Panorama

Dramatischer Geburtenknick: Deutschland gehen die Kinder aus, die Haustiere nicht - ein langfristiger Trend?

„Kinder nicht erwünscht“: Die Zahl der Geburten ist in Deutschland dramatisch gesunken. Der Rückgang sei deutlich stärker als nach dem Corona-Hoch erwartet wurde, analysiert das Ifo-Institut. Was ist schuld an der Unlust der Deutschen, sich zu vermehren? Krisen, Krieg und Inflation oder die fehlende kinderfreundliche Infrastruktur?
30.11.2024 15:44
Lesezeit: 4 min
Dramatischer Geburtenknick: Deutschland gehen die Kinder aus, die Haustiere nicht - ein langfristiger Trend?
Die Zahl der neugeborenen Kinder ist in Deutschland in den letzten beiden Jahren deutlich zurückgegangen. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. (Foto: dpa) Foto: Fabian Strauch

Die Deutschen schätzen das Leben mit tierischen Mitbewohnern: 2023 gab es 34,3 Millionen Haustiere! Bei 45 Prozent und somit fast die Hälfte aller Haushalte lebt mindestens ein Heimtier. Die Zahl der Geburten hingegen ging in den letzten beiden Jahren deutlich zurück, vor allem im Osten ist der Einbruch dramatisch:

Im Jahr 2023 wurden in Deutschland nur noch 693 000 Kinder geboren. Das waren 13 Prozent weniger als zwei Jahre zuvor. In Ostdeutschland brachen die Geburtenzahl im Zweijahresvergleich sogar um 17,5 Prozent ein. Diese Zahlen nennt das ifo-Institut Dresden in einer ausführlichen Analyse.

Massiver Rückgang der Geburten

Der Rückgang fiel damit viel deutlicher aus, als nach dem zwischenzeitlichen Corona-Boom zu erwarten gewesen sei. Nach den Lockdowns im ersten Corona-Jahr 2020 war die Zahl der Geburten im Folgejahr spürbar gestiegen.

Die regionalen Unterschiede erklärten sich auch dadurch, dass im Osten die Zahl der Frauen im Alter zwischen 15 und 50 Jahren stärker abgenommen habe, schreibt Ifo-Forscher Joachim Ragnitz. „Während in den westdeutschen Flächenländern sowie in den Stadtstaaten die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter zwischen 2011 und 2023 deutlich zunahm, ging sie in Ostdeutschland um annähernd zehn Prozent zurück“.

Dort verringerte sich besonders die Zahl der Frauen im Alter zwischen 27 und 36 Jahren seit 2015 stark. In dieser Altersspanne bekommen Frauen am häufigsten Kinder.

Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen

In den Geburtenzahlen spiegelt sich damit die unterschiedliche Entwicklung der Bevölkerung in der Vergangenheit wider: Im Osten waren die Geburtenzahlen nach der Wiedervereinigung zwischen 1990 und 1994 um mehr als 50 Prozent eingebrochen. Zusätzlich wanderten in den 1990er und 2000er Jahren besonders viele Frauen aus dem Osten ab. Dies schlage sich seit etwa 2015 in einer kleiner werdenden Zahl potenzieller Mütter nieder, schreibt Ragnitz. „Das Gebärverhalten, ausgedrückt durch die Geburtenrate, hat sich in den vergangenen drei Jahren massiv verändert.“ Selbst bei konstanter Geburtenrate je Frau war ein Rückgang der Geburten im Osten zu erwarten. Er falle nun aber noch deutlich stärker aus. Es muss dafür also noch weitere Gründe geben.

Bundesweiter Rückgang nach Corona

Bis 2015 war die Geburtenrate in Deutschland in allen Landesteilen gestiegen. Zuerst drehte der Trend in den ostdeutschen Flächenländern sowie in den Stadtstaaten. Jetzt sei überall ein deutlicher Rückgang zu beobachten. In Deutschland insgesamt lag die Geburtenziffer im Jahr 2023 bei noch 1,35 Kindern je Frau, nachdem sie im Jahr 2021 noch bei 1,58 Kindern je Frau lag.

