Politik

DWN-Interview: „Gefordert ist vielmehr eine moralische Realpolitik.“

Lesezeit: 8 min
21.09.2024 14:50  Aktualisiert: 21.09.2024 15:26
Darf ein Land nationale Interessen verfolgen – oder ist das unmoralisch? Die politische Klasse in Deutschland scheint dies jedenfalls zu glauben. Mit erhobenem Zeigefinger gestaltet sie ihre Außen-, Klima- und Sanktionspolitik – bis in den eigenen Ruin. Deshalb sei es höchste Zeit für die Abkehr vom überzogenen politischen Moralismus und die Hinwendung zu einer interessengeleiteten Realpolitik – argumentiert Prof. Fritz Söllner, dessen Buch „Die Moralapostel“ kürzlich erschienen ist, im Gespräch mit den Deutschen Wirtschaftsnachrichten.
DWN-Interview: „Gefordert ist vielmehr eine moralische Realpolitik.“
Laut Prof. Dr. Fritz Söllner habe vor allem der politische Moralismus dazu geführt, dass Deutschland seine Position als Exportweltmeister eingebüßt hat. (Foto: iStock.com, bluejayphoto)
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DWN: Die Moralapostel“ heißt Ihr neues Buch. Untertitel: „Zerstörung eines Exportweltmeisters“. Das klingt, als stünde die Moral unserem wirtschaftlichen Erfolg entgegen. Doch was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Fritz Söllner: In „Die Moralapostel“ diskutiere ich die Konsequenzen des politischen Moralismus für unser Land. Als Ökonom konzentriere ich mich dabei auf die wirtschaftlichen Aspekte. Der politische Moralismus ist gewissermaßen die politische Dimension der Gesinnungsethik. Wie der Name schon sagt, kommt es dieser Ethik nur auf die Gesinnung an. Gute Absichten und moralische Überzeugungen wiegen schwerer als die Konsequenzen von politischen Maßnahmen, als deren Vor- und Nachteile. Es ist offensichtlich, dass unter diesen Umständen eine rationale, an den Interessen Deutschlands orientierte Politik nicht zustande kommen kann und dass damit unseren wirtschaftlichen, aber auch unseren politischen Interessen geschadet wird. Vor allem aufgrund dieses politischen Moralismus hat Deutschland seine Rolle als Exportweltmeister verloren – ganz abgesehen von den anderen wirtschaftlichen Schäden, die von Tag zu Tag immer schwerer werden.

DWN: Können Sie uns das anhand einiger Beispiele erläutern?

Fritz Söllner: Beispiele gibt es leider mehr als genug. Besonders bemerkenswert ist die feministische Außenpolitik. Niemand weiß so ganz genau, worum es dabei eigentlich geht, außer dass die Gleichstellung aller möglichen „marginalisierten Gruppen“ weltweit erreicht werden soll. Dass entspricht angeblich „unseren Werten“, schadet aber unseren Interessen, da das Auswärtige Amt beispielsweise nur noch „paritätisch besetzte“ Konferenzen und andere politische Veranstaltungen besuchen will. Dadurch verzichtet man zumindest teilweise darauf, außenpolitischen Einfluss auszuüben und an der weltpolitischen Willensbildung mitzuwirken.

Gravierender sind die Auswirkungen der Klimapolitik, die ohne Rücksicht auf Verluste betrieben wird. Sie erschöpft sich weitgehend in Symbolpolitik, weil sie ineffektiv ist und nur einen vernachlässigbaren Einfluss auf das Weltklima hat. Gleichzeitig ist sie extrem teuer und ineffizient, was nicht nur viele Ökonomen kritisieren, sondern auch der Bundesrechnungshof des Öfteren festgestellt hat. Wenn beispielsweise elektrische Lastenfahrräder subventioniert und dabei Vermeidungskosten von ca. 35.000 Euro pro Tonne Kohlendioxid in Kauf genommen werden, dann setzt man damit zwar ein Zeichen – aber eben dafür, dass man Willens ist, dass Geld der Steuerzahler für ganz offensichtlich sinnlose Vorhaben zu verschwenden, nur um sich moralisch überlegen zu fühlen.

