Politik

Kampf am Himmel: Ukrainische Verteidiger unter Druck

Lesezeit: 3 min
18.04.2024 17:58  Aktualisiert: 18.04.2024 18:37
Die militärische Lage der Ukraine verschlechtert sich weiter. Es fehlen Mittel, Soldaten und Luftabwehrsysteme, um sich gegen neue russische Taktiken zu verteidigen.

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Knappe Ressourcen bei der Abwehr russischer Luftangriffe entwickeln sich für die Ukraine zur Achillesferse bei der weiteren Verteidigung des Landes. Mit sogenannten Gleitbomben - modifizierten Sprengkörpern, die von Flugzeugen abgeworfen auf weite Strecken ihr Ziel finden können - bahnt die russische Luftwaffe den Truppen am Boden den Weg. Die Regierung in Kiew ruft bei westlichen Verbündeten um Hilfe. Deutschland, das mit Frankreich seit Februar eine sogenannte Fähigkeitskoalition für Luftverteidigung anführt, wird ein drittes Flugabwehrsystem vom Typ Patriot schicken und wirbt bei Verbündeten mit einer Initiative um mehr Unterstützung. Für Freitag hat Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf Bitte der Regierung in Kiew eine Sitzung des Nato-Ukraine-Rats einberufen.

Die deutsche Initiative ist darauf ausgerichtet, andere Staaten zu motivieren, kurzfristig weitere Luftverteidigungssysteme zu liefern. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Berlin sagte dazu, die ukrainischen Partner meldeten eine veränderte Bedrohungslage. „Russland nutzt zunehmend industriell produzierte Gleitbomben, die aus großem Abstand von der ukrainischen Grenze abgeschossen werden können. Und dementsprechend verlagert sich auch das Abwehrgeschehen“, sagte er.

Russland hat veraltete und noch in großer Zahl vorhandene Bomben, die zuvor im freien Fall eingesetzt worden wären, zur Distanzwaffe umgerüstet. Die russischen Flugzeuge entziehen sich so im Einsatz den weniger weitreichenden Luftverteidigungssystemen. Einmal ausgeklinkt, sind ihre Gleitbomben, die keinen Hitze abstrahlenden Antrieb haben, für Infrarotsuchköpfe von Lenkflugkörpern wohl nicht erkennbar, sehr wohl aber noch von Radargeräten. Hier werden allerdings die knappen Kapazitäten der Ukrainer zum Problem.

Die ukrainischen Streitkräfte sind an der Front unter Druck

Nach der Aufgabe der Industriestadt Awdijiwka im Donezker Gebiet Mitte Februar hatte die ukrainische Militärführung die Einrichtung einer neuen Verteidigungslinie weiter westlich angekündigt. Entlang der Dörfer Berdytschi, Semeniwka, Orliwka und Tonenke sollte der russische Vormarsch etwa sechs bis acht Kilometer von Awdijiwka entfernt aufgehalten werden. Mitte April ist davon keine Rede mehr. Beinahe täglich verzeichnen ukrainische Militärbeobachter kleinere russische Geländegewinne nicht nur westlich von Awdijiwka.

An mehreren Frontabschnitten im Donezker Gebiet rücken russische Truppen vor. Die Gebietsgewinne werden von russischen Militärbeobachtern mit mehr als 200 Quadratkilometern seit Ende Februar angegeben. Neben dem Abschnitt westlich von Awdijiwka gilt dabei der Kampf um die Kleinstadt Tschassiw Jar westlich vom 2023 durch Russland eroberten Bachmut als neuer Schwerpunkt der Kämpfe. Erste russische Einheiten sollen sich bereits zum Rand des östlichsten Stadtteils vorgekämpft haben.

Innerhalb der kommenden Wochen wird daher erwartet, dass die russische Armee versucht, die Stadt nach dem Vorbild von Bachmut und Awdijiwka in einer Zangenbewegung einzuschließen. In weiteren Schritten könnte russische Soldaten womöglich eine Trasse zu den Großstädten Kramatorsk und Slowjansk einnehmen.

Mangel an Munition und Luftverteidigung hat nun Folgen

Als Hauptgrund für den langsamen, aber stetigen russischen Vormarsch wird der zunehmende Munitionsmangel auf ukrainischer Seite angesehen. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach kürzlich in einem Interview mit dem US-amerikanischen Sender PBS davon, dass die Ukrainer zehn russischen Granaten nur eine eigene entgegensetzen können. Militärs schildern die Lage zwar weniger dramatisch. Sie reden eher von einem Verhältnis von eins zu drei bis eins zu sechs.