In den jüngsten beiden Jahren sei die Geburtenrate deutlich stärker zurückgegangen als erwartet. 2021 hatte es als Folge der Corona-Pandemie einen Anstieg gegeben. In den folgenden beiden Jahren fielen die Geburtenrate und damit die Zahl der Geburten dann aber deutlich hinter den Vor-Corona-Trend. In Deutschland wurden seither rund 77.000 Kinder weniger geboren als erwartet.

Vor allem in der Altersgruppe der Frauen über 30 Jahren lagen die Geburten 2022 und 2023 deutlich unter dem Trendwert. Besonders weit darunter lag die Geburtenzahl in den ostdeutschen Flächenländern und hier insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen.

Wie ist dieser Einbruch zu erklären?

Nur ein Teil sei als Gegenreaktion auf das Corona-Hoch erwartbar gewesen. Frauen, die 2021 ein Kind bekommen haben, haben 2022 und 2023 im Regelfall kein weiteres Kind zur Welt gebracht. Dies gilt umso mehr als 2021 vor allem die Zahl der Geburten eines zweiten oder dritten Kindes stark gestiegen war.„Vollständig kann dies den aktuellen Geburtenrückgang nicht erklären“, schreibt Ragnitz.

In den Jahren 2021 bis 2023 zusammen seien in Deutschland 48 000 Kinder weniger zur Welt gekommen, als es zu erwarten gewesen wäre. „Eine wichtige Ursache dürften die Krisen der letzten Jahre sein, die zu einer erhöhten Verunsicherung gerade bei jüngeren Menschen beigetragen haben dürften“, schreibt Ragnitz. Hinzu komme, dass die Realeinkommen in diesen Jahren infolge der hohen Inflationsraten schrumpften. Manche Paare dürften ihren Kinderwunsch auch aus materiellen Gründen aufgeschoben haben. Dafür spreche, dass auch in vielen anderen europäischen Ländern weniger Kinder geboren wurden.

„Babyboom“ langfristig nicht zu erwarten

Ob sich die Zahlen in Zukunft wieder normalisieren, sei schwer zu prognostizieren. Aktuell sei die Zahl der jungen Frauen in Deutschland etwas gestiegen. Dies liege aber zum größten Teil am Zuzug Frauen, die vor dem Krieg in der Ukraine hier Zuflucht suchen. Sie seien meist ohne ihren Partner, aber bereits mit Kindern nach Deutschland gekommen.

Angesichts des Gesamtbildes sei es unsicher, ob die Geburtenraten mit dem Abklingen der krisenbedingten Unsicherheit wieder steigen – oder ob sich der Trend dauerhaft umkehre. Die aktuell bis Mai 2024 vorliegenden Geburtenzahlen ließen einen Wiederanstieg der Geburtenzahl jedenfalls noch nicht erkennen. „Die Politik wäre aber gut beraten, diese Entwicklungen genauer zu beobachten, auch um mögliche Fehlentscheidungen beim Ausbau von Kita-Betreuung und Schulversorgung zu vermeiden“, empfiehlt Ragnitz.

Interessant:

Hohe Geburtenzahlen gab es in Deutschland einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Babyboom erreichte 1964 mit 1,36 Millionen einen Höchststand, dem ein starker Rückgang der Geburten folgte. Im Jahr 2011 wurde mit 663 000 Neugeborenen die niedrigste Geburtenzahl seit 1946 registriert.

In Deutschland werden etwa 5 % mehr Jungen als Mädchen geboren. Bei der Geburt des ersten Kindes waren 2023 die Mütter durchschnittlich 30,3 Jahre alt und die Väter 33,2 Jahre.

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Mirell Bellmann

Mirell Bellmann schreibt als Redakteurin bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Zuvor arbeitete sie für Servus TV und den Deutschen Bundestag.

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