Politik

Der Chefredakteur kommentiert: Keine Hausaufgaben mehr? Die Grünen und ihr verhängnisvoller Irrweg

Lesezeit: 6 min
21.06.2024 22:22  Aktualisiert: 21.06.2030 16:30
Liebe Leserinnen und Leser, jede Woche gibt es ein Thema, das uns in der DWN-Redaktion besonders beschäftigt und das wir oft auch emotional diskutieren. An dieser Stelle lasse ich Sie jeden Freitag an meinem Standpunkt teilhaben - immer kritisch, selbstverständlich unabhängig, meist unbequem. In dieser Woche lag der Vorschlag der Berliner Grünen auf meinem Schreibtisch, die Hausaufgaben grundsätzlich abzuschaffen - was ich davon halte? Lesen Sie!
Der Chefredakteur kommentiert: Keine Hausaufgaben mehr? Die Grünen und ihr verhängnisvoller Irrweg
Hausaufgaben abschaffen? Die Idee der Berliner Grünen polarisiert - und hilft weder den Schülern noch dem Bildungssystem (Foto: dpa).

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Liebe Leserinnen und Leser,

die Berliner Grünen haben einen mutigen und kontroversen Vorschlag gemacht: Die Abschaffung der Hausaufgaben. Auf den ersten Blick scheint dies wie eine erlösende Nachricht für Schüler und Eltern gleichermaßen. Viele Kinder leiden unter dem Druck der häuslichen Aufgaben, der Stress mit Eltern ist vorprogrammiert. Aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass diese potentielle Veränderung auch zutiefst problematische Aspekte mit sich bringt.

Psychische Erkrankungen bei Kindern nehmen zu

Eines der stärksten Argumente der Grünen für die Abschaffung der Hausaufgaben ist die Entlastung der Schüler und die Schaffung von mehr Zeit für Erholung und familiäre Aktivitäten. Es ist unbestreitbar, dass Kinder und Jugendliche bereits in der Grundschule einem enormen Druck ausgesetzt sind. Die Schule nimmt einen großen Teil ihres Tages ein, und die zusätzlichen Stunden, die sie mit Hausaufgaben verbringen müssen, schränken ihre Freizeit erheblich ein.

Klar, früher, als ich Kind war, wurde die Freizeit durch Schule und Hausaufgaben ebenfalls eingeschränkt. Auch in meiner Kindheit und Jugend vor über 30 Jahren waren Hausaufgaben ein - aus Schülersicht - nerviges Übel. In der weiterführenden Schule wurden dann halt mal schnell kurz vor dem Unterricht die Hausaufgaben abgeschrieben.

Doch der Stress, dem Kinder heutzutage ausgesetzt sind, ist oft ungleich größer, man denke nur an das große Lern- und Freizeitangebot: hier Sprachkurse für Grundschulkinder, da der interaktive Theaterkurs, dort Hip-Hop-Tanzkurse - hinzu kommen die klassische Musikschule, neue Sportarten wie Bouldern für Kinder und die nach wie vor beliebten Sportarten Fußball, Handball und Co. sowie das Internet und soziale Netzwerke.

Nicht zuletzt lastet auf vielen Eltern der gesellschaftliche Druck, dass ihr Kind zur Elite gehören muss oder dass es ihr Kind später mal (noch) besser haben soll. Die Angst vor sozialem Abstieg ist groß, die Erwartungshaltung an Kinder ist bereits im Grundschulalter hoch - mit ziemlicher Sicherheit deutlich höher als in meiner Kindheit vor mehr als 30 Jahren.

Tatsache ist: Immer mehr Kinder leiden an psychischen Erkrankungen, wie eine Erhebung des Statistischen Bundesamts (Destatis) ergab. Der Anteil von Behandlungen wegen psychischer Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen steigt seit dem Jahr 2000 kontinuierlich. Eine aktuelle Destatis-Untersuchung zeigt zudem, dass psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen im Jahr 2021 die häufigste Ursache für stationäre Krankenhausbehandlungen von Kindern und Jugendlichen waren.

Annähernd 81.000 Krankenhauspatienten im Alter von zehn bis 17 Jahren wurden 2021 wegen einer solchen Diagnose stationär behandelt. Das entspreche 19 Prozent aller Krankenhaus-Aufnahmen in dieser Altersgruppe. Zehn Jahre zuvor war der Anteil mit 13 Prozent noch deutlich geringer gewesen.

Die Ursachen der psychischen Erkrankungen werden hier nicht genannt. Selbstverständlich steigt die Zahl der Depressionen bei Kindern nicht ausschließlich wegen der Hausaufgaben. Die Corona-Pandemie, ein ehrlicherer Umgang mit psychischen Erkrankungen, genauere Diagnosen sowie mehr potentielle Stressfaktoren tragen zu diesem Anstieg bei.

