„Berlin, nun freue Dich“, wird Kanzler Scholz wohl sinngemäß vor den versammelten Gästen sagen und damit auf die Worte des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper (SPD) angesichts des Mauerfalls vor 35 Jahren verweisen. Es ist zu hoffen, dass die neue Siemensstadt besser wird als die alte - und nicht ein trauriges abgehängtes Viertel am Rande Berlins bleibt.
Denn Siemens hat sich Zeit gelassen, um sich um seinen traditionsreichen Firmensitz in Berlin zu kümmern. Nach Kriegsende setzte der Braindrain ein, die Ingenieure pilgerten nach Bayern ab, bestenfalls die Montage verblieb in der Frontstadt. Nach dem Mauerbau 1961 hat sich der Konzern dann vollständig nach München umorientiert und die beiden Städte lediglich nominell als gleichberechtigten Hauptsitz im Briefkopf geführt. Für den Vorstand war die alte Siemensstadt über Jahrzehnte im Westen Berlins jedoch vor allem ein abgeschriebenes Immobilien-Portfolio, die verbliebenen Werkshallen und Bürogebäude nur ein Standort von vielen weltweit. Es waren die Jahre als Siemens-Aktionäre glaubten, der Industrie-Konzern sei „eine Bank mit angeschlossener Elektroabteilung“. Kurzfristig hoffte Siemens noch in den 1990er-Jahren, sie könnten auf ihrem Gelände eine Sport- und Event-Halle bauen - und ein Quartier darum herum. Doch das Geschäft machte die amerikanische Anschutz-Gruppe am Ostbahnhof und baute die Mercedes-Benz-Arena (heute Uber-Arena) und einen von Hochhäusern geprägten neuen Stadtteil an der Spree. Danach passierte jahrelang erst mal nichts mehr, Berlin schien weit weg für Siemens, wenn es nicht um lukrative ICE-Geschäfte mit der hier ansässigen Bahn AG ging.
Nach der Euphorie der Deutschen Einheit hatte Siemens ganz offenkundig andere Prioritäten, als Berlin die notwendige Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen oder gar an eine Rückkehr zu denken. Bezeichnend ist der desolate Zustand der beiden alten Werks-Bahnhöfe Wernerwerk und Siemensstadt, die heute noch schlimmer aussehen, als sie die Russen nach ihrem Abzug den Briten überlassen hatten. Zwei gottverlassene Geisterbahnhöfe an der immer noch stillgelegten Siemensbahn, die einst die Jungfernheide von der Berliner Ringbahn bis nach Gartenfeld an die Havel führte. Dergleichen gibt es nirgends im ehemaligen Ostteil Berlins. Und das, obwohl anno 2012 immer noch 13.569 Mitarbeiter in Berlin arbeiten und die Stadt damals einer der größten Produktionsstandorte von Siemens war. Unterdessen ist der alte Konzern bekanntlich in diverse börsennotierte Gesellschaften aufgeteilt worden.
Jetzt allerdings wird durchgestartet. Das Siemens-Gelände, fast 80 Hektar groß, könnte aufgewertet werden und soll nun als Bauland ordentlich Mehrwert schaffen. Für Siemens selbst natürlich, aber zugleich für die Hauptstadt, die dringend Wohnraum benötigt und heilfroh sein dürfte, dass Siemens als Investor voranschreitet. In Zeiten, wo der öffentlichen Hand das Geld ausgeht und die Bürger nach Enteignungen rufen. 2.750 Wohnungen hat Siemens im Vorfeld der Grundsteinlegung am 25. Juni versprochen - 30 Prozent davon Mietpreis-gebunden. Für möglichst jeden Geldbeutel soll es Angebote geben, ganz so wie es sich der Kanzler vorstellt und deshalb um Fototermin der feierlichen Grundsteinlegung anreist. Die neue Siemensstadt als eines der ersten sozialdemokratischen Neustadt-Projekte wie ehedem in den 70er-Jahren?
Siemens will der Immobilienwirtschaft zeigen, wie es geht, wenn man die Bazooka auspackt (um eine legendäre Forderung des Kanzlers begrifflich aufzugreifen). Über eine Million Quadratmeter neuer Flächen samt Kitas und Schulneubauten sollen bis zur Fertigstellung des Viertels anno 2035 entstehen. Ob die wirklich alle in dieser Lage Nutzer finden werden, sei erst einmal dahingestellt, zwei sogenannte Industriehubs soll es auch geben. Dafür kann nun endlich die Hauptstadt selbst guten Gewissens, in die Infrastruktur investieren und endlich die Wiederaufnahme der Bahnstrecke in Angriff nehmen. Dass das alles gut klappt und Hand in Hand passiert, dafür will Siemens mit technologischem Know-how bürgen. Die Baustelle erhält einen digitalen Zwilling im Netz, an dem Planung und Baufortschritt - „State-of -the-Art“ - kontrolliert und nachvollzogen werden können. Damit kann Siemens sich als fortschrittlicher und für die Zukunft bestens aufgestellter Konzern präsentieren. Als „hybriden Stadtteil“ preist die Öffentlichkeitsarbeit das Vorhaben an. „Intelligente Technologien und erneuerbare Energien machen das Areal im Betrieb CO₂-neutral und besonders energieeffizient“, heißt es.
Autoarm soll das Viertel werden, Fußgänger und Radfahrende haben Vorrang. Mutig, so weit weg von der City. Man kann nur hoffen, dass das Mobilitäts-Konzept mit der Siemensbahn aufgeht und die Anbindung rechtzeitig fertig wird. Benjamin Melcher, Head of Development & Projects Siemensstadt Square. gibt sich unbeirrt und träumt von einem „Berliner Zukunftsort“. 600 Millionen Euro soll Melcher „jottwehdeh“ bei Spandau verbuddeln. schon jetzt ist klar, dass diese Zahlen utopisch sind und in keiner Korrellation zu den galoppierenden Baupreisen bzw. optimistischen Flächenangaben stehen.
Den Hochbau-Wettbewerb konnte das Büros Robertneun aus Berlin für sich entscheiden. „Der Entwurf ist sehr intelligent, bedient sich einer neuen, zukunftsweisenden Architektursprache und liefert ein überzeugendes Nachhaltigkeits-Konzept. All das bietet auch für die weiteren geplanten Gebäude auf dem Areal großes Potential. Mit dem Siegerentwurf geben wir der Siemensstadt ein neues Gesicht", sagt der General Manager des Projekts, Stefan Kögl. Hingucker soll ein 60 Meter hohes Hochhaus werden. Zeitgemäß sollen eine besonders nachhaltige Holzhybrid-Bauweise, begrünte Dächer und ein schlüssiges ökologisches Gesamtkonzept überzeugen. Im Siemens-Metaversum macht das alles schon viel her. Mal sehen, wie die Neubauten in der Realität ausfallen.