Politik

Ist Amerika die nächste Sowjetunion? Ein Blick auf Parallelen und Unterschiede

Im Jahr 1987 veröffentlichte der Historiker Paul Kennedy seinen einflussreichen Bestseller Aufstieg und Fall der großen Mächte, der sich eingehend mit dem Thema imperiale Überdehnung auseinandersetzte und mit einem Blick auf die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten – die beiden damaligen Großmächte – endete. Wenige Jahre danach brach die Sowjetunion zusammen und ebnete den USA den Weg zur einzigen uneingeschränkt dominierenden Weltmacht. Angesichts der jüngsten Ereignisse ist es vielleicht an der Zeit, Kennedys Buch wieder hervorzuholen und seine Lehren aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.
Autor
avtor
08.12.2024 16:05
Lesezeit: 4 min

Dysfunktionale Politik in den USA: Ein spätsowjetisches Szenario?

Im Juli 2020, also mitten in der Pandemie, schrieb ich einen besorgten Kommentar unter dem Titel „Spätsowjetisches Amerika“. Zu diesem Zeitpunkt näherten wir uns dem Ende der ersten Amtszeit von Präsident Donald Trump, und ich befürchtete, dass die USA in einer hoffnungslos verfahrenen Situation stecken würden. Obwohl das Land über ein enormes Potenzial an Fachkräften und Energie verfügte, präsentierte sich das politische System dysfunktional. Die beiden großen Parteien suchten ihre Kandidaten auf undemokratische Weise aus (der Vorwahlprozess war über weite Strecken verkümmert), und großzügige staatliche Geldgeschenke in Form so genannter Stimulus Checks schienen die bevorzugte Methode zur Steigerung der politischen Beliebtheit geworden zu sein.

In diesem Zusammenhang machte der Wechsel von Trump zu Präsident Joe Biden kaum einen Unterschied. Amerika war zwar kein Einparteienstaat im sowjetischen Stil, aber weder innerhalb noch zwischen den Parteien herrschte ein hohes Maß an Demokratie. Die Wählerschaft fühlte sich nach wie vor übervorteilt, und hohe Ausgaben galten immer noch als Schlüssel zu Wahlerfolgen und sozialer Stabilität. Amerika schien dazu verurteilt, in einer spätsowjetischen Phase zu verharren.

Trump und Gorbatschow: Zwei Reformatoren mit radikalen Visionen

Der Zusammenbruch der Sowjetunion vollzog sich in zwei Phasen, im Rahmen derer eine erstarrte Gerontokratie den Weg für einen falsch verstandenen Versuch einer radikalen, disruptiven Reform ebnete. Als Konstantin Tschernenko 1984 Generalsekretär der Kommunistischen Partei wurde, war er bereits 72 Jahre alt. Er war dem senilen Leonid Breschnew und dem kränklichen Juri Andropow nachgefolgt, der aber selbst bereits so gebrechlich war, dass es ihm schwerfiel, bei Andropows Beerdigung die Grabrede abzulesen. Dann kam Michail Gorbatschow und versprach, die UdSSR mithilfe von Perestroika (Wirtschaftsreform) und Glasnost (Offenheit und Transparenz) von den Fesseln der alten Bürokratie zu befreien und auf diese Weise zu verjüngen. Doch die Bestrebungen, alte Denkmuster abzuschütteln, setzten Zentrifugalkräfte frei, insbesondere unterdrückte Nationalismen, die die Sowjetunion selbst bald hinwegfegten.

Heute übertragen viele Experten, insbesondere in Russland, diese Analyse des sowjetischen Zerfalls auf die USA. Prominente Persönlichkeiten vergleichen Trump mit Gorbatschow, dessen Reformen die UdSSR zerschmetterten. Trump ist zwar viel älter als Gorbatschow damals, aber auch er ist ein Insider, der sich als Außenseiter darstellt, als jemand, der das System sprengen wird.

Die Koalition von MAGA: Potenziale und innere Konflikte

Obwohl er während des Wahlkampfs mit seinem revolutionären Projekt noch hinter dem Berg hielt, lässt Trump seine Absichten nun deutlich erkennen. Wie jede erfolgreiche politische Bewegung setzte sich auch Trumps „Make America Great Again“ (MAGA) mit dem Aufbau einer Koalition durch. Menschen aus der amerikanischen Arbeiterschicht (darunter eine größere Anzahl asiatischer, hispanischer und schwarzer Wähler), denen Trumps systemkritische Botschaft gefiel, schlossen sich einflussreichen, steinreichen Technologieunternehmern an, die ihre eigenen Vorstellungen davon haben, wie das Land verändert werden sollte.