Erholung und Lernpausen sind nicht nur für die psychische Gesundheit von Schülern wichtig, sondern auch für die kognitive Entwicklung.

Und auch als Elternteil ist es nicht schön anzusehen, wenn das eigene Kind bis in den späten Nachmittag über Büchern brütet, anstatt Zeit mit Freunden auf dem Spielplatz, dem Bolzplatz oder irgendwo in der Natur zu verbringen - für die Entwicklung sozialer Kompetenzen sind diese "Auszeiten" unverzichtbar.

Dennoch ist mir persönlich die Idee der Grünen, Hausaufgaben abzuschaffen, zu billig. Fällt gut bezahlten Berufspolitikern nichts Besseres ein, als ein einfaches Hausaufgaben-Verbot? Hausaufgaben übernehmen im Rahmen des Lehrangebots und bei der persönlichen Entwicklung von Kindern eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Verlust von Selbstdisziplin und Verantwortungsbewusstsein

Die Abschaffung der Hausaufgaben würde einen tiefen Einschnitt in die Entwicklung unserer Kinder bedeuten. Hausaufgaben sind nicht nur dazu da, den Unterrichtsstoff zu vertiefen, sie sind auch dazu da, Schüler an eigenständiges Arbeiten zu gewöhnen. Hausaufgaben tragen zur Selbstorganisation und zum Selbstbewusstsein bei. Wenn Kinder ohne die Hilfe der Lehrkraft Rechenaufgaben korrekt lösen, Texte fehlerfrei abschreiben oder Baumarten richtig zuordnen können, dann wachsen sie daran. Diese Fähigkeiten sind im späteren Berufsleben unbezahlbar.

Ein Schüler, der keine Hausaufgaben machen muss, verliert möglicherweise die Chance, diese wichtigen Soft Skills zu entwickeln. In einer Welt, in der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung immer mehr an Bedeutung gewinnen, könnte dies ein gravierender Nachteil sein. Ist es nicht auch eine wichtige Lektion, dass man manchmal Dinge erledigen muss, auch wenn man keine Lust dazu hat? Wie sollen unsere Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich Herausforderungen zu stellen, wenn ihnen ständig der einfachste Weg geboten wird?

Übrigens: Ich war einer dieser Schüler, der gerne mal von seinen Mitschülern und vor allem Mitschülerinnen die Hausaufgaben abgeschrieben hat. Teilweise sind daraus sehr enge persönliche Bindungen entstanden - und ich bin auch heute noch vielen Leidensgenossen sehr dankbar für diese Unterstützung. Leider habe ich mir mit meiner Hausaufgaben-Abstinenz sehr geschadet, weil ich irgendwann beim Lernstoff nicht mehr mitgekommen bin. Mir hat die Zeit gefehlt, in der ich mich persönlich mit den Problemstellungen in den verschiedenen Fächern auseinandergesetzt habe.

Bildungsgerechtigkeit: Punkt für die Grünen?

Einen Punkt haben die Grünen aber: In der aktuellen Situation hinge der Erfolg der Schüler oft von den häuslichen Bedingungen ab. Kinder aus bildungsfernen oder sozial schwächeren Familien hätten deutlich schlechtere Voraussetzungen, ihre Hausaufgaben erfolgreich zu erledigen. Nicht jeder Haushalt hat die Möglichkeit, den Kindern einen ruhigen Arbeitsplatz, Unterstützung durch Eltern oder Nachhilfelehrer zu bieten.

Das ist ein starkes Argument, nicht viele Eltern haben ausreichend und täglich Zeit, ihre Kinder bei den Hausaufgaben zu unterstützen. Wer im Supermarkt zu später Stunde noch an der Kasse sitzt, als Bäcker mitten in der Nacht aufsteht oder schlicht arbeitet, wenn die Kinder von der Schule nach Hause kommen, kann dies einfach nicht leisten.

Dennoch: Gibt es nicht eine bessere Lösung als Hausaufgaben abzuschaffen?

Eine Möglichkeit wäre es zum Beispiel, die Aufgaben in der Schule zu erledigen. Das könnte dies Ungleichheiten zumindest reduzieren. Alle Schüler hätten die gleichen Bedingungen und könnten bei Bedarf Hilfe von Lehrern erhalten. Dies könnte dazu beitragen, die Chancengleichheit zu erhöhen und den sozialen Aufstieg durch Bildung zu erleichtern.

In vielen Grundschulen und auch in manch weiterführender Schule ist dies bereits möglich, bei Ganztagsschulen und in Internaten sowieso. Leider scheitert die gemeinsame Hausaufgabenzeit in der Schule oft an fehlendem Personal. Eine Umfrage aus dem Jahr 2023 zeigt, dass in Deutschland immer mehr Lehrkräfte fehlen. Laut Angaben der 16 Kultusministerien in Deutschland sind im Schuljahr 2023/24 rund 14.500 Vollzeitstellen für Lehrer unbesetzt.