Und was die Sanktionen gegen Russland angeht, so schneidet sich Deutschland damit ins eigene Fleisch. Denn die Russlandsanktionen haben nicht nur eine geringe Aussicht auf Erfolg, sondern sie sind aus deutscher Sicht aufgrund der mit ihnen verbundenen hohen Kosten für das eigene Land ökonomisch nicht rational. Selbst vom Standpunkt der weltweiten Propagierung westlicher Werte und Prinzipien haben sie versagt. Haben doch die USA und ihre Verbündeten mit der Zeit im globalen Süden nicht etwa an Zustimmung und Unterstützung gewonnen, sondern vielmehr eingebüßt – wahrscheinlich nicht zuletzt, weil die USA nur allzu gerne und allzu oft von anderen Ländern die Einhaltung moralischer Prinzipien fordern, die sie selbst missachten. So gibt es neben Russland und der Ukraine selbst einen großen Verlierer bei der gegenwärtigen Politik: Deutschland. Unser Land hat nicht nur unter seiner desaströsen Klima- und Energiepolitik zu leiden, sondern deren Probleme und Nachteile werden durch eine Sanktionspolitik noch weiter verschärft, die keine Rücksichten auf die dem eigenen Land entstehenden Kosten nimmt.

DWN: Warum fällt es gerade den Deutschen so schwer, ihre eigenen Interessen zu benennen und diese dann mit den eigenen Wertvorstellungen unter einen Hut zu bringen? Fehlt es ihnen schlicht an weltpolitischer Macht?

Fritz Söllner: Dafür gibt es mehrere Gründe. Im Hintergrund steht sicher die deutsche Geistesgeschichte, die stark durch den Idealismus geprägt ist und damit im Gegensatz zum typischen angelsächsischen Pragmatismus steht. Hinzu kommt das Schuldbewusstsein aufgrund der Verbrechen des Nationalsozialismus, welches vor allem die Vertreter der 68er-Generation nicht nur zu einer bewusst moralischen Politik motiviert hat, sondern auch dazu, alles Nationale – und damit auch die eigenen nationalen Interessen – gering zu schätzen, ja sogar zu verachten. Den Deutschen fällt es nicht deswegen schwer, ihre eigenen Interessen zu benennen und zu vertreten, weil es ihnen an weltpolitscher Macht fehlt, sondern es ist genau umgekehrt: Es fehlt ihnen an weltpolitischer Macht, weil sie nicht willens sind, ihre Interessen zu verfolgen.

DWN: Nicht nur Deutschland, die gesamte westliche Welt begründet ihre Politik gerne mit ihren Werten, allen voran von den USA. Wo liegt hier der Unterschied?

Fritz Söllner: Es ist richtig, dass vor allem die USA ihre Politik immer mit „unseren gemeinsamen Werten“ rechtfertigen. Aber sie bedienen sich der Werte und der Moral, um ihre Interessen durchzusetzen. Die amerikanische Politik folgt nämlich nicht dem Motto „Werte statt Interessen“, sondern dem Prinzip „Werte als Interessen“. Denn die USA behalten ihre eigenen Interessen stets im Auge und vertreten Werte nur, wenn sie entweder nicht in Konflikt mit diesen Interessen stehen oder diese sogar befördern. Sie sehen also, mit anderen Worten, Wertepolitik nur als Teil der Realpolitik und Werte nur als Mittel zum Zweck an.

Im Gegensatz zu dieser Instrumentalisierungsstrategie vertritt Deutschland die reine Lehre: Unsere Regierung nimmt die von ihr propagierten Werte ernst, man könnte sogar sagen: todernst, und ist bereit, dem Land und der Bevölkerung große Opfer aufzubürden, damit wir „unsere Werte“ nicht nur selbst leben, sondern ihnen auch weltweit zur Durchsetzung verhelfen. Bezeichnend ist folgender Satz der 2023 vorgestellten Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands: „Unsere Werte bilden die Grundlage unseres Gemeinwesens. Sie zu schützen und zu stärken ist oberste Aufgabe und Bestimmung des Staates.“ Damit ist eigentlich alles gesagt.

DWN: Wer also profitiert von der Durchsetzung „westlicher Werte“ in der Welt?

