Die USA haben mit Julian Assange und seinem tragischen Fall ein Exempel statuiert - und das in einer Zeit, in der kritische Berichterstattung weltweit immer stärker unter Beschuss steht. Zumindest kann Assange am 3. Juli seinen 53. Geburtstag in Freiheit verbringen. Warum der Freilassungsdeal trotzdem einen schalen Beigeschmack hinterlässt ...
Deal: Julian Assange hat sich „schuldig“ bekannt
Die Geschichte des Investigativjournalisten und Wikileaks-Gründers Assange dürfte hinlänglich bekannt sein: Insgesamt 1.901 Tage saß er in Londoner Haft und wehrte sich gegen eine Auslieferung an die USA. Nun ist er frei: Julian Assange bekannte sich vor einem US-Gericht in Saipan im Zusammenhang mit Spionagevorwürfen in einem Anklagepunkt schuldig und beendete so einen jahrelangen Rechtsstreit.
Nach der Anhörung auf den Nördlichen Marianen, eine US-Inselgruppe im Westpazifik, muss er keine weitere Haftstrafe antreten, da er bereits fünf Jahre im Londoner Gefängnis abgesessen hatte. Die zuständige Richterin Ramona Manglona sagte nach Angaben der anwesenden Reporter, Assange könne „den Gerichtssaal als freier Mann verlassen“.
Zwischen April 2019 und Juli 2024 saß Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London. In der Zeit macht seine langjährige Partnerin Stella, die er 2022 hinter Gefängnismauern heiratete, immer wieder auf seinen psychisch und physisch kritischen Gesundheitszustand aufmerksam. Das Paar hat zwei Kinder.
Mitte April hatte US-Präsident Joe Biden erstmals den Verzicht auf eine Auslieferung an die USA angedeutet.
USA wollten Assange wegen „Hochverrats“ einsperren
Die USA werfen dem ehemaligen Betreiber der Enthüllungsplattform Wikileaks vor, geheime Dokumente zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan, im Irak und weiteren Ländern sowie Hacking-Werkzeuge des US-Geheimdienstes CIA unrechtmäßig veröffentlicht zu haben. Geheimnisverrat lautete der Vorwurf. Nach dem US-Spionagegesetz (Espionage Act) drohte Assange deshalb eine 175-jährige Freiheitsstrafe.
Um die Auslieferung von Assange wurde über Jahre gerungen. Eine britische Bezirksrichterin hatte der Auslieferung zuletzt im Mai 2021 aufgrund von psychischen Gesundheitsgefahren widersprochen. Assange würde voraussichtlich die US-Haftbedingungen nicht überstehen und sei daher als suizidgefährdet einzustufen.
Die US-Verfolgungsbehörden legten gegen diese Entscheidung Berufung ein, versprachen, Assange nicht im schlimmsten Hochsicherheitsgefängnis unterzubringen, und gewannen im Dezember 2021. Der Londoner High Court gab dem Auslieferungsansinnen statt; im Juni 2022 unterzeichnete die ehemalige britische Innenministerin Priti Patel den Auslieferungsbefehl.
Begonnen hatte diese letzte Auslieferungsschlacht bereits im April 2019. Bis dahin hatte Assange Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London erhalten. Mehr als sechs Jahre blieb die ecuadorianische Regierung trotz wachsenden Druckes aus den USA standhaft, bis sie letztendlich nachgab. Assange wurde in der Botschaft verhaftet.
Wie alles begann: Assange wird Vergewaltigung vorgeworfen
Der April 2019 markiert zwar den Beginn der gerichtlichen Auslieferungsodyssee, nicht aber den Beginn des Leidensweges des Australiers. Dieser begann im August 2010 mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen eines „minderen Falles von Vergewaltigung“ durch die Staatsanwaltschaft im schwedischen Stockholm. Zwei Frauen hatten Assange sexuelle Vergehen vorgeworfen. Das Verfahren wurde inzwischen eingestellt.
Julian Assange: Wikileaks-Enthüllungen
Im Jahr 2006 gründete Assange die Enthüllungsplattform Wikileaks, gemeinsam mit chinesischen Dissidenten, Hackern aus den USA und Europa sowie Informatikern aus Australien und Südafrika. Den ersten international viel beachteten Coup landete Wikileaks 2008 mit der Veröffentlichung von 200 Seiten Material über eine spezielle Gruppe in der Scientology‐Sekte, die unter dem Namen „Office of Special Affairs“.