Es gibt noch keine konkrete Idee, wie der Lehrermangel künftig gelöst werden kann. Und das Problem wird sich aufgrund des demografischen Wandels weiter verschärfen: Während die Zahl der Schüler steigt, gehen immer mehr Lehrkräfte der Generation der Babyboomer in Rente. Laut einer Prognose der Kultusministerkonferenz (KMK) fehlen bis 2035 annähernd 68.000 Lehrer. Wenn Reformvorhaben wie Ganztag und Inklusion gut umgesetzt werden sollen, dann beziffern Schätzungen der Lehrergewerkschaft GEW den Bedarf an neuen Lehrern bis 2035 sogar auf mehr als eine halbe Million.

Herausforderungen der Umsetzung

Wir müssen also ehrlich sein: Die Umsetzung einer Hausaufgabenzeit für jedes Kind in jedem Alter und in jeder Schulform ist mit enormen Herausforderungen verbunden - und schlicht utopisch. Die Idee, dass alle vertiefenden Übungen in der Schule stattfinden sollen, klingt in der Theorie gut, aber wie soll dies in der Praxis aussehen? Werden die Stundenpläne der Schüler verlängert? Gibt es Essen für die Kinder in der Schule? Besteht eine Anwesenheitspflicht?

Auch wenn nach einer Prognose der Bertelsmann-Stiftung der Lehrkräftemangel an Grundschulen in Deutschland in den nächsten Jahren deutlich entschärft werden könnte, ist eine deutschlandweite Hausaufgabenzeit in der Schule mit dem aktuellen Bildungssystem kaum umsetzbar.

Wie können wir also künftig sicherstellen, dass die Schulen in der Lage sind, diese zusätzlichen Aufgaben zu bewältigen, ohne dass die Qualität der Bildung leidet?

Fazit: Ein Balanceakt

Die Abschaffung der Hausaufgaben ist ein komplexes Thema, das sorgfältig abgewogen werden muss. Es gibt starke Argumente auf beiden Seiten, und es ist wichtig, dass wir diese Diskussion offen und ehrlich führen. Die Zukunft unserer Kinder und die Qualität ihrer Bildung stehen auf dem Spiel. Es ist unsere Verantwortung, eine Lösung zu finden, die sowohl die Belastung der Schüler reduziert als auch ihre Bildung und persönliche Entwicklung fördert.

Einfache Lösungen und plakative Vorschläge, wie die der Grünen, helfen dabei nicht - auch wenn sie gut gemeinte Absichten haben mögen. Leider ist gut gemeint, nicht gut gemacht. Und ihre Vorschläge bergen das Risiko einer Fehlentwicklung unseres gesamten Bildungssystems. Die Idee, dass Kinder keinen Druck mehr durch Hausaufgaben haben sollen, ignoriert die Realität der Leistungsanforderungen in unserer Gesellschaft.

Wir leben in einer Welt, in der Leistung und Wettbewerb entscheidend sind. Wer heute im Bildungsprozess weichgespült wird, wird morgen in der harten Realität des Berufslebens Schiffbruch erleiden. Wir müssen unsere Kinder stark und widerstandsfähig machen, und das erreichen wir nicht, indem wir ihnen alle Hürden aus dem Weg räumen. Nein, Kinder müssen sich täglich beweisen können, sie müssen Probleme lösen können und daran wachsen, müssen Hürden selbst überspringen können.

Es geht also viel mehr darum, wie wir die Hürden für unsere Kinder überwindbar machen. Wie können wir vielleicht für verschiedene Schüler die Hürden unterschiedlich hoch "bauen"? Wie unterstützen wir unsere Kinder beim Sprung über die Hürde? Die Hürde "Hausaufgaben" einfach wegzunehmen, löst das Problem im Bildungssystem jedenfalls nicht - aus meiner Sicht ein verhängnisvoller Irrweg.

Ihr Markus Gentner

Chefredakteur

Zum Autor:

Markus Gentner ist seit 1. Januar 2024 Chefredakteur bei den Deutschen Wirtschaftsnachrichten. Zuvor war er zwölf Jahre lang für Deutschlands größtes Börsenportal finanzen.net tätig, unter anderem als Redaktionsleiter des Ratgeber-Bereichs sowie als Online-Redakteur in der News-Redaktion. Er arbeitete außerdem für das Deutsche Anlegerfernsehen (DAF), für die Tageszeitung Rheinpfalz und für die Burda-Tochter Stegenwaller, bei der er auch volontierte. Markus Gentner ist studierter Journalist und besitzt einen Master-Abschluss in Germanistik.


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