„Ich freue mich unglaublich, dass Sie da sind." Mit diesen Worten eröffnete Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) am 14. März 2023 den Bildungsgipfel in Berlin. Warum die Freude der Ministerin so „unglaublich“ war, ist nicht bekannt. Schließlich saßen von den 16 Kultusministerinnen und -ministern nur zwei im Saal des Berliner Congress Centers: Astrid-Sabine Busse, die Berliner Bildungssenatorin und damalige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, und Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (beide SPD).
Es scheint, als sei die Hoffnung auf Veränderung, die im Titel des ersten Bildungsgipfels seit 2008 mitschwang („Chance Bildung“), bei den Bildungspolitikerinnen und -politikern der Länder auf taube Ohren gestoßen. Klar ist: Die Krise der deutschen Bildungspolitik hält auch im Jahr 2024 an, wie eine aktuelle Studie des Bundesverbandes der mittelständischen Wirtschaft (BVMW) zeigt.
Demnach befindet sich das Bildungsniveau der Bewerbungen von Schulabgängern im freien Fall. Fast 70 Prozent der vom BVMW befragten mittelständischen Unternehmen gaben an, dass 2023 die Qualität der Bewerberinnen und Bewerber, die gerade die Schule beendet haben, gesunken sei. „Das Ergebnis der Umfrage ist erschreckend und zeigt, dass die Anstrengungen, die Schul- und Ausbildungsqualität in Deutschland zu steigern, nicht ausreichend sind, um einen dringend benötigten Qualitätsschub in der Bildung zu erreichen“, warnt BVMW-Chef Christoph Ahlhaus.
Veraltete Ausbildung, katastrophale Infrastruktur
Das Problem ist nicht neu. Seit Jahren kritisieren Unternehmen die mangelnden Grundkenntnisse des Nachwuchses, vor allem in Mathematik und Rechtschreibung, die eine betriebliche Ausbildung erschweren oder gar unmöglich machen.
Für Martin Wortmann, Generalsekretär der Allianz für Bildung, eine Initiative des BVMW für eine Qualitätswende in der Bildungspolitik, sind die Studienergebnisse ein Beleg dafür, dass sich das deutsche Bildungssystem in einem Ausnahmezustand befindet. „Die Leistungen der Schüler sinken, die Ausbildung von Fachkräften ist zunehmend veraltet, die Verbindung von Wirtschaft und Schule ist schlecht und der Zustand der Bildungsinfrastruktur katastrophal", kritisiert Wortmann in den DWN: „Das ist nicht nur eine Tragödie für jeden einzelnen Schüler, sondern auch eine massive Gefahr für die Wirtschaft und den Wohlstand unseres Landes.“
Mit dieser Einschätzung ist Bildungsexperte Wortmann nicht allein, denn sie betrifft in gleichem Maße allgemeinbildende Schulen und berufsbildende Schulen. So bewerten im Ausbildungsreport 2023 des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) fast vier von zehn Auszubildenden die digitale Ausstattung ihrer Berufsschule mit „ausreichend“ oder „mangelhaft“. Nur jeder Dritte fühle sich „gut“ oder gar „sehr gut“ auf die Nutzung digitaler Medien vorbereitet.
„Deutsches Schulsystem ist von der Realität abgekoppelt“
Zudem zeigen Studien wie der Jahresmonitor 2022 der Stiftung Familienunternehmen, dass das mangelhafte Ausbildungsniveau in direktem Zusammenhang mit der sinkenden Innovationsfähigkeit deutscher Unternehmen stehe.
Eine Ursache dafür sieht Bildungsallianz-Chef Wortmann in der Abkoppelung des deutschen Schulsystems von den Realitäten seines Umfelds, was dieser auf die Trägheit der Bildungspolitik zurückführt: „Unsere Gesellschaft befindet sich in einem beschleunigten Wandel. Technologische Entwicklungen verändern Kommunikation, kulturelle Rahmenbedingungen und Rollenverständnisse. Die Gatekeeper-Funktion der Lehrerinnen und Lehrer geht zunehmend verloren, da die Schülerinnen und Schüler digitale Medien nutzen und sich je nach sozialem Hintergrund dem direkten Einfluss der Schule entziehen“.
