Politik

Große Debatte: Soll das Bürgergeld durch die Grundsicherung ersetzt werden?

Soziale Hängematte, verkapptes Grundeinkommen und Schwarzarbeit: Ist das Bürgergeld wirklich ein Desaster für Deutschland? Die Union fordert die Rückkehr zur Grundsicherung, während Gegner einen „populistischen Zungenschlag“ vermuten. Erfahren Sie mehr über die kontrovers diskutierten Ansichten und geplanten Reformen.
28.07.2024 08:31
Aktualisiert: 28.07.2024 16:03
Lesezeit: 3 min
Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

„Ich bin stolz darauf, dass wir einen Sozialstaat haben, der Menschen unterstützt, wenn sie in Schwierigkeiten geraten“, erklärt Andreas Audretsch (Bündnis 90/Die Grünen). Doch das einst gefeierte Bürgergeld gerät zunehmend in die Kritik. Viele sehen darin Fehlanreize, die Menschen eher in die Sozialhilfe treiben, anstatt sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Kritiker monieren, dass das Bürgergeld legale Arbeit unattraktiv mache und Schwarzarbeit begünstige.

Berichte der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft (BDZ) untermauern diese Bedenken. Es wurden zahlreiche Fälle aufgedeckt, in denen Bürgergeldempfänger ihr Einkommen durch nicht gemeldete Arbeit oder gefälschte Arbeitsverträge aufbesserten. Auch kriminelle Netzwerke, die die Regelungen des Bürgergeldes systematisch umgehen, verursachen erheblichen gesellschaftlichen Schaden. Die Jobcenter beklagen den hohen bürokratischen Aufwand und die geringe Effektivität des Systems.

Rückkehr zur Grundsicherung: Effektivere Hilfe & Entlastung des Arbeitsmarktes?

In einer von der Union beantragten Aktuellen Stunde im Bundestag mit dem Titel „Lehre aus der Europawahl ziehen – Neue Grundsicherung statt Bürgergeld“ wurde diskutiert, ob eine Rückkehr zur traditionellen Grundsicherung effektivere Unterstützung für Bedürftige und eine stärkere Arbeitsmotivation bieten könnte.

Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) betont, dass durch eine neue Grundsicherung, wie von der Union befürwortet, nur wirklich Bedürftige, wie Erwerbsgeminderte, Unterstützung erhalten sollen. Arbeitsfähige sollten hingegen arbeiten. Seit der Einführung des Bürgergeldes sei die Zahl der Empfänger um 200.000 gestiegen. Dies sei besonders besorgniserregend angesichts des Arbeitskräftemangels in Branchen wie Hotelgewerbe, Logistik, Gastronomie und Einzelhandel. Das Prinzip des „Förderns und Forderns“ sei weitgehend aufgegeben worden, da der neue Kooperationsplan im Bürgergeld unverbindlich sei.

Linnemann kritisiert zudem das Job-Turbo-Programm zur Integration von Flüchtlingen als ineffektiv. Beispielsweise habe keine Person aus diesem Programm eine Stelle im Gebäudereinigungsbereich erhalten, obwohl dort fast hunderttausend Stellen unbesetzt seien.

AfD: Bürgergeld ist eine Katastrophe

Die AfD bezeichnet das Bürgergeld als Katastrophe. Die Partei plädiert für ihr Konzept einer „aktivierenden Grundsicherung“, um Menschen zur Arbeit zu motivieren und nur diejenigen zu unterstützen, die sich selbst nicht helfen können. Laut Norbert Kleinwächter (AfD) setze das derzeitige Bürgergeld insbesondere Anreize für Migranten, „die gar keine Bürger sind“.

FDP: Selbstkritisch und bereit für Anpassungen

Die FDP zeigt sich selbstkritisch und ist bereit, Anpassungen vorzunehmen. Es lässt seine Fraktion nicht unberührt, dass statistisch erwiesen sei, „dass 6-Prozent weniger Menschen in Arbeit vermittelt werden“, sagte Jens Teutrine (FDP). Es sei wichtig, dass Menschen von ihrem eigenen Gehalt leben und nicht von Sozialleistungen abhängig sind. Teutrine fordert ein „Fairness-Update“, um sicherzustellen, dass sich Arbeit lohnt. Zudem spricht er sich für steuerliche Anpassungen zur Inflationsbekämpfung und frühzeitige Sanktionen bei Jobablehnungen aus.

Instrumentalisierung der Debatte? Warnung vor Populismus

Annika Klose (SPD) sieht im Bürgergeld eine Möglichkeit zur beruflichen Weiterbildung und Qualifizierung und hebt hervor, dass das Bürgergeld nicht mit einem bedingungslosen Grundeinkommen verwechselt werden dürfe. Ein Missbrauch von Sozialleistungen sei laut Experten nicht nachweisbar. Sie wirft der Union vor, „Menschen, die wenig haben, gegen Menschen, die gar nichts haben auszuspielen“ und warnt vor einer populistischen Instrumentalisierung der Debatte, die rechte Kräfte stärke. Auch Janine Wissler (Die Linke) kritisiert, dass durch das Ausspielen der Menschen Rechtsaußenkräfte gestärkt werden.

