Politik

BVMW-Studie: Bürgergeld verschärft Arbeitskräftemangel im Mittelstand

Lesezeit: 3 min
29.06.2024 08:15  Aktualisiert: 29.06.2024 08:45
Mehr als 70 Prozent der Mittelständler haben seit Einführung des Bürgergeldes Probleme, Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor zu finden, warnt der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft (BVMW). Die Forderung von Mittelstands-Chef Ahlhaus: „Arbeit muss wieder attraktiver werden.“

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Über 70 Prozent der mittelständischen Unternehmen haben seit Einführung des Bürgergeldes Probleme, Geringverdiener zu finden. Das geht aus einer aktuellen Umfrage von Der Mittelstand. BVMW hervor. Jedes Dritte der befragten Unternehmen gab demnach an, dass Mitarbeiter aufgrund des Bürgergeldes gekündigt oder Tätigkeiten gar nicht erst angetreten hätten, so der Mittelstandsverband.

BVMW-Chef Ahlhaus: „Fehlanreize belohnen Nichtstun“

„Die Umfrage macht deutlich, dass das Bürgergeld in der jetzigen Ausgestaltung eine Fehlkonstruktion ist und daher dringend reformiert werden muss“, sagt Christoph Ahlhaus, Bundesgeschäftsführer Der Mittelstand. BVMW. „Das Bürgergeld soll Bedürftige auffangen. Stattdessen setzt es Fehlanreize und belohnt Nichtstun, was in Zeiten eines akuten Arbeitskräftemangels und rund 1,7 Millionen arbeitsfähigen Bürgergeldbeziehern grotesk und weltfremd ist“, so der Mittelstandschef weiter.

Wie dramatisch die Situation für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ist, zeigt der Hilferuf einer Unternehmerin aus Nordhreinwestfalen. Im Oktober 2023 veröffentlichte Katja Voigt, Geschäftsführerin eines Feinkostladens in Unna, einen Facebook-Post, in dem sie von ihrer verzweifelten Suche nach Arbeitskräften berichtete. Es gebe zwar Interessenten, so Voigt, „aber es bewerben sich nur Leute, die schwarz arbeiten wollen, um ihre staatliche Unterstützung nicht zu verlieren“.

Die Bewerberinnen und Bewerber, so Voigt weiter, rechneten ihr vor, „wie viel sie - ohne etwas zu tun - vom Staat (also von uns allen) bekommen. Ein kleiner Nebenjob, bei dem das Geld locker sitzt und man schnell 400, 500 Euro und mehr verdient als jemand, der von Montag bis Freitag arbeiten geht“. Katja Voigts Fazit: „Die Erhöhung des Bürgergeldes ab Januar ist ein Schlag ins Gesicht für jeden Arbeitnehmer.“ Der Beitrag wurde bisher mehr als 4 Millionen Mal aufgerufen und mehr als 2.500 Mal kommentiert.

Wenn das Grundsicherungssystem verlockender ist als Arbeit

Tatsächlich lohnt es sich im aktuellen Grundsicherungssystem für viele Leistungsbezieher finanziell kaum, eine Arbeit aufzunehmen oder ihre Erwerbstätigkeit auszuweiten, wie die Studie „Ungelöste Probleme der Grundsicherung” des Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo) aus dem März 2023 zeigt. Derzeit werden beim Bürgergeld nur die ersten 100 Euro Arbeitseinkommen nicht auf staatliche Leistungen angerechnet. Von jedem zusätzlich verdienten Euro dürfen die Bezieher 30 Cent behalten.

Darüber hinaus gelten gestaffelte Freibeträge: Für Einkommen zwischen 100 und 520 Euro bleiben 20 Prozent anrechnungsfrei, bei Einkommen zwischen 520 und 1.000 Euro sind es 30 Prozent. Weitere 10 Prozent bleiben bei einem Einkommen zwischen 1.000 und 1.200 Euro (bzw. bis zu 1.500 Euro bei minderjährigen Kindern) anrechnungsfrei.

Unternehmer fordern Änderung des Bürgergeld-Systems

Angesichts dieser finanziellen Vorteile fordern viele Unternehmer eine Änderung des Systems, wie die BVMW-Umfrage zeigt. So stimmen mehr als 86 Prozent der vom BVMW Befragten der Aussage zu, dass Menschen, die arbeiten, mehr Geld bekommen sollten als Bezieher staatlicher Leistungen und sprachen sich für eine Beibehaltung des Lohnabstandsgebotes aus. „Wer jeden Morgen aufsteht und die Ärmel hochkrempelt, muss am Ende des Monats mehr Geld in der Tasche haben als jemand, der das nicht tut“, sagt BVMW-Chef Ahlhaus. „Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Arbeit muss wieder attraktiver werden – zum Beispiel durch eine Senkung von Steuern und Abgaben.“ Nur so ließe sich das Lohnabstandsgebot einhalten, so Ahlhaus.

