Politik

Fachkräfte: Indien soll die deutsche Lücke stopfen

Lesezeit: 5 min
01.11.2024 11:04  Aktualisiert: 03.11.2024 16:04
Indien hat, was Deutschland braucht: junge Menschen, die arbeiten wollen. Eine neue Fachkräftestrategie soll nun Inder nach Deutschland locken. Kann das klappen?
Fachkräfte: Indien soll die deutsche Lücke stopfen
Mit Schwung: Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) beim symbolischen Cricketspiel in Indien, wo er Fachkräfte für Deutschland anwerben will. (Foto: dpa)
Foto: Bernd von Jutrczenka

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Da finden zwei zusammen, die sich gut ergänzen: Indien mit seinem Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung. Und Deutschland mit deren Schrumpfung. Gut, die Bevölkerung hierzulande schrumpft zwar nicht drastisch, aber überaltert zunehmend. Und die deutsche Wirtschaft hat mit einem kleinen Hopser jetzt zwar alle überrascht, aber insgesamt sieht die Lage eher wenig rosig aus. Und die strategische Partnerschaft zwischen Indien und Deutschland läuft schon zwanzig Jahre. Dass jetzt Inder nach durch eine neue Fachkräftestrategie nach Deutschland gelockt werden sollten, ergibt also in vielerlei Hinsicht Sinn.

"In Indien kommen eine Million Menschen pro Monat auf den Arbeitsmarkt!"

Kürzlich begaben sich daher Bundeskanzler Olaf Scholz und das halbe Kabinett auf den indischen Subkontinent, um verschiedene Allianzen zu schmieden. Mit dabei war Arbeitsminister Hubertus Heil, der das dort sehr beliebte Spiel Cricket lernte und über den indischen Arbeitsmarkt nur staunen konnte: „In Indien kommen eine Million Menschen pro Monat auf den Arbeitsmarkt!“ Vielleicht würden von denen gerne ein paar nach Deutschland ziehen, um dort die eklatante Fachkräftelücke zu füllen? Diese klafft wie eine offene Wunde im deutschen Arbeitsmarkt, um die die Personaler händeringend stehen und nach Maßnahmen der Politik rufen. Inder könnten hier helfen. Deutschland bietet zwar wenig Sonnenstunden – und Deutsch lernen die Inder selten in der Schule, im Gegensatz zu Englisch. Dafür lockt das Land der Dichter, Denker und Ingenieure aber mit einem hohen Bedarf an Fachkräften, im Vergleich zu Indien hohen Löhnen und einer hervorragenden sozialen Infrastruktur.

Warum ausgerechnet Indien?

Aber warum Indien? Deutschland und Indien pflegen seit 20 Jahren eine strategische Partnerschaft. Indien zählt neben Brasilien und Südafrika zu den drei Ländern der G20-Staatengruppe, die sowohl zu Moskau als auch zum Westen einen guten Draht haben und ist ein wichtiger Partner im Indo-pazifischen Raum. Und dann greifen noch weitere Gründe: Zum einen die schiere Menge an Menschen dort. 1,44 Milliarden zählt die indische Bevölkerung, das sind mehr als in China mit geschätzt 1,42 Milliarden. Zum anderen sind die Inder sehr jung, besonders im Vergleich zu Deutschland: im Jahr 2023 betrug das Medianalter Indiens 28,1 Jahren im Vergleich zu Deutschland mit 45,1 Jahren. Und zum dritten gibt es dort nicht nur gut ausgebildete Fachkräfte, sondern auch arbeitswillige. Die von den höheren Löhnen in Deutschland und dem hohen Lebensstandard profitieren möchten.