Für den Bildungsexperten hängen die anhaltende Rezession und die sinkende Produktivität und Innovationsfähigkeit deutscher Unternehmen deshalb direkt mit den Bildungs- und Ausbildungsproblemen hierzulande zusammen: „Wer weniger weiß und weniger kann, ist auch weniger in der Lage, bewusst Risiken einzugehen, Neues zu schaffen und innovative Lösungen für den Zukunftserfolg der deutschen Wirtschaft zu entwickeln.“
Gesunkene Leistungsbereitschaft bei Schulabgängern
Auf der anderen Seite registrieren Unternehmen und Ausbildungsbetriebe, dass sich die Erwartungshaltung potenzieller Auszubildender und Bewerber/innen in den letzten Jahren stark verändert hat. „Nicht nur die Leistungen sind gesunken, auch die Leistungs- und Risikobereitschaft nimmt immer mehr ab, mit weniger Verpflichtungen gegenüber dem Arbeitgeber, aber mehr beruflicher Sicherheit“, kritisiert Wortmann. Er warnt davor, dass diese Verschiebung der Werte sich negativ auf die Arbeits- und Innovationsmilieus in den Unternehmen auswirken werde. Das beeinträchtige die Kreativität, Lösungsorientierung und Risikobereitschaft der Firmen, was wiederum deren Wettbewerbsfähigkeit untergrabe.
„Die Folgen sind ein direkter Einfluss auf die Leistungserbringung, Bewältigung von Unsicherheit und Problemlösung, auf reflektiertes Denken sowie Kreativität und Innovationsfähigkeit“, fasst Wortmann den Status Quo zusammen. „Sollte sich dieser Trend fortsetzen, werden Wertschöpfungsprozesse und Wettbewerbsfähigkeit abgebaut.“ Die benötigte Produktivitätssteigerung würde ausbleiben, der Wohlstandsverlust für unsere Gesellschaft wäre vorprogrammiert.
Neuer Bildungspakt soll Besserung schaffen
Das Grundproblem der beruflichen Bildung sei ihre reine fachliche Ausrichtung und überzogene Lehrpläne, so der Experte. Zudem mangele es an Allgemeinbildung und reflektiertem Arbeiten, was wiederum unmittelbaren Einfluss auf die innovativen Milieus in den Unternehmen habe. Dabei sollen gerade die Berufsschulen die Innovationsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland sichern und ausbauen.
Ein neues Bildungsbündnis soll nun dabei helfen, dieses Ziel zu erreichen. Der bundesweite Pakt für berufliche Schulen soll nach Informationen des Handelsblatts im Frühsommer dieses Jahres Realität werden. Unter Federführung von Kultusministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Christiane Streichert-Clivot (SPD), soll das Bündnis die Mängel der Berufsschulen in den Bereichen Digitalisierung, Ausbildung und Gewinnung von Fach- und Lehrkräften angehen – ohne einen zusätzlichen Euro des Bundes.
Bereits 1960 wurde in Deutschland der Bildungsnotstand ausgerufen. Für Bildungsexperte Wortmann liegt die Verantwortung für die Misere deshalb bei Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gleichermaßen. Bildungspolitik ist im Wesentlichen Ländersache, mit Ausnahme der Bereiche Forschung und berufliche Bildung. Der Bund könne lediglich flankierende Maßnahmen wie den Digitalpakt oder den nun angekündigten Berufsschulpakt auf den Weg bringen und versuchen, einen politischen Konsens mit den Ländern zu finden.
„Allerdings“, so Wortmann, „ist die Kultusministerkonferenz jetzt in der Pflicht zu Liefern.“
Ob diese ihrer Verantwortung mit dem jetzt angekündigten Berufsschulpakt allerdings gerecht wird, bleibt abzuwarten. Schließlich laufen bereits seit Ende 2022 die Verhandlungen über eine Nachfolgeregelung für den Mitte Mai auslaufenden Digitalpakt Schule.
Nationaler Bildungsaufbruch gefordert
Grundsätzlich sollten alle Beteiligten aufeinander zugehen und die Kultusministerkonferenz ihr Motto „Einheit in Vielfalt“ endlich ernst nehmen und das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern gelockert werden, so Bildungsexperte Wortmann. „Außerdem brauchen die Lehrkräfte mehr Gestaltungsspielraum und Eigenverantwortung vor Ort, mehr Partnerschaften mit der Wirtschaft, gegenseitiges Verständnis und vertrauensbildende Maßnahmen.“
Die Bildungsallianz des BVMW schlägt deshalb eine bundesweite Initiative vor, um Austauschforen zu etablieren, die dazu dienen, die Verbindung zwischen Schule und Wirtschaft zu stärken und gegenseitiges Vertrauen in die Leistungsfähigkeit von Schulsystem und Mittelstand zu schaffen. „Unser Ziel ist es, die Zukunftschancen unserer Schüler und damit unserer Gesellschaft zu sichern. Wir brauchen einen nationalen Bildungsaufbruch“, so Wortmann.