Forderungen von Teilen der Politik und Gewerkschaften nach kräftigen Lohnerhöhungen, um Kaufkraftverluste durch die Inflation auszugleichen, erteilte Ahlhaus eine Absage: „Unternehmen sind weder für die Behebung der Fehler beim Bürgergeld noch für hohe Steuern, Sozialbeiträge und Energiekosten verantwortlich. Steigen Löhne stärker als die Produktivität, drohen bei Dienstleistungen und in der Landwirtschaft weitere Verluste und im Verarbeitenden Gewerbe noch mehr Verlagerung von Arbeitsplätzen.“

Boris Rhein: „Bürgergeld ist Brandbeschleuniger für Fachkräftemangel“

Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) sieht das Bürgergeld ebenfalls kritisch. Mit Blick auf gestiegene Zahlen bei Bürgergeld-Empfängern warnte er gegenüber der Deutschen Presse Agentur vor negativen Folgen für den Arbeitsmarkt. „Der Bürgergeld-Rekord zeigt: Das Bürgergeld ist ein Brandbeschleuniger für den Fachkräftemangel und die Arbeitsmarktkrise unserer Wirtschaft.“ Die richtige Antwort auf den Fachkräftemangel seien Anreize für Arbeit, nicht für Arbeitslosigkeit, so Chriastdemokrat Rhein.

Mit Blick auf die Beratungen für den Bundeshaushalt 2025 hat auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erneut Anpassungen beim Bürgergeld gefordert. „Die Erwartungen an das Bürgergeld haben sich angesichts der praktischen Erfahrungen nicht alle erfüllt. Deshalb muss nach meiner Überzeugung nachgearbeitet werden“, so Lindner gegenüber der Rheinischen Post. „Manche scheinen das Bürgergeld als eine Form des bedingungslosen Grundeinkommens missverstanden zu haben.“ So sei es aber nicht gemeint. Bei den Koalitionspartnern SPD und Grüne sehe Lindner eine Gesprächsbereitschaft zum Thema.

SPD plant Strafverschärfung bei Schwarzarbeit

Einem Medienbericht zufolge plant die SPD eine Verschärfung der Strafen bei Betrug durch Schwarzarbeit bei Bürgergeldempfängern. Demnach soll die staatliche Leistung gestrichen werden, wenn Bürgergeldempfängern Schwarzarbeit nachgewiesen wird. Ähnlich wie bei Sanktionen gegen sogenannte Totalverweigerer soll der Regelsatz für zwei Monate nicht gezahlt werden. Damit soll der Druck auf Bürgergeldempfänger erhöht werden, eine reguläre Arbeit aufzunehmen.

Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) lag die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit Anspruch auf Bürgergeld im Mai 2024 bei 4,021 Millionen Personen, das sind 82.000 Personen mehr als im Mai des Vorjahres. Das Bürgergeld hat im Januar 2023 das System der Grundsicherung (Hartz IV) abgelöst. Ziel der Reform war es, die Vermittlung in dauerhafte Arbeit statt in reine Helfertätigkeiten zu verbessern.


Mehr zum Thema:  

 

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin-Prognose: Kryptowährung mit neuem Rekordhoch - geht es jetzt Richtung 100.000 US-Dollar?
21.11.2024

Neues Bitcoin-Rekordhoch am Mittwoch - und am Donnerstag legt die wichtigste Kryptowährung direkt nach. Seit dem Sieg von Donald Trump bei...

DWN
Panorama
Panorama Merkel-Buch „Freiheit“: Wie die Ex-Kanzlerin ihre politischen Memoiren schönschreibt
21.11.2024

Biden geht, Trump kommt! Wer auf Scholz folgt, ist zwar noch unklar. Dafür steht das Polit-Comeback des Jahres auf der Tagesordnung: Ab...

DWN
Politik
Politik Solidaritätszuschlag: Kippt das Bundesverfassungsgericht die „Reichensteuer“? Unternehmen könnten Milliarden sparen!
21.11.2024

Den umstrittenen Solidaritätszuschlag müssen seit 2021 immer noch Besserverdiener und Unternehmen zahlen. Ob das verfassungswidrig ist,...

DWN
Finanzen
Finanzen Von Dividenden leben? So erzielen Sie ein passives Einkommen an der Börse
21.11.2024

Dividenden-ETFs schütten jedes Jahr drei bis vier Prozent der angelegten Summe aus. Wäre das auch was für Ihre Anlagestrategie?...

DWN
Politik
Politik Weltstrafgericht erlässt auch Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant - wegen Kriegsverbrechen im Gaza-Streifen
21.11.2024

Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den früheren...

DWN
Politik
Politik US-Staatsapparat: Tech-Milliardär Elon Musk setzt auf Technologie statt Personal - Unterstützung bekommt er von Trump
21.11.2024

Elon Musk soll dem künftigen US-Präsidenten Trump dabei helfen, Behördenausgaben zu kürzen und Bürokratie abzubauen. Er gibt einen...

DWN
Politik
Politik Neue EU-Kommission: Nach heftigen Streit auf „umstrittenes“ Personal geeinigt
21.11.2024

Nach erbittertem Streit haben sich die Fraktionen im EU-Parlament auf die künftige Besetzung der Europäischen Kommission geeinigt. Warum...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Wirecard-Zivilprozess: Ein Musterkläger für 8500 Aktionäre - Kommt eine Entschädigung für Aktionäre?
21.11.2024

Holen sich Wirecard-Aktionäre jetzt eine Milliarden-Entschädigung von EY? Viereinhalb Jahre nach der Wirecard-Pleite geht es vor dem...