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Markus Merk im Interview: Eine Entscheidung ist nur so gut, wie das Umfeld sie wahrnimmt

Lesezeit: 11 min
13.04.2024 11:23
Jede Entscheidung hat einen Ort, eine Zeit und eine Bestimmung, sagt Markus Merk. Nicht nur auf dem Fußballfeld. Ein Gespräch über Entscheidungssicherheit unter Druck und warum die Kommunikation von Entscheidungen in der Politik so wichtig ist wie die Kurskorrektur auf einer Nordpol-Expedition.
Markus Merk im Interview: Eine Entscheidung ist nur so gut, wie das Umfeld sie wahrnimmt
Ex-FIFA-Schiedsrichter Dr. Markus Merk ist mit seiner Vortragsreihe "Sicher entscheiden unter Druck" in Deutschland unterwegs (Foto: privat).

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten (DWN): Herr Merk, wann haben Sie das letzte Mal eine Entscheidung bereut – oder sind Sie entscheidungssicher?

Markus Merk: Wenn ich zu Beginn unseres Gesprächs sagen würde, ich wäre nicht entscheidungssicher, wäre das keine gute Idee. Ich sehe Entscheidungen immer im Gesamtkontext, da geht es nicht um Reue – egal in welcher Entscheidungswelt. Auf der einen Seite haben wir faktische Entscheidungen zwischen Schwarz und Weiß. Bei solchen Tatsachenentscheidungen gibt es keine Zweifel. Die muss ich so treffen, sonst sind es Fehlentscheidungen. Ein einfaches Beispiel aus dem Fußball: Ein Spieler hat schon die gelbe Karte gesehen und schießt ein sensationelles Tor. Das ganze Stadion jubelt und tobt und ich freue mich auch. Dann rennt der Spieler in seine Fankurve und zieht vor lauter Freude sein Trikot aus. Dafür muss ich ihm regelkonform Gelb-Rot zeigen, ob mir das gefällt oder nicht. Es wäre eine Fehlentscheidung, ihm nicht Gelb-Rot zu geben, eben weil es eine Tatsachenentscheidung ist.

Aber bei der Masse der Entscheidungen, die wir treffen, sei es im Fußball, in der Wirtschaft oder in der Politik, gibt es nie einen hundertprozentigen Konsens, weil es sich meistens um Grauzonenentscheidungen handelt. Entscheidungen sind also in vielen Bereichen Auslegungssache. Das heißt, die beste Entscheidung ist dann diejenige, mit der ich den größten Konsens und die größte Zustimmung in meinem Umfeld bekomme.

DWN: Wie gehen Sie mit Fehlentscheidungen um und wie verarbeiten Sie diese?

Merk: Ich habe natürlich genügend Situationen erlebt, in denen ich Entscheidungen getroffen habe, wo ich mich im Nachhinein anders entschieden hätte. Ist eine Elfmeterentscheidung beim Blick auf die Kamerabilder klar falsch, muss ich dies nach dem Spiel öffentlich zugeben, dies ist eine Stärke und keine Schwäche, auch wenn es das Umfeld differenziert sieht. Häufiger sind Entscheidungen aber vertretbar und dennoch habe ich mir gesagt, dass ich den Pfiff besser unterlassen hätte und die Entscheidung zu pfeifen unter den gegebenen Umständen vielleicht nicht meine beste war. Das heißt: Trotz meiner grundsätzlichen Entscheidungssicherheit und meinem Fachwissen kommt es immer wieder vor, dass ich Entscheidungen treffe, die ich später anders entscheiden würde. Ich sehe Entscheiden als einen permanenten Prozess und Fehlentscheidungen habe ich immer als Chance gesehen, meine Urteilsfähigkeit zu schärfen und bei allem persönlichen Ärger als Lernprozess genutzt.

DWN: Aber auch im Nachhinein lassen sich getroffene Entscheidungen korrigieren, oder?

Merk: Ja, die Korrektur von Entscheidungen halte ich für sehr wichtig. Im Laufe meiner Karriere habe ich gelernt, dass es nicht nur wichtig ist, Entscheidungstheorien zu verstehen, sondern auch, sie im Kontext menschlicher Erfahrungen anzuwenden. Oft stellen wir fest, dass ein eingeschlagener Weg nicht der beste war und sind dann gefordert, Entscheidungen anzupassen oder sogar komplett zu revidieren. Das gilt für alle Lebensbereiche, doch oft fehlt uns die Bereitschaft dazu.

