Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Zur Zeit ist das Bürgergeld in der Diskussion. Es sei zu teuer, entziehe der Wirtschaft Arbeitskräfte und trage zum Fachkräftemangel bei. Was sagen Sie dazu?
Ulrich Schneider: Die Kosten für das sogenannte Bürgergeld sind im Bundeshaushalt 2024 mit 37,6 Mrd. Euro veranschlagt. Das sind 3 Prozent aller Sozialausgaben und nicht einmal ein Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes. Was also heißt „zu teuer“? Es ist beschämend wenig, was wir angesichts von fünfeinhalb Millionen Hilfebedürftigen für deren Existenzsicherung auszugeben bereit sind. Unter den fünf ein halb Millionen Leistungsbezieher*innen befinden sich lediglich eineinhalb Millionen Arbeitslose, sehr viele davon sind gesundheitlich eingeschränkt, ohne Qualifikation oder verfügen über nur unzureichende Sprachkenntnisse. Die Kritiker des Bürgergeldes polemisieren wider besseres Wissen gegen diese Fakten. Doch geht es ihnen darum offensichtlich auch nicht. Es geht um Stimmungsmache gegen diesen Sozialstaat.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Um, wenn jemand seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, Sanktionen und Leistungskürzungen besser durchsetzen zu können?
Ulrich Schneider: Alle wissen, dass die Zahl der sanktionierten Personen im Bürgergeldbezug denkbar klein ist. Die Sanktionsquote betrug auch vor der Pandemie und dem Sanktionsmoratorium nur etwa drei Prozent, in den meisten Fällen geht es um Meldeversäumnisse. Echte Verweigerung von Arbeitsangeboten spielt kaum eine Rolle. Auch bei dieser Debatte geht es in erster Linie um faktenfreie Stimmungsmache gegen Arbeitslose. Sie sollen als faul und der Solidarität der Gemeinschaft unwürdig dargestellt werden. Es ist schlichtes Armen- Bashing. Ich bezweifle sehr, dass Politiker wie Merz, Söder, Spahn oder Linnemann sich allzu viel Zeit nehmen, um sich mit der tatsächlichen Lebenssituation derer auseinanderzusetzen, um die es da geht, bevor sie ihre Angriffe aus das Bürgergeld starten.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was also schlagen Sie vor?
Ulrich Schneider: Die Sanktionen gehören vollständig abgeschafft. In der Praxis brauchen die Menschen echte Unterstützung, häufig auch medizinischer oder sozialarbeiterischer Art, und keine Drohungen. Wir brauchen mehr Personal in den Jobcentern und bessere Möglichkeiten, passgenaue Hilfen anbieten zu können. Die Sanktionen sind ein Überbleibsel schwarzer Pädagogik, in sehr vielem der früheren Prügelstrafe an unseren Schulen ähnlich. Auch hier haben wir lange gebraucht, bis wir begriffen, dass sie nicht nur menschenunwürdig waren, sondern dass wir sie auch gar nicht brauchten und sie sogar schadeten.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Gleichwohl bleibt das Bürgergeld ein Kostenfaktor. Lässt es sich angesichts der teuren Energiepreise, der sich beschleunigenden Deindustrialisierung und des gestiegenen Rüstungsbudgets noch stemmen? Hat Deutschland überhaupt noch ein Geschäftskonzept, um einen Sozialstaat finanzieren zu können?
Ulrich Schneider: Mit Verlaub: In nur einer Frage von den Ausgaben für das Bürgergeld über Sanktionen auf Energiepreise, einer vermeintlichen Deindustrialisierung und Rüstungsausgaben zu hüpfen, geht mir angesichts der Tatsache, dass wir nach wie vor über die drittstärkste Wirtschaftskraft auf diesem Planeten sprechen, doch etwas zu schnell. Diese Kette beflügelt meines Erachtens ein falsches Narrativ. Don’t panic.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Nun sind Sie Ihrerseits aber ganz schnell zu einer Schlussfolgerung gehüpft.
