DWN: Herr Keberle, die Schweiz gilt als Musterbeispiel für eine funktionierende Infrastruktur – zuverlässig, modern, effizient. Was macht Ihr Land anders?
Alexander Keberle: Zum einen sind wir unseren Vorfahren zu grossem Dank verpflichtet. Besonders in den 1970er und 1980er Jahren wurden Investitionen getätigt für Infrastrukturen, die aus damaliger Sicht wohl überdimensioniert waren. Jetzt, mit einer deutlich bevölkerungsreicheren Schweiz, sind wir in einer komfortablen Situation. Zum anderen hat die Schweiz bemerkenswerte Kontinuität im Ausbau der Infrastrukturen gezeigt. Der Bahnverkehr ist hier ein gutes Beispiel. Sicher geholfen hat hier auch eine gut laufende Wirtschaft – diese generiert Mittel und schafft Spielräume.
Aber wir dürfen auch nicht selbstgefällig werden. Zurzeit bekundet die Schweiz Mühe, ihre Infrastruktur zu modernisieren und weiter auszubauen. Das „Nein“ des Volkes zum Ausbau der Autobahnen war ein Weckruf. Der Konsens, dass Investitionen etwas Gutes sind, wackelt. Und jetzt, wo auch unser Staatshaushalt in Defizite zu rutschen droht, sitzt die Geldbörse – oder wie wir sagen: „das Portemonnaie“ – nicht mehr so locker.
DWN: Wo sehen Sie Parallelen zwischen Deutschland und der Schweiz – und wo liegt der größte Unterschied?
Keberle: Die Schweiz und Deutschland sind eng verwandt. Rein kulturell, sprachlich und auch geographisch ist die Nähe gross. Ich bin beispielsweise mit Deutschem Fernsehen aufgewachsen. Doch es gibt zwei große Unterschiede: Zum einen die direkte Demokratie. Bei uns geht alles langsamer, aber steht dann auf solidem Fundament. Parlament und Regierung wissen: Alle großen Entscheide müssen vor dem Volk bestand haben. Deshalb sind die Ansprüche an einen breiten Rückhalt und eine Berücksichtigung aller Interessen von Anfang an hoch. Schnellschüsse stellen sich in unserem politischen System meist als ein Schuss in den Ofen heraus. Zum anderen haben wir ein komfortables Wohlstandsniveau. Es ist uns damit möglich, mehr Bevölkerungsgruppen zu bedienen und beispielsweise einen Ausbau da mit einem Ausbau dort zu verknüpfen. Das macht es einfacher, Rückhalt zu schaffen. Wir stehen hier allerdings vor Herausforderungen. Auch der Schweizer Staat lebt aktuell über den Verhältnissen und wir müssen den Gürtel enger schnallen – oder die Wirtschaft ankurbeln.
DWN: Aus Ihrer Schweizer Perspektive: Wie bewerten Sie den Zustand der deutschen Infrastruktur? Welche Versäumnisse fallen Ihnen auf?
Keberle: Es steht mir als Schweizer nicht zu, die Infrastruktur Deutschlands zu bewerten. Obwohl meine Frau halb Deutsche ist, habe ich auch zu wenig fundierte Kenntnisse darüber. Der durchschnittliche Schweizer merkt vor allem, dass die Züge aus Deutschland oft verspätet sind oder ganz ausfallen, was dann zu Verspätungen in unserem Zugnetz führt. Die Wirtschaft hadert immer wieder mit Ausfällen im Schienengüterverkehr. Und die schnelle Abschaltung noch voll funktionsfähiger Kernkraftwerke in Deutschland verstehen viele Menschen in der Schweiz nicht. Ich würde mir wünschen, wir hätten in der Schweiz noch ein Kernkraftwerk mehr am Netz. Aber das sind Einzelbeobachtungen.
