das Produkt ganz aufgaben. Heute produziert kein einziges Unternehmen in Japan mehr VCRs. Bei vielen anderen Unterhaltungselektronikprodukten – wie Kassettenrecordern und dem Walkman – verlief die Entwicklung ähnlich.

Unterhaltungselektronik war Eckstein des Exports

Die Unterhaltungselektronik war ein Eckstein der japanischen Exportindustrie. Doch für die neue digitale Solid-State-Unterhaltungselektronik war die Präzisionstechnik, bei der Japan herausragte, nicht erforderlich. Daher war es billiger, ihre Komponenten anderswo in Asien zu produzieren, die Produkte in China zu montieren und sich die Software aus den USA zu holen. Die Nachfrage nach japanischen Exporten und die Preise dafür fielen derweil immer weiter.

Die Ökonomen neigen dazu, die Exportpreise eines Landes nicht isoliert, sondern im Verhältnis zu seinen Importpreisen zu betrachten (die sogenannten Terms-of-Trade). Japan ist insofern eine Ausnahmeerscheinung unter den entwickelten Volkswirtschaften, als seine Terms-of-Trade – die Mitte der 1980er Jahre bei 160 % lagen – in den späten 1990er Jahren zurückgingen und in den frühen 2000er Jahren komplett einbrachen. 2008 war das Verhältnis auf 100 % gesunken. Die Terms-of-Trade in der Europäischen Union und den USA blieben während dieses gesamten Zeitraums annähernd konstant (bei etwa 100 %); sie lagen fast immer innerhalb eines engen Korridors von plus/minus zehn Prozentpunkten.

Faktoren wie die Verschlechterung der Terms-of-Trade Japans haben beim relativen wirtschaftlichen Niedergang des Landes eine viel größere Rolle gespielt als die ungünstige demografische Entwicklung. Zwar altert und schrumpft die japanische Bevölkerung. Doch die US-Bevölkerung ist seit 1995 nur um etwa ein Viertel mehr gewachsen als die Japans, und doch hat sich das BIP der USA um über 300 % mehr erhöht.

Zwar hat sich der japanische Lebensstandard weiter verbessert, aber nur langsam, und den japanischen Verbrauchern geht es insgesamt weniger gut als denen in anderen entwickelten Volkswirtschaften. Man betrachte das BIP pro Kopf: Gegenüber Europa, dessen Entwicklung eng der der USA folgte, ist Japan bereinigt um die Lebenshaltungskosten etwas zurückgefallen.

Was für Lehren der Fall Japans aufzeigt

Die große Frage ist: Warum haben die japanischen Hersteller Produkte wie Videorecorder nicht eher aufgegeben oder versucht, eine Führungsrolle bei den modernen Technologien zu übernehmen, die diese Produkte ersetzten, und warum wurden sie von ihrer Regierung nicht dazu gedrängt? Teils ist das zweifellos auf die Pfadabhängigkeit zurückzuführen: Wenn Unternehmen in einem bestimmten Bereich Knowhow erworben haben, finden sie es häufig profitabler, ihre Fertigkeiten in diesem Bereich zu verbessern, als auf einen neuen Bereich umzustellen.

Wahrscheinlich spielten aber auch psychologische Faktoren eine Rolle. Die führenden japanischen Unternehmen – und die japanische Gesellschaft insgesamt – waren stolz auf ihre technische Leistungsfähigkeit; daher fanden sie es schwierig, zu akzeptieren, dass diese bewundernswerten Fähigkeiten an Wert verloren. Dasselbe galt für die Mitarbeiter der staatlichen Verwaltung, darunter jene im Ministerium für internationalen Handel und Industrie, einer Einrichtung, die sich einen nahezu mythischen Ruf für ihre Steuerung des japanischen Wachstums erworben hatte. Die japanischen Politiker und Produzenten entschieden sich faktisch lieber für den wirtschaftlichen Niedergang, als zuzugeben, dass ihre zentrale technische Kompetenz wertlos geworden war.

Das bringt uns zur ersten wichtigen Lehre aus Japans Erfahrung: Eine Volkswirtschaft muss bereit sein, sich an neue Ideen, Technologien und Umstände anzupassen, egal wie erfolgreich sie in der Vergangenheit war. Eine zweite zentrale Lehre ist, dass ein relativer Niedergang, selbst wenn er gut gesteuert wird, zu einem Verlust an weltweitem Einfluss führt.

Europa mit seiner alternden Bevölkerung und seinen Schwächen im Bereich der neuen Technologien sollte diesbezüglich aufmerken. Die EU bemüht sich seit fast 20 Jahren, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf drei % vom BIP zu erhöhen und Investitionen zu fördern. Doch wird es Europas Wachstumsproblem womöglich nicht lösen, bei diesen beiden Messgrößen japanisches Niveau zu erreichen, wenn die Ressourcen in Branchen fließen, die ihren Zenit überschritten haben.

Copyright: Project Syndicate, 2024

www.project-syndicate.org

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Daniel Gros ist Direktor des europapolitischen Instituts der Università Commerciale Luigi Bocconi.

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