Wirtschaft

Leises Industriesterben: Droht eine Deindustrialisierung?

Alarmierende Zahlen: Alle drei Minuten schließt ein Unternehmen! Lesen Sie, welche Branchen am stärksten betroffen sind und was das für die Zukunft der deutschen Industrie bedeutet. Und wie ernst ist die Lage überhaupt?
13.07.2024 11:06
Aktualisiert: 13.07.2024 12:00
Lesezeit: 3 min
Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Jüngste Untersuchungen des ZEW - Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und Creditreform zeigen ein „leises Industriesterben“, das oft in den Insolvenzzahlen verborgen bleibt. Diese Schließungswelle betrifft nicht nur den Einzelhandel und Dienstleistungen, sondern auch die Bau- und verarbeitende Industrie. Die Zahlen des ZEW verdeutlichen, dass dieser negative Trend nicht nur weitergeht, sondern in einigen Bereichen sogar schneller wird.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, erklärte gegenüber Focus: „Die Zahl der Unternehmensschließungen nimmt zu. Der größte Teil dieser Schließungen beruht darauf, dass viele kleine Unternehmen nicht mehr profitabel sind oder ihnen die Arbeitskräfte fehlen.“ Er betont, dass es sich hierbei nicht nur um Industrieunternehmen handelt, sondern vor allem um zahlreiche kleine Betriebe in diversen Dienstleistungsbranchen.

Schockierende Zahlen: 176.000 Unternehmensschließungen im Jahr 2023!

Alle drei Minuten schließt ein Unternehmen in Deutschland – ein alarmierendes Zeichen. Im Jahr 2023 mussten etwa 176.000 Unternehmen schließen – ein Anstieg von 2,3-Prozent gegenüber 2022. Rund 37.000 Handelsunternehmen gaben den Betrieb auf. Noch schlimmer ist es bei den Dienstleistungen: Hier mussten 2023 etwa 51.000 Betriebe schließen. Als Folge prägen vielerorts verlassene Werkstätten, geschlossene Läden und stillgelegte Produktionsstätten das Stadtbild. Besonders beunruhigend: Die meisten Schließungen blieben unbemerkt, da nur 11-Prozent Insolvenzen waren.

Auch Bau- und verarbeitende Industrie verzeichnen deutliche Zuwächse: 2023 stiegen die Schließungen im Baugewerbe um 2,4-Prozent auf 20.000 und in der verarbeitenden Industrie um 8,7-Prozent auf 11.000 – der höchste Stand seit 2004. Chemie-, Pharmaindustrie, Maschinenbau und technologieintensive Dienstleistungen sind ebenfalls betroffen. In forschungsintensiven Branchen nahmen die Schließungen sogar um 12,3-Prozent zu, während Neugründungen stagnieren. „Wenn der Bestand nicht nachwächst, steigt die Zahl der Schließungen überproportional“, berichtet Dr. Sandra Gottschalk, Wissenschaftlerin im ZEW-Forschungsbereich.

Selbst Traditionsunternehmen entscheiden sich zur Aufgabe!

Selbst etablierte Unternehmen können den aktuellen Herausforderungen nicht mehr standhalten. Ein Beispiel ist die Schließung der Traditionsbäckerei „Bäcker Kruse“ in Niedersachsen, die nach über 60 Jahren ihren Betrieb einstellen musste. Trotz stabiler Nachfrage und treuer Kundschaft zwangen die drastisch gestiegenen Energiepreise den Betrieb zur Aufgabe. Die Inhaber berichteten, dass die Energiekosten im vergangenen Jahr um etwa 40-Prozent gestiegen seien, was die wirtschaftliche Basis des Unternehmens erheblich beeinträchtigte und eine Weiterführung des Geschäfts unmöglich machte.

Gefährliche Mischung aus Kosten, Lieferketten und Fachkräftemangel bedroht deutsche Industrie

Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, betont, dass die Industrieproduktion schon seit 2018 stetig zurückgeht. Hauptursachen seien hohe Energiepreise, unterbrochene Lieferketten und Unsicherheiten im internationalen Handel. Auch Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, kritisiert besonders die aktuelle Energiepolitik. Viele Unternehmen verlassen Deutschland nicht, weil sie unwirtschaftlich sind, sondern weil die hohen Energiepreise sie ins Ausland treiben. Diese Entwicklung schwächt die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft der deutschen Wirtschaft erheblich. Ohne neue Unternehmen mit frischen Ideen könnte die Innovationskraft langfristig verloren gehen.

Steht Deutschland vor einer schleichenden Deindustrialisierung? Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform, erklärt, dass derzeit vor allem die Schwierigkeiten bei bekannten und großen Unternehmen die Diskussion um eine mögliche Deindustrialisierung Deutschlands prägen. Besonders besorgniserregend sei jedoch das stille Verschwinden zahlreicher kleiner und hochspezialisierter Betriebe. Faktoren wie hohe Energie- und Investitionskosten, unterbrochene Lieferketten, Fachkräftemangel und politische Unsicherheiten stellen laut Hantzsch eine gefährliche Mischung für die Wirtschaft dar und beeinträchtigen das „Fundament der Volkswirtschaft“.