Ulrich Schneider: Okay, dann lassen Sie mich das erläutern: Das Bürgergeld und die Altersgrundsicherung sind fundamentaler Bestandteil unseres Gesellschaftsvertrags. Sie leiten sich direkt aus Artikel 1, dem Gebot der Menschenwürde, und Artikel 20 des Grundgesetzes, dem Sozialstaatsgebot, ab. Sie sollen sicherstellen, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten niemand zurückgelassen wird. Solche Investitionen in den sozialen Zusammenhalt zahlen sich – ich betone das, langfristig aus, indem sie die soziale Stabilität fördern und somit auch die wirtschaftliche Produktivität unterstützen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: In Ihrem Buch „Krise - das Versagen einer Republik“ beklagen Sie, als Folge sozialer Ungleichheit, ein Auseinanderdriften der Gesellschaft. Bedingt hier das eine das andere? Führt soziale Ungleichheit zu einem Auseinanderdriften und verstärkt dieses Auseinanderdriften wiederum die soziale Ungleichheit?
Ulrich Schneider: Es ist in der Tat so, dass der sozialen Spaltung dieser Gesellschaft das auch politische Auseinanderdriften folgt. Die Krisen der letzten Jahre - Corona, die Energiekrise infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der enorme Anstieg der Lebenshaltungskosten - haben die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich getroffen. Ärmere Haushalte waren in fast allen Belangen die Verlierer, Menschen, die ohnehin am Existenzminimum lebten, wussten nicht mehr, wie sie überhaupt noch das Ende des Monats finanziell erreichen sollen.
Abstiegsängste krochen auch in die Mittelschicht hinein. Das Gefühl sozialer Sicherheit schwand. Der Frust auf eine Politik, die keine überzeugenden, solidarischen Antworten lieferte, macht diese Menschen zur „leichten Beute“ von Rechtsradikalen und Demokratiefeinden. Ich denke, dass dieser Zusammenhang nicht zuletzt durch das Ergebnis der Europawahlen eindrucksvoll bestätigt wurde. Das beste Mittel gegen Rechtsradikale, das beste Mittel zur Stärkung unserer Demokratie ist eine gute Sozialpolitik. Das ist meine feste Überzeugung. Die Menschen brauchen Sicherheit durch Solidarität.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Führen Sie doch mal aus, was Sie konkret unter dem Begriff „Solidarität“ verstehen.
Ulrich Schneider: Mein Begriff von Solidarität erschöpft sich nicht einer Solidarität auf Gegenseitigkeit, wie sie immer wieder hochgehalten wird. „Solidarität ist keine Einbahnstraße“, „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ usw. ... Solche Sprüche waren mir immer sehr fremd. Natürlich kann Solidarität häufig nur eine Einbahnstraße sein, zu Menschen, die gar nicht in der Lage sind, etwas zurückzugeben. Meine Mutter sagte immer: „So lange ich habe, gebe ich gern“. Damit war für sie alles gesagt. Und als Christin lebte sie das auch. Barmherzigkeit prägte ihre Solidarität, kein kaltes Aufrechnen. Ohne Barmherzigkeit kann Solidarität sehr hart werden und auch ausgrenzen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie fällt Ihr Fazit zur aktuellen Politik der Ampel- Regierung aus?
Ulrich Schneider: Es ist die zerstrittene Regierung eines zerrissenen Landes.
Info zur Person: Ulrich Schneider war langjähriger Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes mit Sitz in Berlin und ist nun als freier Autor, Berater und Sozialexperte tätig. Er ist Autor verschiedener Publikationen zu den Themen Armut in Deutschland, Verantwortung des Sozialstaates und soziale Gerechtigkeit. Im Westend Verlag erschienen u.a. „Kampf um die Armut“ (2015) und „Kein Wohlstand für alle!?“ (2017).