„Wer KI meidet, riskiert, selbst ersetzt zu werden“
Anne Lise Kjaer ist eine international anerkannte Futuristin, Autorin und Beraterin mit über 30 Jahren Erfahrung in der Trendforschung. Sie ist Gründerin von Kjaer Global und Entwicklerin des 4P-Modells (People, Planet, Purpose, Performance), das Unternehmen zu nachhaltiger Innovation anregen soll. Sie beriet bereits Konzerne wie Amazon, BMW, Dell, IKEA, Medien wie BBC und Organisationen wie OECD und UNICEF.
Im Gespräch macht sie gleich zu Beginn klar: „Futuristen wie ich prognostizieren nicht die Zukunft. Es gibt nicht die eine Zukunft – sondern viele parallele, mögliche Zukünfte.“
Multipolarität, KI und die Rolle des Menschen
Die Gegenwart ist geprägt von künstlicher Intelligenz, neuen Technologien, geopolitischen Spannungen und multipolaren Strukturen. „KI ist eine Kraft mit großem Potenzial – sie muss jedoch bewusst und zum Guten genutzt werden“, betont Kjaer. Trotz Digitalisierung seien rund ein Drittel der Menschen weltweit nicht eingebunden – während Kriege und Krisen das globale Geschehen dominieren.
„Die Welt ist nicht mehr bipolaren Mustern unterworfen. Es gibt nicht mehr nur zwei Pole. Die Weltordnung ist heute multipolar“, sagt sie gegenüber der slowenischen Zeitung Casnik Finance. Die Prioritäten müssten sich daher verschieben: „Menschen, Planet und Sinn müssen im Mittelpunkt stehen.“ Nachhaltigkeit sei nicht nur eine ökologische, sondern eine systemische Herausforderung. Es gehe darum, kollektive Strukturen aufzubauen, in denen alle Beteiligten Teil eines tragfähigen Modells sind.
„Wenn wir Menschen und Planet ins Gleichgewicht bringen und ihnen einen gemeinsamen Sinn geben, schaffen wir eine nachhaltigere Zukunft“, so Kjaer. Für sie ist alles Energie, jede Handlung erzeugt eine Reaktion. Ihre Denkweise ist von wechselseitiger Verbundenheit geprägt – zwischen Menschen, Kulturen, Systemen und Generationen.
Geschichte als Fundament, nicht als Wiederholung
„Zukunft beginnt mit dem Verständnis der Vergangenheit“, sagt Kjaer. Sie verweist auf John Maynard Keynes, der in den 1930er-Jahren eine 15-Stunden-Woche für das Jahr 2030 voraussah – ausgehend von der Annahme, dass technischer Fortschritt Wohlstand schafft. Alan Turing legte nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlagen der künstlichen Intelligenz. Die Ölkrise der 1970er, das Umweltbewusstsein durch Rachel Carson, das Hippie-Zeitalter, der digitale Durchbruch in den 1990ern, das „erste KI-Sommermärchen“ um 2000 – all das seien Markierungen auf dem Weg in die Gegenwart.
Doch: „Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie verläuft in Zyklen“, sagt sie. Ein Muster: Wachstum, Höhepunkt, Verfall. Es gebe aber auch Fortschritte, die nicht rückgängig gemacht werden – daher sei Geschichte nicht rein zyklisch. Die Gegenwart sei in ihrer Komplexität einzigartig: Fünf Generationen arbeiten und konsumieren gleichzeitig. Technologie erlaubt heute Debatten, die früher undenkbar gewesen wären – etwa die Idee, Neugeborene zu chippen, um Krankheiten vorzubeugen.
