Panorama

Stasi-Akten sichern: Der historische Moment der Besetzung der Stasi-Zentrale

Am 15. Januar 1990 stürmte das Volk die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg und sicherte wertvolle Stasi-Akten für die spätere Aufarbeitung der DDR-Diktatur. Ein historischer Moment der friedlichen Revolution, der bis heute eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur spielt.
14.01.2025 14:30
Lesezeit: 3 min
Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..
Stasi-Akten sichern: Der historische Moment der Besetzung der Stasi-Zentrale
Im Bild: Erich Mielkes Büro in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg. 1990 stürmten Demonstranten das Gebäude und sicherten Stasi-Akten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. (Foto: dpa) Foto: Jörg Carstensen

Das Flugblatt, das Ralf Drescher in einer Kirche fand, trug die Worte: "Wehrt euch! Geht auf die Straße!" Montag, 15. Januar 1990, 17.00 Uhr. "Da war für mich klar: Da gehst du hin", erinnert sich der Fotograf. So stand er an jenem Wintertag vor dem Stahltor der Zentrale der Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg und wurde Zeuge eines Schlüsselmoments der friedlichen Revolution in der DDR.

Von hinten drängelten Menschen, während vorne die ersten aufs Tor kletterten, Kabel von Überwachungskameras kappten und Fäuste reckten. "Stasi raus", riefen einige. "Macht das Tor auf." Die massiven Stahlflügel öffneten sich tatsächlich. Menschen strömten von der Ruschestraße auf das riesige Gelände der Stasi-Zentrale. Das Volk übernahm die Macht über den Geheimdienst – zumindest symbolisch und für einige Stunden im wilden Winter der Wende vor 35 Jahren.

"Das hatte damals eine enorm große psychologische Wirkung", sagt der Historiker Stefan Wolle, der selbst bei der Besetzung dabei war. "Das kann man gar nicht hoch genug einschätzen." Die Aktion sicherte 111 Regalkilometer Stasi-Akten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Laut Bundesarchiv war es weltweit die erste vollständige Öffnung von Geheimpolizei-Akten. Für viele bedeutete dies Genugtuung, für andere jedoch eine Zumutung. Bis heute sorgt das Erbe der Stasi für Spannungen, auch zwischen Ost und West.

"Die Regierung nimmt das Volk nicht ernst"

Nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 taumelte der von der SED dominierte Staat seinem Ende entgegen. Am Runden Tisch verhandelte die DDR-Opposition mit. Die Stasi, die mit Zehntausenden offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern Bürger überwachte, nannte sich nun Amt für Nationale Sicherheit. Ihre Auflösung war angekündigt. Doch als Ende 1989 Debatten über einen neuen "Verfassungsschutz" der DDR und die Vernichtung von Stasi-Akten entbrannten, schlugen Oppositionelle Alarm.

"Die Regierung nimmt den Runden Tisch und damit das Volk nicht ernst", steht auf einem Flugblatt der Bürgerbewegung Neues Forum, das Ralf Drescher bis heute aufbewahrt. "Die SED fühlt sich wieder mächtig, die Stasi wird 'Verfassungsschutz', in den Betrieben ist alles beim Alten." Bürgerrechtler wollten ihre Revolution nicht rückgängig machen lassen. "Damals dachte man, man lebt doch prima ohne Geheimdienst", so Drescher, damals 30 Jahre alt und bereits in Oppositionskreisen aktiv. Tausende folgten dem Aufruf zum Widerstand.

"Das war schon ein großer Akt"

Ein "psychologisches Wechselbad" erlebten die Menschen, so Historiker Wolle. "Es gab jahrelang diese ungeheure Angst vor der Stasi", erinnert er sich. "Einfach so hinzugehen, die Tore zu öffnen, zu verhandeln und sich alles zeigen zu lassen, war ein großer Akt."

Joachim Gauck, damals im Neuen Forum aktiv, später erster Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde und Bundespräsident, nannte die Besetzung ein "Element der Genugtuung". In den Stasi-Gebäuden ging einiges zu Bruch, darunter ein Friseursalon im Versorgungstrakt des Hauses 18. Flure waren mit verstreuten Dokumenten übersät. Doch viele Besetzer wussten nicht genau, was sie bewirken wollten, berichten Zeitzeugen. Nach zwei, drei Stunden zogen sie ab, und ein Bürgerkomitee übernahm die Kontrolle über die Stasi-Akten.

"Das Herrschaftswissen in die Hände der Unterdrückten"

Auch strategische Entscheidungen waren noch offen, wie Gauck 2011 erklärte: "Uns war klar: Die Akten dürfen nicht vernichtet werden. Das Herrschaftswissen sollte in die Hände der Unterdrückten." Erst nach einer weiteren Besetzung der Stasi-Räume in Lichtenberg, verbunden mit einem Hungerstreik, wurde kurz vor der deutschen Einheit entschieden, die Stasi-Akten zu erhalten und zugänglich zu machen.

Bis heute verzeichnet das Bundesarchiv über 7,5 Millionen Anträge zur Einsicht in die Stasi-Akten, darunter mehr als 3,4 Millionen Bürgeranträge. Selbst im Jahr 2024 wurden weitere 28.571 Anträge von Bürgerinnen und Bürgern gestellt – mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR.