Fritz Söllner: Hier muss man unterscheiden zwischen der ernstgemeinten Wertepolitik Deutschlands und der Pseudo-Wertepolitik, wie sie vor allem die USA betreiben. Von ersterer profitieren alle wirtschaftlichen und politischen Konkurrenten Deutschlands in der Welt, weil Deutschland sich um seiner Werte willen sowohl ökonomisch als auch politisch selbst schwächt. Letztere dagegen wird zum Vorteil der Länder gereichen, von denen sie betrieben wird, da es dabei ja in Wirklichkeit um die Interessen jener Länder geht. Ein gutes Beispiel hierfür ist die aktuelle Russlandpolitik. Denn es ist kein Zufall, dass die USA der Hauptgewinner der aktuellen Krise sind, sondern der Tatsache geschuldet, dass einerseits die USA ihre Interessen sehr konsequent und sehr entschieden verfolgen und dabei zwar ein Lippenbekenntnis zur „Wertegemeinschaft“ ablegen, aber auf die Interessen ihrer Verbündeten im Zweifelsfall keine Rücksicht nehmen; und dass andererseits Deutschland (wie die EU insgesamt) den USA bereitwillig Gefolgschaft leistet und die so oft beschworene Wertegemeinschaft zum Leitmotiv seiner Politik macht, dem es also mit der Wertegemeinschaft, anders als den USA, tatsächlich ernst ist.

DWN: Früher galt Deutschland als „ökonomischer Riese, doch als politischer Zwerg“. Ist das Land nun auch auf dem Weg zum ökonomischen Zwerg? Wo steht Deutschland heute in der Welt - wirtschaftlich, geoökonomisch und geopolitisch?

Fritz Söllner: Um im Bild zu bleiben: Deutschland ist weiterhin ein politischer Zwerg, betreibt aber höchst erfolgreich eine ökonomische „Selbstverzwergung“, sodass in nicht allzu ferner Zukunft die ökonomische der aktuellen politischen Stellung entsprechen wird. Denn der politische Moralismus richtet enorme wirtschaftliche Schäden an, was vor allem am Beispiel der desaströsen Klima- und Energiepolitik deutlich wird, die geradewegs in die Deindustrialisierung führt. Langfristig wird es zu einer Abnahme der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft, zu einem Verlust der Position als führende Wirtschaftsmacht und zu einer Abnahme unseres Wohlstands kommen.

Gerade in der heutigen Zeit können wir uns eine solche Politik am wenigsten leisten – in einer Zeit, in der andere Länder und andere Regionen immer wettbewerbsfähiger werden und immer mehr aufholen. Damit einher wird auch ein weiterer politischer Bedeutungsverlust gehen – und zwar über den freiwilligen Verzicht auf politische Einflussnahme hinaus, der schon seit langem aus der Wertefixierung zu Lasten der nationalen Interessen resultiert. Putin hat nicht ganz unrecht, wenn er sagt, dass „die ganze Welt über deutsche Politiker lachen“ würde. Man kann das der Welt nicht verdenken – angesichts von Politikern, welche die außenpolitische Position Deutschlands vorsätzlich oder fahrlässig ruinieren, indem sie gegenüber den USA im Namen der „Wertegemeinschaft“ auf jede selbständige Politik verzichten und sich gegenüber anderen Ländern als Moralweltmeister aufspielen.

DWN: Wie ließe sich dieser Entwicklung entgegensteuern?

Fritz Söllner: Wir brauchen einen Politikwechsel – und zwar einen radikalen. Es ist das Gebot der Stunde, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu verbessern und die Wirtschaftskraft unseres Landes zu stärken – und nicht, diese dem politischen Moralismus und utopischen Ideologien zum Opfer zu bringen. Das soll nicht etwa heißen, dass Moral grundsätzlich schädlich ist und Werte immer überflüssig sind. Denn eine rein opportunistische, nur an kurzfristigen Interessen orientierte Politik ist genauso von Übel wie ein politischer Moralismus, der Tatsachen leugnet und blind für die Konsequenzen seiner Aktionen ist. Eine amoralische Realpolitik ist genauso abzulehnen wie eine moralistische Idealpolitik.

Gefordert ist vielmehr eine moralische Realpolitik. Im Rahmen einer solchen moralischen Realpolitik sind Werte und Interessen auch keine Gegensätze, sondern ergänzen sich. Einerseits können Werte und Moralprinzipien dabei helfen, die eigenen Interessen zu definieren, zwischen ihnen abzuwägen und die Mittel auszuwählen, mit denen man sie verfolgt. Andererseits erlaubt der nüchterne Blick auf die eigenen Interessen und die harte Realität auch festzustellen, welche Ideale und Prinzipien überhaupt unter den gegebenen Umständen zu verwirklichen sind.