Kjaer sieht die zentrale Angst vieler Menschen nicht in der Technologie selbst, sondern im Unbekannten. „KI wird Ihren Job nicht übernehmen. Aber Menschen, die sie nutzen, werden diejenigen verdrängen, die es nicht tun.“
Wichtig sei es daher, KI bewusst zu nutzen – als Werkzeug, nicht als Ersatz. Der unreflektierte Einsatz könne jedoch in ein Zeitalter der Mittelmäßigkeit führen – eine Welt, in der alles gleich aussieht, weil alles von KI gestaltet wird. „Das ist nicht die Welt, in der ich leben möchte.“
Deutschland im Fokus: zwischen digitaler Nachzüglerrolle und Strukturverantwortung
Kjaers Beobachtungen sind auch für Deutschland von Bedeutung. Während internationale Technologiedynamiken rasch voranschreiten, diskutiert Deutschland noch über die richtige regulatorische Einbettung von KI. Doch: Wer zu spät handelt, riskiert wirtschaftliche Abhängigkeit und strukturellen Bedeutungsverlust. Kjaers Appell: „Zukunft ist gestaltbar – aber nur, wenn wir uns bewusst auf das Neue einlassen, ohne das Bewährte vorschnell aufzugeben.“
Gerade die Diskussion über Nachhaltigkeit und digitale Transformation sei in Deutschland oft fragmentiert. Statt sektoraler Lösungen fordert Kjaer ganzheitliche Modelle, in denen ESG-Ziele, Bildung, Technologieeinsatz und soziale Inklusion zusammengedacht werden – lokal und global.
Lokalisierung, Resilienz, Technologie – die Agenda der nächsten Dekade
Für die nächsten zehn Jahre sieht Kjaer vier zentrale Herausforderungen: geopolitische Spannungen, Ressourcenknappheit, technologische Disruption und gesellschaftliche Fragmentierung. Die Übernutzung natürlicher Ressourcen führt zu globalem Wettbewerb um gleiche Rohstoffe. Zugleich bedrohen klimatische Veränderungen die landwirtschaftliche Produktion – eine weltweite Ernährungskrise sei denkbar.
Die Reaktion darauf müsse ein neuer Lokalismus sein: kürzere Lieferketten, regionaler Konsum, transparente Produktion. Technologie – von KI bis Blockchain – könne helfen, Greenwashing zu verhindern und Lieferketten ethisch zu gestalten. Blockchain allein könne laut Studien die Lebensmittelverschwendung um bis zu 70 % reduzieren.
Die Konsumenten der Zukunft – Millennials, Generation Z, Alpha und bald Beta – seien hochvernetzt, umweltbewusst und an lokaler Einbindung interessiert. Doch Kjaer warnt vor zu starren Generationsdefinitionen. Wichtiger als Alter seien Wertorientierungen. Menschen organisieren sich zunehmend in „Tribes“ – in Wertegemeinschaften, nicht Alterskohorten.
Auch im Marketing müsse das verstanden werden: Die Zukunft des Konsums sei wertebasiert, nicht nur digital. Die vier typischen Nutzergruppen, die Kjaer identifiziert, sind: neue Veränderer, progressive Optimierer, globale Bewahrer und idealistische Pioniere.
„Technologie kann Bedrohung oder Chance sein – entscheidend ist, wie wir sie integrieren“, sagt sie. Ziel müsse eine Automatisierung sein, die menschliche Fähigkeiten ergänzt, nicht ersetzt. Der Schlüssel: Authentizität, Transparenz und langfristiges Denken.
Fazit: Zukunft ist kein Ort – sie ist eine kollektive Entscheidung
Anne Lise Kjaers zentrale Botschaft lautet: Die Zukunft entsteht nicht von selbst – sie wird gemacht. Ihre Grundlage ist nicht Technologie, sondern Haltung. In einer Welt multipolarer Krisen und Chancen braucht es Denkansätze, die lokale Stärke mit globaler Verantwortung verbinden. Nachhaltigkeit, digitale Souveränität und soziale Inklusion sind keine Gegensätze – sondern Voraussetzung für eine resiliente Zukunft.