Und Indien boomt: Das Land ist mittlerweile die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt – Deutschland ist die drittgrößte – und wuchs im vergangenen Jahr um beeindruckende 7,6 Prozent. Damit zählt Indien zu den zehn weltweit am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften. Sogar ein Freihandelsabkommen steht zur Diskussion. Das heißt, es läuft ganz gut in der Partnerschaft, und die Fachkräftestrategie soll diese weiter stärken, mit Vorteilen für beide Seiten. Heil sagte anlässlich seines Besuches dort: "Wir haben bewusst zum ersten Mal eine Strategie entwickelt, um an diesem großen Land zu zeigen, wie es praktisch geht, qualifizierte Einwanderung auch in größerer Zahl zu gewinnen." Wenn das funktioniere, könne das Vorgehen auch auf andere Länder übertragbar sein. "Der Zuzug indischer Fachkräfte ist schon jetzt eine Erfolgsgeschichte für unser Land, und diese schreiben wir mit über 30 Maßnahmen im Rahmen der Fachkräftestrategie fort", fuhr Heil fort.

Diese Maßnahmen beinhalten unter anderem:

  • eine bessere Vermittlung in passende Jobs,
  • mehr Unterstützung beim Spracherwerb,
  • die effizientere Anerkennung von Berufsqualifikationen,
  • moderne Verwaltungsverfahren sowie
  • eine gestärkte Willkommenskultur in Deutschland.

Besonders betroffen vom Fachkräftemangel in Deutschland sind aktuell Berufe aus dem Handwerk und im MINT-Bereich, der Produktion und Fertigung sowie im Bereich Bau und Gebäudetechnik und Lehre und Erziehung, ebenso im Gesundheitssektor, insbesondere die Alten- und Krankenpflege. Gerade der Bedarf an Altenpflegern dürfte mit zunehmender Alterung der Gesellschaft weiter steigen – die ein Grund für den Personalmangel ist, neben zahlreichen anderen Faktoren. Denn die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit, die sogenannten Babyboomer, gehen nach und nach in den Ruhestand, während deutlich weniger junge Menschen nachrücken.

84 Millionen Menschen streben auf den indischen Arbeitsmarkt

In Indien werden voraussichtlich bis zum Jahr 2030 rund 84 Millionen jüngere Arbeitskräfte auf den indischen Arbeitsmarkt streben - der diese aber nicht alle aufnehmen kann. Der Weg ins Ausland ist daher für viele Fachkräfte ein konkretes Ziel, das auch die indische Regierung fördert. "Unternehmen (...) müssen vermehrt ihre Anstrengungen in die Gewinnung und Bindung von Fachkräften intensivieren - auch aus dem Ausland", heißt es von Seiten der Regierung. "Dieser Trend wird sich in der Zukunft fortsetzen.“ In Indien hingegen sei die Lage gegenläufig: "Dort stoßen zum Teil sehr gut ausgebildete, geburtenstarke Jahrgänge auf einen Arbeitsmarkt, der nur begrenzt in der Lage ist, diese Jahrgänge aufzunehmen." Deutschland will auch das Visaverfahren für Indien bis Ende 2024 umfassend digitalisieren - künftig soll digitale, datenschutzkonforme Antragstellung und Kommunikation die Regel sein.

Inder schließen schon jetzt 20 Prozent der jährlichen Fachkräftelücke

Schon jetzt schließen Inder zumindest einen Teil der Fachkräftelücke. Diese liegt nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Deutschland im Jahresdurchschnitt bei rund 540.000 Personen. Ohne Zuwanderung aus Indien würde die Lücke um 20 Prozent größer ausfallen, denn im März dieses Jahres waren in Deutschland bereits 138.000 indische Fachkräfte beschäftigt. Viele von ihnen arbeiten in Engpassberufen – zum Beispiel in der Gesundheits- und Krankenpflege, wo aktuell knapp 17.000 Fachkräfte fehlen: Dort haben seit 2012 rund 7.500 Menschen aus Indien Anträge auf berufliche Anerkennung gestellt, die Voraussetzung ist, um in Deutschland diesen Beruf auszuüben.

