Deutsche Wirtschaftsnachrichten: „Weltreise eines Kapitalisten“ heißt Ihr neues Buch. Wohin hat Sie Ihre Reise denn geführt? Und was bedeutet Reisen für Sie?
Rainer Zitelmann: Ich war in vom April 2022 bis Dezember 2023 in Asien, Lateinamerika, den USA und in 16 europäischen Länden, insgesamt in 30 Ländern. Es waren andere Reisen als sonst, wenn man etwa Urlaub macht. Da liege ich faul in der Sonne und lerne das Land nicht kennen. Ich habe mich auf jedes Land gründlich vorbereitet, über die Geschichte und Wirtschaft des Landes gelesen. In 34 Ländern habe ich eine Umfrage zum Image von Marktwirtschaft und Kapitalismus durchführen lassen und in 13 Ländern zum Image der Reichen. Vor allem habe ich dann aber in den Ländern viele Gespräche geführt mit Unternehmern, Politikern, Ökonomen, Vertretern der liberalen/libertären Bewegung und mit einfachen Menschen. So habe ich zahlreiche Informationen verdichtet, die die meisten Reisenden natürlich nicht bekommen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Und was bedeutet Kapitalismus für Sie persönlich?
Rainer Zitelmann: Es gibt in der modernen Zeit grundsätzlich zwei Möglichkeiten, eine Wirtschaft zu organisieren: Im ersten Fall gibt es kein Privateigentum an Produktionsmitteln sowie Grund und Boden, sondern nur Staatseigentum. In Planungsbehörden wird festgelegt, was in welcher Menge produziert wird. Im zweiten Fall ist das Privateigentum garantiert und die Unternehmer produzieren im Rahmen einer rechtlichen Ordnung jene Güter, von denen sie glauben, dass die Konsumenten sie brauchen. Die Preise geben ihnen die Informationen darüber, ob sie mit ihrer Annahme richtig lagen, also ob sie das Richtige in der richtigen Menge produziert haben. Das erste System nennt man Sozialismus, das zweite Marktwirtschaft oder Kapitalismus.
Tatsächlich existiert in der Realität keines dieser Systeme – Kapitalismus oder Sozialismus - in Reinkultur. Selbst in sozialistischen Staaten wie der ehemaligen DDR oder sogar in Nordkorea gab oder gibt es neben dem Staats- auch Privateigentum und neben dem alles dominierenden Plan Elemente von Marktwirtschaft, legal oder illegal. Ohne diese Marktelemente hätte die Wirtschaft in diesen Ländern noch schlechter oder gar nicht mehr funktioniert. Mein Ansatz: Ich beobachte wie in einem Reagenzglas, ob im Zeitablauf mehr Markt oder mehr Staat hinzugegeben wird.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Haben Sie Länder bereist, die sich in den letzten Jahren besonders gut entwickelt haben? Können Sie zwei Beispiele nennen?
Rainer Zitelmann: Da fallen mir vor allem Polen und Vietnam ein, über die ich ausführlich schreibe. Vietnam war zu Zeiten der sozialistischen Planwirtschaft das ärmste Land der Welt. Ärmer auch als alle afrikanischen Länder. Polen war eines der ärmsten Länder Europas, viel ärmer als die Ukraine. Beide Länder begannen Ende der 80er-Jahre mit kapitalistischen Reformen und haben sich großartig entwickelt. In Vietnam sank die Quote der Menschen, die in extremer Armut leben, von 80 Prozent auf unter fünf Prozent. Polen ist seit Jahrzehnten Europas Wachstumschampion. Ich berichte in meinem Buch über diese Reformen - und wie sie das Leben verändert haben.
Besonders beeindruckt hat mich auch Argentinien. Dort war ich zweimal, einmal 2022 und dann zwei Tage nach der Wahl von Javier Milei noch einmal. Meine Ideen und Argumente wurden dort mit größtem Interesse aufgenommen, zur besten Sendezeit gab es ein einstündiges TV-Interview im führenden Fernsehsender und die führende Sonntagszeitung brachte ein Interview von vier Seiten. Das war 2022. Da merkte ich: Hier finden liberale, pro-kapitalistische Argumente viel Gehör. Ich lernte die Leute aus Mileis Bewegung kennen und war wohl einer der ersten, der schon 2022 einen Sieg Mileis für möglich hielt.