DWN: Während wir in Deutschland seit Jahren über Investitionsstaus, marode Brücken und überlastete Netze diskutieren, hält die Schweiz ihre Infrastruktur auf Top-Niveau. Was macht sie anders?
Keberle: Ganz so rosig ist die Situation in der Schweiz auch nicht. Die Staustunden auf den Autobahnen haben sich in den letzten Jahren verdoppelt und der Ausbau wurde gerade vom Volk abgelehnt. Im Zug von Zürich nach Bern sitzt man selbst in der ersten Klasse regelmässig auf der Treppe. Wir müssen unsere Stromproduktion bis 2050 verdoppeln, aber kriegen die PS nicht wirklich auf den Boden. Letztes Jahr haben wir unser Ausbauziel um sage und schreibe 70 Prozent verfehlt. Ja, wir haben eine sehr gute Infrastruktur, aber es zeigen sich Risse. Wir leben zu sehr von der Substanz. Wir haben aber im Moment noch eher Umsetzungs- als Finanzierungsprobleme.
DWN: Bürokratie und langwierige Genehmigungsverfahren gelten in Deutschland als Innovationsbremse. Die Schweiz gilt als pragmatischer in der Umsetzung. Wie schafft Ihr Land es, Infrastrukturprojekte schneller zu realisieren? Welche Instrumente könnten für Deutschland hilfreich sein?
Keberle: Die Genehmigungsverfahren sind auch hierzulande ein großes Problem. Man scherzt bei uns: die fünfte Landessprache ist die Einsprache. Die Realisierung eines Windparks braucht hierzulande 20 Jahre – 19 für das Bewilligungsverfahren, eines für den Bau. Die Politik hat sich diesem Problem aber angenommen und berät aktuell einen „Beschleunigungserlass im Energiebereich. Aber man muss zugestehen: Deutschland ist hier besser unterwegs, zumindest im Bereich der Erneuerbaren.
Generell beobachte ich in der Schweiz den Übergang zu einer Null-Risiko-Gesellschaft, in der Ermessensspielräume – oder auf gut Deutsch: gesunder Menschenverstand – immer weniger berücksichtig werden. Was uns in der Schweiz jedoch hilft, ist der ausgeprägte Föderalismus und die Subsidiarität. Wir lösen Probleme dort, wo sie anfallen. Kürzlich hat mir ein Politiker aus einem sehr kleinen Kanton erzählt, dass große Projekte mit allen Anspruchsgruppen am Stammtisch ausdiskutiert werden, bei einem Glas Bier und heftigen Diskussionen. Wenn das Begehren dann formell eingereicht wird, wurden die kniffligsten Punkte schon aus der Welt geräumt. Aber in größeren Kantonen ist das auch nicht mehr der Fall. Auch hier hält die Bürokratie Einzug.
DWN: Deutschland braucht einen Turnaround bei der Infrastruktur. Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht entscheidend – und was ist realistisch umsetzbar? Welche Erfahrungen aus der Schweiz könnten als Vorbild dienen?
Keberle: Zuerst braucht es Mittel. Und dafür braucht es Wachstum. Deutschland war lange der Wirtschaftsmotor Europas. Wenn Deutschland diese Rolle wieder stärker spielt, sollten auch mehr Freiräume für Investitionen bestehen. Dann merken wir, dass langfristige Planungen helfen. Infrastrukturen sind Generationenaufgaben. Deshalb braucht es Ausbauprogramme, die politische Zyklen überdauern. Es schafft Kompromissbereitschaft, wenn man glaubwürdig sagen kann: Jetzt kommt Region X zum Zug, aber für Region Y haben wir auch schon vorgesorgt, die kommt dann als Nächstes dran. Zuletzt profitieren wir hierzulande von einem strikt gelebten Subsidiaritätsprinzip: Alle Entscheidungen werden auf der tiefst möglichen Ebene gefällt. Denn die sind oft näher an der Bevölkerung und agiler als die nationale Politik. Eine Möglichkeit für Deutschland wäre also, die Planung stärker «bottom up» zu gestalten.