Große Potenziale bietet Indien dem IW zufolge auch bei den dualen Ausbildungsberufen, da die Ausbildung in Indien ähnlich wie hierzulande sehr praxisorientiert ist. In der Kraftfahrzeugtechnik sind die indischen Anträge auf Berufsanerkennung etwa stark angestiegen: Über ein Drittel der Anträge der vergangenen zehn Jahre entfiel auf das Jahr 2023. Kfz-Mechatroniker werden dringend benötigt: Mit rund 16.300 fehlenden Fachkräften belegen sie den fünften Platz unter den Berufen mit der größten Fachkräftelücke.

„Kinder statt Inder“?

"Eines der wichtigsten Beschäftigungsfelder der in Deutschland tätigen Inderinnen und Inder ist der Dienstleistungssektor und insbesondere die Branche der Information und Kommunikation", heißt es in der Fachkräftestrategie. Hier gebe es in Deutschland einen besonderen Engpass. Tatsächlich beklagen Behörden und Firmen seit Jahren gravierende Lücken an IT-Fachkräften – was an den berühmt-berüchtigten Spruch des ehemaligen NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) erinnert, der im Jahr 2000 im Zuge des Landeswahlkampfs „Kinder statt Inder“ forderte. Damals schon sollten IT-Fachkräfte aus Indien nach Deutschland geholt werden, und auch damals schon wurde die Angst vor Überfremdung politisch genutzt – damals klauten die rechten Republikaner Rüttgers Aussagen und machten damit Wahlkampf. Heute wirbt die AfD auf Wahlplakaten mit dem Spruch „Fachkräfte machen wir selbst“ für die Produktion von mehr Biodeutschen durch mehr Sex und schürt dabei ähnliche Ressentiments. Doch mittelfristig führt kein Weg um Fachkräfte aus dem Ausland herum.

Zahl sozialversicherungspflichtig beschäftigter Inder in Deutschland hat sich verdoppelt

Angesichts der demografischen Entwicklung müsse Deutschland bis 2035 sechs Millionen Arbeits- und Fachkräfte ersetzen, sagte Heil. "Sonst wird das bei uns zur Wachstumsbremse." Die Anwerbung von qualifizierten Arbeitskräften aus Indien hat sich bereits in den vergangenen Jahren sehr positiv entwickelt. So hat sich die Zahl sozialversicherungspflichtig beschäftigter Inderinnen und Inder in Deutschland seit 2020 verdoppelt. Im Februar 2024 waren 137.000 Inderinnen und Inder in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Ihr oft hohes Qualifikationsniveau spiegelt sich in vergleichsweise hohen Gehältern wider. 3,7 Prozent der Inderinnen und Inder in Deutschland sind arbeitslos - zum Vergleich: 7,1 Prozent sind es in der Gesamtbevölkerung. 16 Prozent arbeiten auf Spezialisten- und 37 Prozent auf Expertenniveau, in der Regel nach akademischem Abschluss.

Hilfe bei den Anerkennungsprozessen bietet das BQ-Portal im Institut der deutschen Wirtschaft: Auf der Online-Plattform finden Kammern und Unternehmen Informationen zum Anerkennungsprozess und können so ausländische Berufsabschlüsse einschätzen. Das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz initiierte und vom IW betriebene Informationsportal bietet Einblicke in die Berufsbildungssysteme von 105 Ländern sowie in über 6.000 Berufsprofile, davon 270 zu indischen Berufsabschlüssen, zahlreiche im Bereich Kraftfahrzeugtechnik.

                                                                            ***

Maximilian Modler berichtet über spannende Entwicklungen aus den Bereichen Energie, Technologie - und über alles, was sonst noch für die deutsche Wirtschaft relevant ist. Er hat BWL, Soziologie und Germanistik in Freiburg, London und Göteborg studiert. Als freier Journalist war er u.a. für die Deutsche Welle, den RBB, die Stiftung Warentest, Spiegel Online und Verbraucherblick tätig.


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