DWN: Warum ist das so?

Merk: Einen Fehler einzugestehen oder eine Entscheidung zu korrigieren, kann unangenehm sein, vor allem, weil man anderen, wie etwa Geschäftskunden oder sich selbst, eingestehen muss, dass der ursprüngliche Plan nicht optimal war. Unsere Gesellschaft reagiert oft schnell mit Kritik, wenn sie sieht, dass jemand einen Fehler gemacht hat. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die Fähigkeit, Entscheidungen zu überdenken und zu ändern, unerlässlich ist, um unsere Ziele nicht aus den Augen zu verlieren.

Gerade bei wirtschaftlichen oder politischen Entscheidungen wird derzeit offensichtlich, dass eine regelmäßige Überprüfung der Zielorientierung notwendig wäre. Denn letzten Endes geht es darum, zu erkennen, ob eine Entscheidung noch den ursprünglichen Zielen dient oder ob sie lediglich aus subjektiven Gründen aufrechterhalten wird. Dieser Prozess der kritischen Selbstreflexion, den ich oft in meinen Vorträgen thematisiere, ist unverzichtbar für persönliches und berufliches Wachstum.

DWN: Gibt es eine prägnante Entscheidung, die Sie im Nachhinein korrigieren mussten?

Merk: Im Frühjahr 2009 habe ich mit vier anderen eine Expedition zum Nordpol gemacht. Schon nach wenigen Tagen hatten wir extremes Wetter mit Sturm und erlebten eine sogenannte negative Drift. Stellen Sie sich die Eisplatte der Arktis in Bewegung vor. Diese Drift wirkt wie ein Laufband, das in die entgegengesetzte Richtung läuft. Jeden Tag wurden wir vom Nordpol weggeschoben, nicht ein einziges Mal schafften wir es, einen positiven Gewinn an Distanz zu machen. Zwei unserer Teammitglieder waren absolut am Ende und mussten ausgeflogen werden. Die Entscheidungsvorbereitung für unsere Expedition dauerte Monate, jeder Schritt war im Voraus geplant und automatisiert, um den Bedingungen am Nordpol standhalten zu können. Und dennoch standen wir in der Realität vor dem Problem, dass wir durch die Drift nur noch eine minimale Chance hatten, den Nordpol zu erreichen.

In dieser Extremsituation waren wir gezwungen, alle unsere Pläne zu überdenken und sie zielorientiert zu revidieren. Also passten wir den gesamten „Matchplan“, unser Zeitfenster und unsere Nahrungsverteilung den sich veränderten und unerwarteten Umständen an und änderten unsere Route, um unsere Effizienz zu steigern. Letztendlich waren wir das einzige Team von zehn gestarteten, das es tatsächlich schaffte, den Nordpol zu erreichen.

DWN: Lässt sich dieses Vorgehen auch auf andere Lebensbereiche übertragen?

Merk: Natürlich, beispielsweise auf die Politik. Mein pfälzischer Landsmann Helmut Kohl, bekannt für seine Strategie des Aussitzens, hat gezeigt, dass es manchmal klug sein kann, eine Situation auszusitzen und auf mehr Informationen zu warten, bevor man eine Entscheidung trifft. Dies hat zu seiner Zeit durchaus funktioniert. Dennoch ist meine Kernbotschaft klar: Die Fähigkeit, Informationen zu sammeln und Entscheidungen zielorientiert zu revidieren und flexibel zu bleiben, ist in unserer schnelllebigen Zeit mitentscheidend für den Erfolg auf dem Weg zu unseren mittel- und langfristigen Zielen.

DWN: Also müssen wir im Alltag oft schnelle Entscheidungen treffen.

Merk: Absolut, ich bin ein Fan der schnellen Entscheidung und vor allem einer schnelleren und konsequenten Informationsbeschaffung. Zum Beispiel auf dem Spielfeld, wo ich als Schiedsrichter in Sekundenbruchteilen entscheiden musste und oft gefragt wurde: „Mensch, wie hast du das gemacht?“ Das ist natürlich auch ein Lern- und Erfahrungsprozess. Und Erfahrung ist der beste Ratgeber, um verschiedene Informationen in Sekundenbruchteilen zu subsumieren und in eine Entscheidung zu übersetzen.