Das war aber nicht nur ein Ergebnis meiner persönlichen Eindrücke, sondern die bereits erwähnte Umfrage, die ich auch in Argentinien durchführen ließ, zeigte, dass sich die Einstellung der Argentinier in Richtung Marktwirtschaft gedreht hatte. Beeindruckt haben mich aber viele Länder – Südkorea, Vietnam, Polen. Auf der anderen Seite habe ich die bittere Armut in Nepal gesehen, die eindeutig daher rührt, dass das Land eines der wirtschaftlich unfreisten Länder der Welt ist. Ich habe auf meiner Reise auch die libertäre Weltbewegung kennengelernt, mit ihren Stärken und auch ihren vielen Schwächen. Auch derjenige, der sich dafür interessiert, wird in dem Buch fündig.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Und welche Länder sind Ihrer Meinung nach eher zurückgefallen?
Rainer Zitelmann: Die meisten. China hat 1980 bis 2010 eine großartige Entwicklung durchgemacht, dank der Reformen von Deng Xiaoping. Die extreme Armut sank von 88 Prozent (1981) auf heute unter ein Prozent. In den letzten Jahren mischt sich der Staat jedoch wieder zunehmend in die chinesische Wirtschaft ein, was das Wachstum bereits gebremst hat und weiter bremsen wird. Die USA haben ebenfalls Rückschritte gemacht, Staatsdirigismus spielt dort eine immer größere Rolle. Auch der Protektionismus hat zugenommen, unter Donald Trump wie unter Joe Biden. Lateinamerika wird fast überall von Sozialisten regiert, in Venezuela, Kolumbien, Brasilien und sogar im einstigen kapitalistischen Musterland Chile. In meinem Buch schreibe ich über die Gründe. Auch in Europa ist der Staatsinterventionismus überall auf dem Vormarsch.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Einige Länder verfügen über wenig Rohstoffe und sind im schlechtesten Fall auch noch Binnenstaaten, ohne direkten Zugang zum Meer. Oft herrschen widrige klimatische Bedingungen vor. Bis zu welchem Grad kann hier eine entsprechende Wirtschaftspolitik überhaupt etwas zum Besseren wenden?
Rainer Zitelmann: Rohstoffe spielen kaum eine Rolle. Das rohstoffreichste Land der Welt, Russland, hatte schon vor dem Krieg ein Bruttosozialprodukt, das unter dem von Italien lag. Afrika ist reich an Rohstoffen, aber arm. Venezuela hat die mit Abstand größten Erdölvorkommen der Welt und ist seit der Machtübernahme der Sozialisten verarmt - 1970 war es übrigens noch eines der 20 reichsten Länder der Welt. Singapur und die Schweiz haben kaum Rohstoffe und sind sehr reich. Vergessen Sie Rohstoffe. Der wichtigste Rohstoff ist wirtschaftliche Freiheit und ein funktionierender Rechtsstaat.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie sagen also, in manchen Fällen sei Rohstoffreichtum sogar eher Fluch denn Segen?
Rainer Zitelmann: In der Tat. Man spricht von der Holländischen Krankheit. Infolge der Entdeckung und Ausbeutung von Erdgasvorkommen kam es in den 60er-Jahren in Holland zu einer Schrumpfung des industriellen Sektors. Hauptursache waren die durch das Erdgasgeschäft entstandenen Außenhandelsüberschüsse, die über den Wechselkursmechanismus zu einer Aufwertung der holländischen Währung und somit zu einer Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit führten.
Das hat man auch in anderen Ländern beobachtet. Die Niederlande haben freilich diese Probleme längst gelöst. Sie sind eines der Mutterländer des Kapitalismus und stehen im Index der wirtschaftlichen Freiheit auf Platz 11, weit vor den USA (Platz 25). Wirtschaftliche Freiheit löst alle Probleme, ob zu viel oder zu wenig Rohstoffe vorhanden sind, spielt dabei keine Rolle.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: In den USA, die vielen als ein Leuchtturm des Kapitalismus gelten, gibt es eine riesige soziale Ungleichheit, viele Menschen leben in Zelten. Trotz oder wegen des Kapitalismus? Oder kann er sich dort, entgegen der landläufigen Meinung, vielleicht nur nicht richtig entfalten?
Rainer Zitelmann: Dass die USA ein Leuchtturm des Kapitalismus sind, war zu Zeiten Ronald Reagans so, doch die sind lange vorbei. Ich zeige in meinem Buch, dass die USA heute sogar in vieler Hinsicht bürokratischer sind als Europa und einen riesigen Wohlfahrtsstaat haben, was die meisten Menschen in Europa nicht wissen. Laut dem Index of Economic Freedom sind die USA wirtschaftlich „unfrei" wie nie, seitdem der Index erstmals 1995 erstellt wurde. Inzwischen gelten 16 europäische Länder als wirtschaftlich freier als die USA.