Doch gegen die gefürchteten russischen Gleitbomben hat die ukrainische Seite trotz verkündeter Abschüsse russischer Flugzeuge bisher kein Mittel gefunden. Aus einer Entfernung von 60 Kilometern von der Front, neuere Modelle angeblich sogar von 90 Kilometern, werden mit Flügeln ausgestattete Bomben von russischen Kampfflugzeugen fern von der ukrainischen Flugabwehr abgeworfen und gleiten zu ihrem Ziel.

Über 100 Bomben dieser Art mit einem Gewicht von 250, 500 oder mehr Kilogramm sollen nach ukrainischer Zählung täglich mit verheerender Wirkung auf ukrainische Stellungen fallen. Trotz der laut Berichten nicht sehr hohen Präzision werden durch die Detonationen Soldaten in einem größeren Umkreis kampfunfähig gemacht. Ausgebaute Befestigungen werden komplett zerstört.

Luftverteidigungssysteme werden für wichtige Infrastruktur gebraucht

Ein Gegenmittel wären mehr Patriot-Flugabwehrsysteme, die mit ihrer Reichweite russische Flugzeuge auf Abstand halten könnten, was aus Sicht von Militärexperten Erfolg versprechend wäre. Die drei Systeme, über die Kiew verfügt, werden aber benötigt, um die eigene Rüstungsproduktion und Infrastruktur vor russischen Raketenangriffen zu schützen. Die Ukraine bräuchte also mehr davon.

Aufgrund der geringen Zahl an weitreichenden Flugabwehrsystemen, die auch ballistische Raketen abschießen können, sind auch russische Raketenschläge im ukrainischen Hinterland immer wieder erfolgreich. Seit Mitte März wurden mehrere Wärmekraftwerke und mindestens ein Wasserkraftwerk zumindest stark beschädigt. Für den Sommer wird bereits vor größeren Stromabschaltungen gewarnt. Für den Rest des Jahres erwarten Militärs und Beobachter stärkere Rückschläge für die ukrainischen Verteidiger. Selbst von einem Rückzug bis an den Fluss Dnipro ist bereits die Rede.

Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte die europäischen Staaten zur schnellen Lieferung von weiteren Luftabwehrsystemen auf. „Wir haben Patriots. Wir haben Anti-Raketen-Systeme“, sagte der Spanier am Donnerstag beim Treffen der Außenminister der G7-Gruppe auf Capri. Und: „Wir müssen sie aus unseren Kasernen holen, wo sie sich befinden und sie in die Ukraine schicken, wo der Krieg tobt.“


Mehr zum Thema:  

DWN
Politik
Politik Netanjahu Haftbefehl: Deutschland und die rechtliche Zwickmühle
22.11.2024

Der Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu erschüttert die internationale Bühne. Deutschland sieht sich in einem schwierigen Spagat:...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Bosch kürzt 5.550 Stellen - 3.800 davon in Deutschland
22.11.2024

Bosch steht vor massiven Einschnitten: Bis zu 5.550 Stellen sollen wegfallen, davon allein 3.800 in Deutschland. Die Krise in der...

DWN
Finanzen
Finanzen Goldpreis-Prognose 2025: Nach Kurskorrektur steigt der Goldpreis aktuell - wohin geht die Reise?
22.11.2024

Der Goldpreis steht derzeit im Fokus von Anlegern und Edelmetallexperten. Gerade in unsicheren Zeiten wollen viele Investoren Gold kaufen,...

DWN
Politik
Politik Iranisches Atomprogramm: Teheran will mehr Uran anreichern
22.11.2024

Droht der Iran dem Westen mit neuen Atomwaffen? Die IAEA warnt, Teheran wehrt sich – und eskaliert die Urananreicherung. Jetzt könnten...

DWN
Politik
Politik Dauerbaustelle Autobahn: Sie stehen hier im Stau, weil sich Verkehrsminister Volker Wissing verrechnet hat
22.11.2024

Wenn man im Sommer entspannt durch Frankreich oder Italien über die Autobahnen gleitet, fragt man sich jedesmal aufs Neue: Warum müssen...

DWN
Politik
Politik Krankenhausreform kommt: Lauterbachs Reform passiert den Bundesrat
22.11.2024

Karl Lauterbach freut sich: Der Bundesrat hat das sogenannte "Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz" gebilligt, das Herzensprojekt des...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Rezession droht im Winter, Euro ist im Sinkflug: Was sind die Gründe?
22.11.2024

Stagnation der deutschen Wirtschaft, ein schwächelnder Euro, miese Stimmung in den Unternehmen: Ökonomen befürchten eine...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoins-Prognose: Kryptowährung mit Rekordhoch nahe 100.000 Dollar - wie geht's weiter?
22.11.2024

Ein Bitcoin-Rekordhoch nach dem anderen - am Freitagmorgen kletterte der Bitcoin-Kurs erstmals über 99.000 US-Dollar. Seit dem Sieg von...