Das bringt mich zu einem weiteren wichtigen Punkt, den ich immer wieder beobachte: Treffen wir eilige Entscheidungen, ohne uns die Zeit nehmen, die gesammelten Informationen gründlich zu durchdenken, neigen diese Entscheidungen dazu, weniger präzise zu sein. Im Ergebnis werden solche Entscheidungen natürlich viel stärker angezweifelt, besonders wenn sie öffentlich diskutiert werden.

Genauso trifft dies aber auch auf den Umstand zu, wenn ich Entscheidungen hinauszögere, wenn weitere Gremien und Arbeitskreise gebildet werden, die im Ansatz nur eine „Spielverzögerung der Entscheidungsverantwortung“ darstellen. In der Unternehmensführung beobachte ich dieses Phänomen regelmäßig, wo alle auf klare Entscheidungen der Führungsebene warten. Je weiter die Entscheidung hinausgezögert wird, um so mehr wachsen Zweifel an der Akzeptanz. Eine schnellere Entscheidung ist stets überraschender und überzeugender. Hier zeigt sich der Wert einer zügigen Entscheidungsfindung. Dieser Grundsatz lässt sich übrigens auf viele Lebensbereiche übertragen.

DWN: Und wie können wir sicher und dennoch schnell entscheiden?

Merk: Schnell zu entscheiden bedeutet nicht, übereilt zu handeln, sondern vielmehr, mit Überzeugung und der nötigen Sicherheit vorzugehen. Also Informationen bewusst aufzunehmen, aber auch zu erkennen, wann genug Informationen vorliegen, um eine fundierte Entscheidung zu treffen. Das ist die Kunst und der Wert einer schnellen Entscheidung. Schnell bedeutet für mich, das Entscheidungsumfeld mit Überzeugung zu navigieren. Entscheidungssicher zu sein bedeutet, entschlossen zu handeln und Informationen gezielt zu nutzen. Wichtig dabei ist es zu erkennen, wann der Punkt erreicht ist, an dem genug Informationen vorliegen, um eine Entscheidung treffen zu können, ohne den Prozess unnötig in die Länge zu ziehen. Diese Balance zwischen Informationsaufnahme und entschlossenem Handeln erlebe ich regelmäßig im Unternehmenskontext.

DWN: Gibt es überhaupt den richtigen Zeitpunkt für die richtige Entscheidung?

Merk: Der ideale Zeitpunkt ist immer situationsbedingt. Als Schiedsrichter habe ich einen Sekundenbruchteil Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. In der Politik und der Wirtschaft ist das anders. Da kann der ideale Zeitpunkt das Ende des Sitzungstages sein, das Ende des Quartals oder das Ende des Jahres. Doch permanente Verschleppungen von Entscheidungen, durch immer neue Arbeitskreise und Expertisen, verschlimmern eine Entscheidung in den meisten Fällen nur. Gerade in der Politik werden Entscheidungsprozesse gerne unnötig in die Länge gezogen.

Nehmen wir Genehmigungsverfahren: Manchmal sind sie so langwierig, dass die ursprünglichen Gründe für eine Maßnahme längst überholt sind. Ähnlich verhält es sich mit Infrastrukturprojekten, wie der Umgehungsstraße, über die in meiner Heimatstadt seit 20 Jahren diskutiert wird. Währenddessen wird um verschiedene Varianten gerungen, ohne dass eine Entscheidung getroffen wird. Diese Beispiele verdeutlichen, dass effiziente Entscheidungsfindung und angemessene Reaktionszeiten entscheidend sind, um mit der dynamischen Welt Schritt zu halten.

DWN: Was bedeuten überholte Ansätzen für unsere Entscheidungen, und wie unterscheiden Sie zwischen “sicher entscheiden” und “richtig entscheiden”?