Marcel Fratzscher: Kein Grund zur Panik – Wirtschaftliche Transformation statt Deindustrialisierung

Marcel Fratzscher hingegen betont gegenüber Focus, dass die Zahl der Unternehmensschließungen historisch gesehen nicht alarmierend hoch ist. Diese Schließungen seien eher das Ergebnis einer schwächelnden Konjunktur und ließen keine Deindustrialisierung erkennen. Dass einige Industriebranchen schrumpfen, sei ein wiederkehrendes Phänomen und nicht unbedingt besorgniserregend.

Fratzscher erwartet in den nächsten Jahren sogar mehr Schließungen. „Wirtschaftliche Transformation bedeutet, dass einige Unternehmen schließen, damit neue entstehen und sich entwickeln können.“ Die entscheidende Frage sei, ob neue Unternehmen hochwertige Arbeitsplätze schaffen und Deutschland als Wirtschaftsstandort stärken. Die Verlagerung energieintensiver Produktion ins Ausland könnte notwendig sein, um gute Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern.

Hoffnung und Handlungsbedarf: Wie Deutschland seine Industrie retten kann

Obwohl die Zahl der Unternehmensschließungen derzeit noch kein klares Anzeichen für eine Deindustrialisierung darstellt, sind die zunehmenden Schließungen alarmierend - gleichwohl nicht alle Branchen betroffen waren. „In Branchen wie der Möbelherstellung oder der Produktion von Spielwaren und Sportgeräten verzeichnen wir sogar sinkende Schließungszahlen“, berichtet ZEW-Forscherin Dr. Sandra Gottschalk. Dies macht zumindest teilweise Hoffnung und zeigt, dass es auch positive Entwicklungen gibt.

Um dem negativen Trend entgegenzuwirken, sind strukturelle Reformen und gezielte politische Maßnahmen erforderlich. Die Reduzierung von Bürokratie, eine Anpassung der Energiepolitik und die Förderung von Forschung und Entwicklung sind essenziell, um langfristig Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, die Neugründungen und Innovationen erleichtern und die Grundlage für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung schaffen. Es bleibt abzuwarten, ob die notwendigen Schritte unternommen werden, um den Industriestandort Deutschland zu sichern.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt

 

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Finanzen
Finanzen Die Börse akzeptiert kein Chaos: Warum Trump zur Randnotiz wird
24.08.2025

Donald Trump kann mit seinen Zollfantasien für Schlagzeilen sorgen – doch die Börse hat genug vom Chaos. Während Märkte den...

DWN
Politik
Politik Asylindustrie in Deutschland: linksgrüne NGO's gegen verschärfte Migrationspolitik
24.08.2025

293 Wohlfahrtsverbände haben sich gegen geplante Verschärfungen in der Migrationspolitik gewandt. Sie lehnen nach wie vor...

DWN
Finanzen
Finanzen Deutsche Goldreserven: Hoher Goldpreis, explodierende Staatsschulden – sollte die Bundesbank Gold zu Geld machen?
24.08.2025

Rekordschulden, Rekordausgaben: Der Bundeshaushalt steuert unter der schwarz-roten Regierung bis 2029 auf ein 850 Milliarden Euro schweres...

DWN
Technologie
Technologie Gehirnimplantate: OpenAI-Gründer Sam Altman fordert Elon Musk im Neurotech-Wettlauf heraus
24.08.2025

Vom Gedanken aus eine E-Mail schreiben oder ein 3D-Modell entwerfen – was vor wenigen Jahren noch Science-Fiction war, wird Realität....

DWN
Technologie
Technologie Nukleare Transmutation: Atommüll für die Energiegewinnung – Lösung für die Energiewende?
24.08.2025

Hochradioaktiver Atommüll bleibt über Jahrtausende gefährlich – und bringt die Atommüll-Endlagersuche an ihre Grenzen. Doch ein...

DWN
Immobilien
Immobilien Vergesellschaftungsrahmengesetz für Immobilien: Ist der Eigentumsschutz in Gefahr?
24.08.2025

In Berlin zeichnet sich ein Gesetz ab, das den Zugriff auf Immobilien und Unternehmen massiv erleichtern würde. Das sogenannte...

DWN
Technologie
Technologie KI-Frühwarnsystem: Hoffnung für hitzegestresste Apfelplantagen
24.08.2025

Sonnenbrand gefährdet die Apfelernte und stellt Obstbauern vor wachsende Herausforderungen. Steigende Temperaturen verschärfen das...

DWN
Technologie
Technologie Gelingt es diesmal? Musk-Rakete Starship vor wichtigem Test
24.08.2025

Elon Musks Mega-Projekt steht erneut vor einem entscheidenden Test: Die Musk-Rakete Starship soll ihren zehnten Flug antreten. Gelingt...