DWN: Und was konkret raten Sie kleinen und mittelständischen Unternehmen angesichts von Bürokratie und hohen Energiepreisen?

Fritz Söllner: Kleine und mittelständische Unternehmen sind oft nicht in der Lage, das zu tun, was Großunternehmen heute häufig tun: nämlich die Produktion ganz oder zum Teil in Länder mit besseren Rahmenbedingungen zu verlegen. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als die Fahne nach dem Wind zu drehen und aus der Not eine Tugend zu machen. Konkret könnte das etwa bedeuten, einerseits so weit als möglich autark zu werden, indem man die benötigte Energie mittels Wind oder Sonne selbst erzeugt. Andererseits empfiehlt es sich, die angebotenen Subventionen und sonstigen Vergünstigungen so gut es geht auszunützen – also beispielsweise Klimaschutzverträge zur Umstellung der Produktion auf „grünen“ Wasserstoff abzuschließen oder die Einspeisevergütung für erneuerbare Energien in dem Maße in Anspruch zu nehmen, in dem Energie erzeugt wird, die man nicht selbst benötigt. Das kann dazu beitragen, dass man wirtschaftlich überlebt, sodass eine solche Vorgehensweise betriebswirtschaftlich durchaus sinnvoll sein kann. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht bleibt es aber eine Verschwendung von Ressourcen und ist deshalb unsinnig. Insofern tue ich mir schwer, tatsächlich zu einer solchen Strategie zu raten.

DWN: Wird sich Deutschland vor diesem Hintergrund neu entwerfen müssen? Oder kann es auch in Zukunft ein - wenn auch geschrumpftes - Industrieland bleiben? Und dies vielleicht auf dem Fundament aufrichtig kommunizierter Werte?

Fritz Söllner: Wenn es bei der gegenwärtigen Politik bleibt, wird sich der ökonomische Niedergang und der politische Bedeutungsverlust Deutschlands fortsetzen. Die Deindustrialisierung wird sich beschleunigen und statt des „Grünen Wirtschaftswunders“ werden wir unser blaues Wunder erleben. Denn die „Grüne Transformation“, die unsere Regierung mit so viel Eifer betreibt, wird sich, genau wie der „Große Sprung nach vorne“ von Mao als ein Sprung in den Abgrund des Wohlstandsverlustes herausstellen.

Wenn man unser Land auf dem Altar des politischen Moralismus opfern will, dann sollten die verantwortlichen Politiker, die Werte, von denen sie geleitet werden, aufrichtig kommunizieren – und sich dazu bekennen, dass sie den Niedergang Deutschlands um ihrer Werte willen sehenden Auges in Kauf nehmen. Nur dann können die Bürger eine bewusste Entscheidung treffen – zwischen dem politischen Moralismus mit all seinen Konsequenzen und einem grundlegenden politischen Wandel hin zu Real- und Interessenpolitik.

Info zur Person: Prof. Dr. Fritz Söllner, Jahrgang 1963, ist Leiter des Fachgebiets Finanzwissenschaft an der TU Ilmenau. Er war an der Universität Bayreuth als Privatdozent tätig und hat als John F. Kennedy Fellow an der Harvard University in Cambridge/USA geforscht. Seine Interessenschwerpunkte sind die Migrationspolitik, Umweltökonomie und die Geschichte des ökonomischen Denkens. Er ist Mitglied des Vereins für Socialpolitik, der Hayek-Gesellschaft und des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit. 2019 ist von ihm im Springer-Verlag das Buch „System statt Chaos: Ein Plädoyer für eine rationale Migrationspolitik“ erschienen. Im selben Verlag erschien 2021 die fünfte Auflage seines Lehrbuchs „Die Geschichte des ökonomischen Denkens“. Sein 2022 im Verlag Langen Müller erschienenes Buch trägt den Titel „Krise als Mittel zur Macht“. Sein aktuelles Buch, „Die Moralapostel“ (Langen Müller Verlag, Juni 2024), hat die werteorientierte Außenpolitik und ihre Konsequenzen für Deutschland zum Gegenstand.


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