Merk: Manchmal müssen wir unsere Ansätze ändern, da sie nicht mehr zeitgemäß sind. Was einst aktuell war, ist heute überholt, und das führt in einem langwierigen Prozess dazu, dass Entscheidungen verzögert werden. Diese Verzögerungen in der Politik können dazu führen, dass die wahrgenommene Transparenz leidet, selbst wenn diese eigentlich gegeben ist. Die Öffentlichkeit empfindet dies jedoch anders und beginnt zu zweifeln.

Hier kommt der Unterschied zwischen „sicher entscheiden“ und „richtig entscheiden“ ins Spiel, den ich besonders hervorheben möchte. „Richtig entscheiden“ setzt klare, schwarz-weiße Situationen voraus, aber im Entscheidungsprozess, der sich oft in Grauzonen abspielt, ist es wichtiger, sicher zu entscheiden. Eine sichere Entscheidung zeichnet sich durch eine hohe Akzeptanz aus. Ich fühle mich als Mensch glücklich und akzeptiert, auch wenn man als öffentliche Person, wie ich es als Schiedsrichter war, unter ständiger Beobachtung steht. Montags in der Zeitung zu stehen, kann positiv oder negativ sein.

Ich hatte das Glück, oft die richtige Entscheidung zu treffen, was in meinem Umfeld Anerkennung fand. Aber die Zeiten ändern sich. Als ich 1988 in die Bundesliga kam, gab es zwar Fernsehübertragungen, aber die Berichterstattung beschränkte sich auf die ARD-Sportschau und ein paar Spiele am späten Abend. Das ist heute eine ganz andere Medienlandschaft, die auch die Anforderungen an Entscheidungen und deren Wahrnehmung verändert.

DWN: Wie hat sich die Rolle der Medien in Ihrer Karriere als Schiedsrichter verändert und wie wichtig ist die Kommunikation von Entscheidungen im Laufe der Zeit geworden?

Merk: Es ist kaum vorstellbar, dass es eine Zeit gab, in der Fußballspiele nicht ständig live übertragen wurden. Erst Ende der 1980er Jahre begannen die regelmäßigen Live-Übertragungen, und bis dahin war die Stadionatmosphäre etwas, das man entweder live miterlebte oder durch die lebhaften Beschreibungen der Radiokommentatoren nachempfinden konnte. Diese standen vor der gleichen Herausforderung wie die Schiedsrichter: Sie mussten eine Spielsituation sehen, interpretieren und einem Millionenpublikum vermitteln.

Ich erinnere mich an ein besonders prägendes Spiel im Jahr 1989, das ohne Fernsehübertragung meine Karriere in ein anderes Licht gerückt hätte. Nach einem heiklen Spiel Frankfurt gegen Bayern musste ich unter Polizeischutz das Stadion verlassen, so heftig war die Kritik aller, die live berichteten. Die Radiokommentare waren vernichtend und das Spiel wurde, weil es das Topspiel war, als letztes in der ARD-Sportschau gezeigt. Dort bestätigten die Bilder meine Entscheidungen, was in den folgenden Tagen zu einem völligen Umschwung in der öffentlichen Meinung führte. Plötzlich wurde ich in alle wichtigen Sportsendungen eingeladen und wie ein Sieger gefeiert.

Diese Erfahrung und die Veränderung der Medienlandschaft seit meinem Einstieg in die Bundesliga 1988 haben mich viel über die Wichtigkeit der Kommunikation und Präsentation von Entscheidungen gelehrt. Eine Entscheidung ist nur so gut, wie das Umfeld sie wahrnimmt. Die Akzeptanz und das Verständnis des Umfelds für meine Entscheidungen, auch wenn sie gegen persönliche Präferenzen gingen, wurden immer wichtiger. Das hat mich gelehrt, dass immer der Mensch im Mittelpunkt stehen muss und die Fähigkeit, Entscheidungen verständlich zu kommunizieren. Bis zu meinem letzten Spiel vor Erreichen der Altersgrenze war dies eine Leitmaxime meiner Schiedsrichterlaufbahn. Erklärt oder äußert man sich gar nicht zu seinen Entscheidungen, entstehen um einen herum große Fragezeichen.

DWN: Wie wichtig ist es, Entscheidungen transparent zu kommunizieren?