Eine Analyse der verfügbaren Einkommen in den USA zeigt, dass der durchschnittliche Haushalt des untersten Quintils (also die unteren 20 Prozent der Einkommensbezieher) pro Kopf über zehn Prozent mehr erhält als der durchschnittliche Haushalt des zweiten Quintils und sogar drei Prozent mehr als der durchschnittliche Haushalt mit mittlerem Einkommen. Ein Angehöriger einer amerikanischen Mittelschicht-Familie, in der der Mann und die Frau beide arbeiten, hat am Ende nicht mehr als ein Angehöriger einer Familie, in der beide gar nicht arbeiten. Es gibt in den USA allein 100 landesweite Transferprogramme mit jährlich mehr als 100 Millionen Dollar pro Programm, dazu gibt es unzählige Programme auf Ebene der einzelnen Bundesstaaten und Kommunen. Auf der anderen Seite stehen föderale, staatliche und lokale Steuern, so dass ein unüberschaubares Gestrüpp von Steuerzahlungen einerseits und Transferleistungen andererseits entsteht.
Das absurde Ergebnis ist, dass ein typischer Mittelschicht-Haushalt vom Staat fast so viel staatliche Transferleistungen bekommt (17.850 Dollar) wie er Steuern zahlt (19.314 Dollar). Natürlich verschlingt die Bürokratie dafür eine Menge Geld. Viele Amerikaner der Mittelschicht spüren, dass mit diesem System etwas nicht in Ordnung ist. Finanziert wird das Ganze zu einem Großteil von den oberen 20 Prozent der Einkommensbezieher, die 295.904 Dollar Haushaltseinkommen haben, aber fast 107.000 Dollar Steuern bezahlen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Kehren wir zurück nach Deutschland. Was könnte Deutschland von anderen Ländern lernen?
Rainer Zitelmann: Ich zeige in meinem Buch, dass mehr wirtschaftliche Freiheit immer zu mehr Wirtschaftswachstum und einem höheren Lebensstandard geführt hat. Das wusste schon Adam Smith, es war die zentrale These seines Buches „Wealth of Nations“. Polen und Vietnam hatte ich genannt. Aber das trifft auch für Großbritannien zu: Das Vereinigte Königreich war in den 70er-Jahren „der kranke Mann Europas“ und wurde dann erst durch Thatchers kapitalistische Reformen wieder erfolgreich. Von Thatcher könnten wir viel lernen. Zwischen März 1983 und März 1990 wurden durch ihre Reformen der Steuersenkungen und Privatisierung 3,32 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Die hohen Steuereinnahmen, die dadurch generiert wurden, trugen zum Abbau der Staatsverschuldung bei. 1976 hatte Großbritannien kurz vor dem Staatsbankrott gestanden und musste wie ein Entwicklungsland einen Kredit beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnehmen. 1978 betrug das Haushaltsdefizit 4,4 Prozent des Bruttosozialproduktes (in Deutschland waren es damals 2,4 Prozent). Zehn Jahre später, 1989, schloss der Haushalt Großbritanniens mit einem Überschuss von 1,6 Prozent. Die Staatsschulden, die 1980 noch 54,6 Prozent des BIP ausmachten, waren bis 1989 auf 40,1 Prozent gesunken.
Eigentlich wissen wir es in Deutschland selbst, denn Gerhard Schröders Reformen der Steuersenkung und Liberalisierung des Arbeitsmarktes haben seinerzeit zu einem massiven Rückgang der Arbeitslosigkeit geführt. Inzwischen wurde das wieder verspielt, zuerst durch Angela Merkel, die Deutschland immer mehr in Richtung einer Planwirtschaft geführt hat und jetzt durch Robert Habeck, der diesen falschen Weg noch schneller gehen will. Brüssel trägt auch seinen Teil bei, etwa durch das Verbot des Verbrenner-Motors, der Deutschland massiv schaden wird. Es ist wohl das erste Mal in der Geschichte, dass ein Land aus ideologischen Gründen freiwillig die Produktion seines besten Produktes einstellt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Vielen Dank für das interessante Gespräch.
Info zur Person: Dr. Dr. Rainer Zitelmann ist Historiker, Soziologe und mehrfacher Bestsellerautor. Er hat 29 Bücher geschrieben und herausgegeben, die weltweit in über 30 Sprachen übersetzt wurden, u.a. „Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten" und - soeben neu aufgelegt - „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs". Er ist weltweit ein gefragter Vortragsredner .