Inflation, Bürokratieabbau und ihre sozialen Folgen

Wenig überraschend zeigen sich in dieser Koalition bereits erste Anzeichen von Spannung. Das offensichtlichste Problem besteht darin, dass viele der von Trump vorgeschlagenen Maßnahmen unweigerlich zu Inflation führen werden – dem gleichen Problem, das Präsident Joe Biden zum Verhängnis wurde. Neue und höhere Zölle werden die Lebenshaltungskosten sofort ansteigen lassen, und jeder ernsthafte Versuch, 11 Millionen Einwanderer ohne Papiere aufzugreifen und abzuschieben, wird Chaos und neuen Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft, im Baugewerbe und in wichtigen Logistikzentren zur Folge haben.

Ebenso würden durch den Bürokratieabbau, wie er Elon Musk und Vivek Ramaswamy - mit der neuen Effizienzbehörde Department of Government Efficiency (DOGE) – vorschwebt, eine große Zahl von Menschen ihre Arbeit verlieren. (Diese freigesetzten Arbeitskräfte werden sich wohl kaum auf niedrig bezahlte Jobs in der Landwirtschaft stürzen.) Während die rosige Zukunft also nur ein vages Versprechen bleibt, treten die drohenden Kosten und Schmerzen bereits deutlich hervor.

Darüber hinaus träumen Vertreter des Silicon Valley davon, künstliche Intelligenz zur Steigerung der Produktivität und damit der Einkommen von weniger qualifizierten Arbeitskräften einzusetzen. Die Idee ist auf den ersten Blick nicht abwegig. Es liegen empirische Belege vor, dass KI zumindest den früheren Aufschwung in Callcentern beschleunigt hat. Produktivitätssteigerungen in anderen Bereichen, wie dem Gesundheitswesen und der Altenpflege, sind durchaus möglich. Aber weder diese revolutionäre „akzelerationistische“ Philosophie noch ihre potenziellen Anwendungen wurden in großem Maßstab erprobt. Außerdem beruht die Vision des Silicon Valley auf einer global vernetzten Welt, in der die USA die Rolle des dominierenden Akteurs spielen.

Technologie und Globalismus: Musk vs. Trump

Während Musk sich also voll und ganz für Trumps Projekt der völligen Disruption einsetzt, verbindet seine eigene Vision - paradoxerweise - Technologie mit dem „globalistischen“ Status quo. „Ein Weiter wie bisher treibt Amerika in den Bankrott“, so Musks Argument, „also brauchen wir auf die eine oder andere Weise Veränderung.“ Zu Recht lobt Musk die Schocktherapie des argentinischen Präsidenten Javier Milei, der Importzölle abschafft und die argentinische Wirtschaft öffnet, doch wir alle wissen, dass „Zoll“ Trumps Lieblingswort ist. Es bleibt abzuwarten, wie diese offensichtliche Diskrepanz aufgelöst wird.

Globale Folgen einer US-Entkopplung

Optimistischer betrachtet ist es so, dass der Abkopplungsprozess der USA allein keinen globalen Zusammenbruch des Handels im Ausmaß einer Weltwirtschaftskrise auslösen kann, da auf Amerika nur 13,5 Prozent der weltweiten Importe entfallen. Natürlich könnten andere Länder Vergeltungsmaßnahmen ergreifen oder einfach versuchen, es Trump gleichzutun. Doch je chaotischer Trump agiert, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er Nachahmer findet. Man muss sich nur die abschreckende Wirkung des Brexit auf andere Euroskeptiker ansehen oder daran denken, wie bereitwillig die meisten Sowjetnachfolgestaaten eine andere Denkweise übernommen haben.

Ein Teil der Trump-Anhänger befürwortet also den Globalismus, der andere lehnt ihn ab. Die Ironie besteht darin, dass Letztere am meisten unter den Versuchen eines Rückzugs ins Nationale leiden werden. Sollte Trumps politische Agenda umgesetzt werden, würde dies unweigerlich den Keim einer neuen Welle der Unzufriedenheit, des Protests und der Verschwörungstheorien in sich tragen.

Parallelen zur postsowjetischen Ära: Eine düstere Warnung

Genau diese Beschreibung passt auch auf die postsowjetische Erfahrung in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts. Abrupte, rasante Veränderungen führten nur zu Verwerfungen, und alle, die dadurch Schaden erlitten, schlossen sich der nächsten Gruppe Entfremdeter an. Eine ähnliche Dynamik scheint sich in den USA Bahn zu brechen. Das Russland von heute hofft jedenfalls darauf.

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Harold James

                                                                            ***

Harold James ist Professor für Geschichte und Internationale Angelegenheiten an der Princeton-Universität. Seine neueste Publikation ist: Seven Crashes: The Economic Crises That Shaped Globalization (Yale University Press, 2023).

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