DWN: Die Schuldenbremse der Bundesregierung setzt finanzielle Grenzen. Auch die Schweiz hat strikte fiskalische Regeln. Wie gelingt es Ihnen dennoch, eine moderne Infrastruktur zu finanzieren? Gibt es Modelle, die Deutschland übernehmen könnte?
Keberle: Ich komme immer wieder auf den gleichen Punkt zurück: Wenn mehr reinkommt, ist es einfacher, die Schuldenbremse einzuhalten. Ich denke hier nicht an kurzfristige Steuererhöhungen, denn diese haben die Tendenz, dem Staat langfristig Mittel zu entziehen, weil sie Wachstum ausbremsen und die Abwanderung von finanzstarken Unternehmen und Privatpersonen befeuern. Sondern an eine nachhaltige Steigerung des Wirtschaftswachstums. Um die Frage aber spezifischer zu beantworten: Die Schweiz hat gerade im Verkehrsbereich schon länger Investitionsfonds geschaffen, die zwar der Schuldenbremse unterstehen, aber ausserhalb des allgemeinen Haushalts stehen. So ersparen wir uns in den jährlichen Budgetrunden gröbere Verteilkämpfe.
DWN: Welche Trends werden die Infrastruktur in den nächsten Jahren prägen – und worauf sollte eine neue Bundesregierung nach der Bundestagswahl reagieren?
Keberle: Energie muss in Europa wieder zum Standortvorteil werden, es braucht also genug davon und sie muss sauber und günstig sein. Hierzulande sind wir noch halbherzig unterwegs. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass der Ersatz bestehender Kernkraftwerke in Erwägung gezogen wird. Darüber werden wir mutmasslich in den nächsten Jahren auch abstimmen: Die Regierung hat kürzlich den Vorschlag eingebracht, das aktuell gültige Verbot des Baus neuer Kernkraftwerke wieder zu streichen. Des Weiteren muss Mobilität eine Selbstverständlichkeit sein. Güter und Personen müssen günstig, sauber und verlässlich von A nach B kommen. Ohne Wenn und Aber.
Drittens müssen wir die Kommunikationsnetze stärken. Europa braucht möglichst flächendeckend modernsten Mobilfunk und Festnetze. Auch müssen wir einen Umgang mit all den Zukunftstechnologien finden, die wir wahrscheinlich brauchen werden, aber noch nicht wissen, in welchem Umfang und zu welchem Preis. Ich denke hier beispielsweise an grünen Wasserstoff. Zuletzt gibt es auch «neue» Infrastrukturen, wie die Cloud, Datenräume oder auch Computer Chips. In der Schweiz ist gerade etwas Panik ausgebrochen, weil die USA auch gegen die Schweiz Exportkontrollen erlassen haben. Es ist aber unerlässlich, dass wir für Technologie über die eigenen Landesgrenzen hinausdenken.
DWN: Die EU setzt mit dem Green Deal auf eine nachhaltige Transformation. Welche Weichenstellungen sind nötig, damit der Infrastrukturausbau in Deutschland mit den Klimazielen vereinbar bleibt, ohne die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden? Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in der Schweizer Infrastrukturpolitik?
Keberle: Nachhaltigkeit spielt eine sehr große Rolle. Das betrifft aber nicht nur die ökologische, sondern auch die soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit. Ich glaube es ist zentral, das Thema ohne Scheuklappen anzugehen. Es braucht Technologieoffenheit und die Bereitschaft, rote Linien zu überdenken. Ohne Kompromisse kommen wir nicht ans Ziel. Wenn wir beispielsweise sagen: «Wir wollen die Energiewende schaffen, aber bitte ohne die Landschaft zu belasten, möglichst ohne Importe, zu einem guten Preis, ohne Zwang und sicher ohne Kernkraftwerke» dann sind das der Bedingungen zu viele.