Alexander Ulrich (Gruppe BSW) wirft der Union vor, den Sozialstaat zerstören zu wollen. Das eigentliche Problem sei nicht das Bürgergeld, sondern die zunehmende „Deindustrialisierung der Bundesregierung“, die Angst unter Arbeitnehmern verbreite. Statt das Bürgergeld zu kürzen, fordert Ulrich die Aufhebung der Schuldenbremse für wichtige Investitionen. Andreas Audretsch (Bündnis 90/Die Grünen) betonte den Wert des Sozialstaats. Er argumentierte, dass Deutschland anständige Löhne brauche und verwies darauf, dass die CDU beim Parteitag eine Mindestlohnreform auf 14 Euro forderte – genau wie die Grünen. Audretsch fragte, ob die Union wirklich vernünftige Löhne wolle oder nur Unfrieden stifte.

Wachstumsinitiative: Ein Versuch zur Korrektur des Bürgergeldes

Gibt es Versuche, das Bürgergeld zu korrigieren und die bestehenden Probleme zu beheben? Scheinbar ja. Am 17.06.2024 beschloss die Bundesregierung eine Wachstumsinitiative, um das Bürgergeld zielgerichteter auszugestalten. Geplante Maßnahmen umfassen längere zumutbare Pendelzeiten und eine erweiterte Stellensuche durch die Jobcenter. Ablehnung zumutbarer Arbeit führt zu verschärften Sanktionen. Verdachtsfälle von Schwarzarbeit sollen an die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls gemeldet werden. Eine Prämie für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung soll den Arbeitsmarkteinstieg fördern. Zudem werden die Karenzzeit beim Schonvermögen verkürzt und die Freibeträge angepasst. Ein-Euro-Jobs sollen verstärkt als Aktivierungsmaßnahme dienen.

Diese Maßnahmen zeigen, dass die Bundesregierung bestrebt ist, das Bürgergeld zu verbessern und die Fehlanreize zu beseitigen. Denn nur mit der „Populismus-Keule“ zu schwingen, reicht in der Diskussion um das Bürgergeld nicht aus. Auch wenn die Frage, ob das Bürgergeld gescheitert ist, unterschiedlich beantwortet wird, steht fest: Das System muss in einigen Punkten überarbeitet werden. Ob die neuen Maßnahmen den gewünschten Erfolg bringen, bleibt abzuwarten. Sollten die beabsichtigten Anpassungen nicht ausreichen, könnte die Rückkehr zur Grundsicherung als letztes Mittel in Betracht gezogen werden.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Elektromobilität stärken: Bundesregierung plant Verlängerung der Steuerbefreiung für Elektrofahrzeuge
08.10.2025

Die deutsche Automobilindustrie steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Steigende Anforderungen an Klimaschutz, die Transformation hin zur...

DWN
Politik
Politik Von der Leyen wirft Russland hybriden Krieg gegen EU vor
08.10.2025

Plant Russland einen Angriff auf die EU? Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht schon jetzt Zeichen für einen Krieg – und...

DWN
Politik
Politik Kranken- und Rentenversicherung wird für Gutverdiener teurer
08.10.2025

Erwerbstätige mit höheren Einkommen müssen sich darauf einstellen, im kommenden Jahr mehr für die Renten- und Krankenversicherung zu...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutsche Industrieproduktion sinkt erneut deutlich - Einbruch in der Autobranche
08.10.2025

Die deutschen Unternehmen drosseln ihre Produktion stärker als erwartet. Vor allem eine Branche verbucht ein sattes Minus. Hat das...

DWN
Panorama
Panorama Deutschlandticket: Boom vorbei - weniger Fahrgäste im Nahverkehr als vor Corona
08.10.2025

Das Deutschlandticket hat viele in Busse und Bahnen gelockt, doch der Boom ist vorbei. Fahrgastverbände und Verbraucherschützer...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Vom Pflichttermin zum Strategiewerkzeug: Jahresgespräche im Wandel
08.10.2025

Was lange als lästige Pflicht galt, entwickelt sich zum strategischen Machtfaktor: Jahresgespräche sollen nicht mehr nur Protokoll...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft EU kämpft mit Umweltabgaben und Wettbewerbsdruck in der Düngemittelindustrie
08.10.2025

Die europäische Düngemittelindustrie steht unter erheblichem Druck. Hohe Produktionskosten, steigende Emissionsabgaben und der wachsende...

DWN
Finanzen
Finanzen Goldpreis klettert über 3.450 Euro: Zahl neuer Goldkäufer in Deutschland vervierfacht sich
08.10.2025

Der Goldpreis erreicht ein Rekordhoch nach dem anderen, auch in Euro, trotz ruhiger Märkte. Auch immer mehr Anleger in Deutschland...