Merk: Ich weiß, dass es Situationen gibt, in denen man aufpassen muss, nicht missverstanden zu werden, gerade als Politiker oder Unternehmer. Andererseits weiß ich, nachdem ich zwei Jahre lang an der Sanierung eines berühmten Pfälzer Fußballclubs mitgewirkt habe, wie wichtig Transparenz ist und dass man Entscheidungen erklären muss.

Darüber hinaus habe ich es immer als Pflicht angesehen, transparent zu sein und unsere Entscheidungen zu kommunizieren, soweit es mir die gesetzlichen Regeln und Vorgaben und die vertraglichen Absprachen mit Unternehmens- und Geschäftspartnern erlauben. Als Bürger dieses Landes erwarte ich, dass, wenn abends im Fernsehen eine politische Entscheidung verkündet wird, jemand da ist, der erklärt, warum diese Entscheidung getroffen wurde. Auch wenn ich weiß, dass Diskussionen entstehen, Kritik aufflammt und auch wieder nach Schuldigen und Angriffsflächen gesucht wird. Aber das gehört dazu, damit muss man leben. Für mich bedeutet Transparenz und gelebte Kommunikation, dass jemand zu seiner Entscheidung steht und sie mir nachvollziehbar macht. Selbst wenn mir die Entscheidung nicht gefällt, kann ich sie akzeptieren, wenn sie mir erklärt wird. Das war für mich ein wichtiger Lernprozess.

Man spürt, ob jemand hinter seiner Entscheidung steht. Es gibt Leute, die gut schauspielern können, aber meistens erkenne ich Authentizität und Aufrichtigkeit. Auch wenn eine Entscheidung gegen meine eigenen Vorstellungen geht, kann ich sie mittragen, wenn sie mir transparent erklärt wird. Als Schiedsrichter musste, ja durfte ich lernen, mit Kritik umzugehen, denn auch bei den klarsten Entscheidungen gibt es immer eine Opposition. Aber es geht nicht nur um einzelne Entscheidungen, Politiker und Manager sind Teil eines kontinuierlichen Prozesses. Ich vertraue eher denen, die transparent erklären, warum sie so entschieden haben, auch wenn ich anderer Meinung bin. Kommunikation ist immer der Schlüssel. Es ist besser, Menschen durch Kommunikation zu gewinnen, als sie durch Konfrontation zu verlieren.

DWN: Schiedsrichter holen sich bei schwierigen Entscheidungen Rat bei ihren Assistenten ein. Wie wichtig ist es, sich bei Entscheidungen konstruktiv beraten zu lassen?

Merk: Sehr wichtig, Assistenten, besser mein Team, sind ein Erfolgsgarant. Außer natürlich, wenn ich als Schiedsrichter auf dem Platz eine alleinverantwortliche faktische Entscheidung treffe. Dann kann ich Ihnen drei, vier Segmente innerhalb der Sekunde nennen, warum ich in dieser Spielsituation so entschieden habe. Brauche ich weitere Informationen, hole ich mir diese bei meinen Assistenten. In der Wirtschaft und der Politik muss ich hingegen nicht im Bruchteil einer Sekunde entscheiden. Da habe ich bei Entscheidungsprozessen immer die Möglichkeit, mir Expertise und Rat und Informationen einzuholen, um den Entscheidungsprozess zu beschleunigen. Aber genau das geht mir insgesamt in der Politik zu langsam, ich glaube das geht uns allen so.

DWN: Welche Rolle spielt persönliche Führung bei Entscheidungen?

Merk: Persönliche Führung ist in einem Entscheidungsprozess absolut zentral, da sie wesentlich dazu beiträgt, potenzielle Konflikte zu vermeiden. Meine Erfahrung als Schiedsrichter hat mir gezeigt, dass es zwar wichtig ist, Spannungen lösen zu können, dass es aber viel effektiver ist, gar nicht erst in solche Konfliktsituationen zu geraten. Ein anschauliches Beispiel dafür ist das Spielermanagement auf dem Platz, um die Unterstützung beider Mannschaften zu gewinnen. Selbst wenn meine Entscheidungen richtig sind, wenn Spieler wie Figo, Beckham oder Zidane ständig bei mir reklamieren, wird die Akzeptanz meiner Entscheidung untergraben – und das vor 70.000 Zuschauern. Ein ähnliches Muster beobachte ich auch in der Politik, wo Entscheidungen immer öfter öffentlichkeitswirksam infrage gestellt werden.