Zudem muss der Staat wieder zurück zu seiner Rolle als Setzer von Rahmenbedingungen. Planwirtschaft bringt nichts. Wir beobachten mit Sorge, dass unter dem Deckmantel der grünen Transformation immer mehr Subventionen für alles Mögliche gesprochen werden, damit dem Markt aber die Luft abschneiden, die beste Lösung zu finden. Dann werden noch mehr Subventionen notwendig, um die Industrie am Leben zu erhalten. Es ist eine Abwärtsspirale. Dieser Trend ist in der Schweiz durchaus auch ein Problem.
DWN: Kritische Infrastruktur wie Stromnetze, Bahntrassen und digitale Kommunikationswege sind zunehmend Angriffen und Störungen ausgesetzt. Welche Strategien verfolgt die Schweiz, um diese Strukturen widerstandsfähig zu halten – und was kann Deutschland daraus lernen?
Keberle: Resilienz und Redundanz sind wichtig. Der Ukrainekrieg veranschaulicht, dass Infrastrukturen zum strategischen Kriegsspielball werden können. Die Schweiz hat mit der «Wirtschaftlichen Landesversorgung» ein interessantes Konstrukt geschaffen, wo Staat und Privatwirtschaft eng zusammenarbeiten, um die Versorgung der Schweizer Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen auch in Krisenzeiten sicherzustellen. In der Stromkrise vor wenigen Jahren, hat dieser Dialog recht gut funktioniert, wenn der Prozess auch sicher etwas schwerfällig war. Bei der Cyber-Resilienz müssen wir sicher noch zulegen. Aber die Redundanz der Netze kann sich sehen lassen. Zum Beispiel haben wir im Telekommarkt mehrere redundante Netze von verschiedenen Anbietern mit unterschiedlicher Infrastruktur – und das in einem vollständig liberalisierten Markt.
DWN: Abschließende Frage: Der Schienenausbau gilt in Deutschland als Schlüssel für eine nachhaltige Verkehrswende, doch Projekte ziehen sich oft über Jahrzehnte. Die Schweiz hat ein engmaschiges und effizientes Bahnnetz. Welche politischen und regulatorischen Änderungen wären nötig, um den Ausbau in Deutschland effizienter und schneller umzusetzen? Was macht die Schweiz besser?
Keberle: Sicherlich hilft ein kontinuierlicher Unterhalt – es ist oft billiger, ein System instand zu halten, als es verkommen zu lassen, und dann zu reparieren. Aber man muss sehen: Die Schweiz investiert auch viermal mehr pro Kopf in ihre Schienen als Deutschland. So lapidar es klingt: Geld hilft. Und hier wären wir wieder beim Wirtschaftswachstum. Es ist aber auch in der Schweiz nicht alles Gold was glänzt. Die Zukunftsperspektiven der Bahn werden gerne auf die Infrastruktur reduziert. Dabei ist die Schiene in der Schweiz und ganz Europa auch organisatorisch marode. Im Güterverkehr wird teilweise wie in den 1970er Jahren gearbeitet. Es braucht dringend eine Frischzellenkur für mehr Wettbewerb und Innovation.
DWN: Herr Keberle, vielen Dank für das Gespräch.
Info zur Person: Alexander Keberle, Jahrgang 1992, ist seit April 2022 Mitglied der Geschäftsleitung und Leiter der Ressorts Infrastruktur, Energie und Umwelt sowie WWA „Wirtschaft. Wir alle.“ bei economiesuisse, dem größten Dachverband der Schweizer Wirtschaft. Zudem ist er als Verwaltungsratspräsident eines KMU im Gesundheitsbereich tätig. Vor seiner Tätigkeit bei economiesuisse war er als Associate Partner bei McKinsey & Company beschäftigt. Alexander Keberle hat einen Master in Recht und Wirtschaft von der Universität St. Gallen und einen Master in Public Policy von der University of Oxford, Blavatnik School of Government.