Versöhnung und Bitterkeit

"Die Einsicht in Stasi-Akten ist gesamtgesellschaftlich eine Erfolgsgeschichte", sagt Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs. "Es war absolut richtig, die Stasi-Akten zu sichern und zu öffnen. Diese Transparenz hat Opfern geholfen und Versöhnung ermöglicht."

Neben Versöhnung gibt es aber auch Bitterkeit. Ralf Drescher fand Anfang der 1990er heraus, dass ihn sein bester Freund ausspioniert hatte – ein Schicksal, das viele teilten.

Es folgten Überprüfungen für Bewerber im öffentlichen Dienst, Enthüllungen über Politiker und Prominente sowie Diskussionen um die Herausgabe der Akten, darunter jene des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Medien aus Westdeutschland vertieften sich in einzelne Fälle.

Der Vergleich mit dem Verfassungsschutz

Ein Ost-West-Konflikt entstand, als der Westen beschuldigt wurde, die DDR auf die Stasi zu reduzieren. Heute ziehen staatskritische Demonstranten und AfD-Politiker Vergleiche zwischen der Stasi und dem Verfassungsschutz, etwa AfD-Abgeordneter Horst Förster im Sommer 2024 im Schweriner Landtag.

Diese Vergleiche empören ehemalige Bürgerrechtler und Historiker Wolle: "Der Vergleich hinkt total. Die Stasi durfte alles – Telefone abhören, Briefe ablichten, Bankkonten und Gesundheitsakten einsehen." Heute gelten strikte gesetzliche Vorgaben und Kontrolle durch alle Staatsgewalten.

Der Verfassungsschutz Thüringen nennt klare Unterschiede: Bundesweit gibt es 6.000 Verfassungsschützer, während die Stasi allein 91.000 Hauptamtliche hatte.

Akten statt Fake News

Deshalb bleiben die Stasi-Akten wichtig, betont Bundesarchiv-Chef Hollmann. "35 Jahre nach der Stürmung der Stasi-Zentrale müssen junge Menschen über die Staatssicherheit aufgeklärt werden." Diese hätten die SED-Diktatur nicht selbst erlebt. "Archive sind wichtig für die Demokratie, weil sie Fakten gegen Fake News setzen und an Unrecht erinnern."

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Siton Mining: Mining mit BTC, XRP und DOGE.Verdienen Sie 8.600 $ pro Tag an passivem Einkommen

Auf dem volatilen Kryptowährungsmarkt ist die Frage, wie sich die täglichen Renditen digitaler Währungen maximieren lassen, anstatt sie...

DWN
Finanzen
Finanzen Topmanager erwarten Trendwende bei Börsengängen
17.09.2025

Nach Jahren der Flaute sehen Topmanager eine Trendwende am Markt für Börsengänge. Warum Klarna den Wendepunkt markieren könnte und was...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Solar-Krise: Solarfirma Meyer Burger schließt Standorte - 600 Beschäftigten gekündigt
17.09.2025

Rettung geplatzt: Warum auch Investoren keinen Ausweg für den insolventen Solarmodul-Hersteller Meyer Burger sehen und was jetzt mit den...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Chinesische Waren: Europas Industrie gerät zunehmend unter Druck
17.09.2025

Chinesische Waren fluten Europa. Subventionen aus Peking drücken Preise, während Europas Industrie ins Hintertreffen gerät. Deutschland...

DWN
Politik
Politik AfD stärkste Kraft: AfD zieht in YouGov-Umfrage erstmals an der Union vorbei
17.09.2025

Die AfD zieht in der Sonntagsfrage an der Union vorbei – für die SPD geht es minimal aufwärts. Eine Partei, die bislang nicht im...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft TOP10 Biotech-Unternehmen: Was Anleger jetzt wissen müssen
17.09.2025

Biotech-Unternehmen dominieren mit GLP-1 und Onkologie – doch Zölle, Patente und Studienerfolge entscheiden über Renditen. Wer jetzt...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Halbleiterstandort Sachsen: Ansiedlung von TSMC - Silicon Saxony rechnet mit 100.000 neuen Jobs
17.09.2025

Sachsen ist Europas größter Mikroelektronik-Standort mit rund 3.600 Unternehmen und rund 83.000 Mitarbeitern. Auf der Halbleitermesse...

DWN
Politik
Politik Haushaltsdebatte im Bundestag: Erst Schlagabtausch, dann Bratwürste für den Koalitionsfrieden
17.09.2025

Merz gegen Weidel: Zum zweiten Mal treten die beiden in einer Generaldebatte gegeneinander an. Weidel wirft Merz „Symbolpolitik“ und...

DWN
Finanzen
Finanzen Berliner Testament: Ungünstige Nebenwirkungen bei größeren Vermögen – und was sonst zu beachten ist
17.09.2025

Das Berliner Testament ist in Deutschland sehr beliebt, denn es sichert den überlebenden Ehepartner ab. Allerdings hat es auch eine Reihe...