Im Fußball, in der Wirtschaft oder in der Politik – es gibt überall Menschen, die eine eigene Agenda verfolgen, diese Menschen muss ich identifizieren. Gelingt mir das, bin ich einen großen Schritt weiter, um eventuelle Spannungsfelder zu verhindern. Auf dem Spielfeld war das für mich stets ein entscheidender Teil bei der persönlichen Führung eines Spiels. Und auch da ist wieder Kommunikation gefragt.

DWN: 1991 begannen Sie mit der zahnärztlichen Betreuung von 35 Kinderheimen mit 2.500 Kindern in Südindien, aus der später die Indienhilfe Kaiserslautern e. V. hervorging. Wie kam es dazu?

Merk: Nach meinem Staatsexamen musste ich eine zweijährige Assistenzzeit absolvieren, um die Kassenzulassung als Zahnarzt zu erhalten. Schon viel früher entstand in mir der Wunsch, nicht nur in meinem gewohnten Umfeld zu arbeiten, sondern mich als Zahnarzt ehrenamtlich in einem Entwicklungsland zu engagieren. Die Gelegenheit ergab sich, als ich eine Anzeige in unserer Fachzeitschrift sah. Dort wurden Freiwillige für Indien gesucht. Trotz der Planung meiner eigenen Praxis und der Notwendigkeit, meine Assistenzzeit zu beenden, entschied ich mich, nach Indien zu gehen. Ich habe diese Entscheidung nicht aus einer Laune heraus getroffen, sondern weil ich tief in mir wusste, dass ich das schon immer machen wollte.

DWN: Inwiefern haben Ihre Zeit in Indien und Ihre Rolle als Schiedsrichter Ihre Sicht auf die Bedeutung von Entscheidungen beeinflusst?

Merk: Meine Zeit in Indien und meine Erfahrungen als Schiedsrichter haben mich vor allem eines gelehrt: Entscheidungen haben immer einen Ort, eine Zeit und eine Bestimmung. Wenn du diese drei Dinge nicht vergisst, dann kannst du donnerstags schwere Entscheidungen in Indien treffen, wo es oftmals um alles oder nichts geht, und samstags souverän im Fußballstadion pfeifen.

DWN: Herr Merk, vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person

Dr. Markus Merk, geboren am 15. März 1962 in Kaiserslautern, gilt als einer der renommiertesten Schiedsrichter im internationalen Fußball. Seine Karriere als Bundesliga-Schiedsrichter begann er 1988 als damals jüngster Unparteiischer der Liga. Merk leitete entscheidende Spiele auf internationaler Ebene, darunter das Champions-League-Finale 2003 zwischen Juventus Turin und dem AC Mailand in Old Trafford, Manchester, England, sowie das Endspiel der Fußball-Europameisterschaft 2004 in Griechenland.

Für seine herausragenden Leistungen und Verdienste um den Weltfußball wurde er in den Jahren 2004, 2005 und 2007 zum Weltschiedsrichter des Jahres gewählt. Markus Merk beendete seine Schiedsrichterkarriere in der Saison 2007/08, sein letztes Spiel in der Bundesliga leitete er am 34. Spieltag beim 4:1 des FC Bayern München gegen Hertha BSC. Sein offizielles Abschiedsspiel war das Abschiedsspiel von Oliver Kahn am 2. September 2008, bei dem Bayern München gegen die DFB-Auswahl 1:1 spielte.

Darüber hinaus engagiert sich der studierte Zahnarzt seit vielen Jahren für soziale Projekte. So gründete er 1996 die Indienhilfe Kaiserslautern e.V., errichtete fünf Schulen, elf Kinderheime und ein Altenheim in Südindien und zusammen mit seiner Frau Sabine 2021 die „Dr. Markus und Sabine Merk-Stiftung“, die mit ihrem Motto „BeMERKenswert bewegend“ Bewegungsprojekte für Kinder und Jugendliche initiiert und das ehrenamtliche Engagement junger Menschen würdigt. Derzeit ist Markus Merk mit seiner Vortragsreihe „Sicher entscheiden unter Druck“ in Deutschland unterwegs.

 


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