Ab März 2010 veröffentlichte Wikileaks geheime Militärdokumente und Videos zu den internationalen Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan, die die Whistleblowerin Chelsea Manning besorgt hatte. Dies deckte neben sehr viel Belanglosem auch Völkerrechtsverletzungen amerikanischer Truppen auf. Unvergessen bleibt das Video aus einem amerikanischen Kampfhelikopter, das die brutale Erschießung von Zivilisten in Bagdad zeigte.
Die Veröffentlichungen zogen Proteste und diplomatische Verwicklungen nach sich. Für Kritik sorgte vor allem die unzureichende Bearbeitung des Materials. So wurden keine Namen in den diplomatischen Depeschen geschwärzt, die betroffenen Regierungen konnten also die Namen von Informanten der amerikanischen Botschaften enttarnen.
Die US-Regierung erklärte damals, Assanges Handlungen seien über die eines Journalisten hinausgegangen. Er habe geheime Regierungsdokumente veröffentlicht und damit Menschenleben gefährdet. Anhänger Assanges sehen in ihm hingegen einen von der US-Verfassung geschützten Journalisten, der Fehlverhalten des US-Militärs im Irak und in Afghanistan enthüllt habe.
Freilassungsdeal kein Befreiungsschlag
Als Journalistin sehe ich den Freilassungsdeal zwischen Assange und der US-Justiz mit gemischten Gefühlen. Für Assange war es der einzige Ausweg aus seiner jahrelangen Odyssee. Doch sein Teilschuldeingeständnis hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Und warum wurde der Deal gerade jetzt möglich? Welche Rolle spielt dabei US-Präsident Joe Biden? Stecken wahltaktische Gründe dahinter?
Die Verurteilung durch die US-Regierung zu einer 175-jährigen Freiheitsstrafe steht in keinem Verhältnis zum beruflichen Background Assanges: Er ist Journalist und kein Agent eines anderen Staates. Gerade mit der Veröffentlichung des Helikoptervideos deckte Assange problematische Verhältnisse in der US-Armee auf. Durch seinen Mut wurden die unzureichenden Strukturen und die Fehler in der Befehlskette des amerikanischen Militärs aufgedeckt.
Dennoch bleibt die Frage: Hat mit dem Urteil die Wahrheit gesiegt? Die Pressefreiheit ganz sicherlich nicht. Die Moral sicher auch nicht. Es bleibt eine nüchterne Frage: Wie beeinflussbar sind Medien und wer sind die größten Nutznießer?
Whistleblower sind keine Verbrecher
Sicher ist es immer eine Gratwanderung, wie man als Journalist mit der Veröffentlichung von geheimen Informationen umgeht und vor allem mit dem Einfluss von Regierenden. Assanges Enthüllungsplattform „WikiLeaks“ und die geleakten Panama Papers haben 2006 eine Tür aufgestoßen: Transparenz übertrumpft Geheimhaltung und verbessert die Gesellschaft, lässt sich Assanges Denken zusammenfassen. Die Tür ist jetzt zu. Wer sind die Profiteure? Mit „WikiLeaks“ hatte sich der Whistleblower vor seiner Verhaftung als ernstzunehmende Konkurrenz zu den etablierten Medien in Stellung gebracht.
Ein ähnliches Schicksal erfuhr auch der amerikanische NSA-Whistleblower Edward Snowden. Er lebt seit 11 Jahren mit seiner Familie in Moskau. Dorthin ist er geflüchtet, um sich einer Auslieferung an die US-Justiz zu entziehen, die ihm ein Gerichtsverfahren wegen seiner Enthüllungen über die weltweite Überwachung des Telefon- und Internetverkehrs durch die NSA (National Security Agency) androht.
Sind Edward Snowden und Julian Assange nun zwei Kriminelle, die schwere Gesetzesbrüche begangen und dem amerikanischen Staat gewaltigen Schaden zugefügt haben? Für mich sind Whistleblower in einer glaubhaften Demokratie keine Verbrecher. Letztendlich haben Assange und Snowden brisante Praktiken und Eingriffe von staatlichen Stellen an die Öffentlichkeit gebracht, die ohne nachvollziehbare legislative Kontrolle über längere Zeiträume hinweg nicht vereinbar sind.
Was bleibt? Julian Assange hat die Medien verändert. Seine Chuzpe etablierte einen neuen Investigativjournalismus und inspirierte auch die etablierten Medien. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland oder der Rechercheverbund NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung hätten ohne einen Julian Assange sicherlich nicht das Licht der Medienwelt erblickt.