Politik

Letta warnt: NATO-Aufrüstung und Trump könnten Europa ruinieren

Italiens ehemaliger Ministerpräsident Enrico Letta schlägt Alarm: Europas größte Staaten können die NATO-Vorgaben nicht erfüllen – und Trump nutzt die Schwäche aus. Droht der EU der ökonomische Absturz?
15.07.2025 06:03
Lesezeit: 4 min
Letta warnt: NATO-Aufrüstung und Trump könnten Europa ruinieren
Ex-Premier Letta warnt: Europas größte Länder können das NATO-Ziel nicht stemmen. (Foto: dpa) Foto: Eric Piermont

Aufrüstung, Zölle, Reformstau – Europa droht an allen Fronten zu verlieren

Mehrere der größten Staaten Europas werden das neue NATO-Investitionsziel nicht erfüllen können – davon ist Italiens früherer Premier Enrico Letta überzeugt. In einem Interview mit der dänischen Schwesterzeitung von Dagens Industri warnt er zudem davor, dass der Druck aus den USA und der Ukrainekrieg vom Kernziel wirtschaftlicher Reformen ablenken könne. „Falls das geschieht, wäre es ein folgenschwerer Fehler mit enormen Konsequenzen für ganz Europa“, so Letta. Dabei könnte er sich auf die positiven Fortschritte konzentrieren – etwa auf die Erkenntnis Europas, dass wirtschaftlicher Handlungsbedarf besteht, und den Willen der politischen Führung, Reformen anzustoßen. Doch Letta erzählt nicht nur diese Geschichte.

In den vergangenen Jahren war er ein zentraler Berater europäischer Regierungschefs – heute zeigt er sich tief besorgt über den Zustand des Kontinents, der sein politisches Zuhause ist. Er warnt, dass die äußeren und akuten Belastungen Europas – etwa der Ukrainekrieg, das historische Wettrüsten, der drohende Zollkrieg mit den USA oder die Spannungen in der NATO – zu viel Aufmerksamkeit vom dringend notwendigen wirtschaftlichen Strukturwandel abziehen könnten. „Ich mache mir große Sorgen, dass die EU und die politischen Führungen Europas so sehr mit den globalen Krisen beschäftigt sein werden, dass dies fast all ihre Energie binden wird“, sagt Letta. „Europa hat gewöhnlich die Tendenz, immer nur eine Krise auf einmal zu bewältigen. Das darf diesmal nicht passieren – es wäre ein fataler Fehler mit enormen Folgen.“

Handelskrieg, Aufrüstung – und Reformstillstand

Der Zollstreit mit den USA und die Forderung nach Aufrüstung seien laut Letta Paradebeispiele für die wachsende Krisenlast Europas. „Zweifellos sind das wichtige Fragen, und die EU muss sich damit befassen. Aber es sind Krisen, die die Aufmerksamkeit vollständig absorbieren“, sagt Letta. „Europa darf nicht in eine defensive Haltung verfallen. Wir müssen angreifen, wir müssen offensiv handeln, um wettbewerbsfähiger zu werden und endlich wieder zu gewinnen.“ Über Jahrzehnte habe Europa kontinuierlich an Boden verloren – bei Produktivität, Technologie und der Entwicklung globaler Spitzenunternehmen. Lange war die Frage der Wettbewerbsfähigkeit jedoch kein Thema für die Titelseiten.

Zwei Berichte haben das geändert: zum einen die Analyse des früheren EZB-Chefs Mario Draghi vom Herbst, zum anderen Lettas eigener Bericht, den er im April vergangenen Jahres den EU-Staats- und Regierungschefs vorlegte – beide prägten das aktuelle wirtschaftspolitische Programm der Kommission entscheidend. Fragt man Letta, was auf dem Spiel steht, lautet seine Antwort: „So gut wie alles.“ Wenn die EU die nötigen Reformen nicht umsetze, „werden unsere Sozialsysteme leiden – und diese sind grundlegend für unser europäisches Gesellschaftsmodell.“ „Sollte es so weit kommen, drohen soziale Spannungen und politische Instabilität – genau das beobachten wir derzeit in Ländern wie Italien, Frankreich oder Ostdeutschland.“ „Nationalistische Kräfte gewinnen an Boden – und sie werden noch stärker, wenn Europa wirtschaftlich zurückfällt.“

„Alle europäischen Länder sind klein – sie wissen es nur nicht“

Wenn Letta Europa beschreibt, tut er das pointiert: „Es gibt zwei Arten europäischer Länder: Die, die klein sind – und die, die nicht wissen, dass sie klein sind.“ Für ihn ist das grundlegend, um Europas Rolle in der Welt zu verstehen. „Verglichen mit den Giganten USA und China sind wir alle kleine Länder. Und wir können ihnen nur auf Augenhöhe begegnen, wenn wir zusammenstehen“, so Letta. „Die Mitgliedstaaten müssen verstehen, dass innereuropäische Machtkämpfe nur Trump, der Wall Street und China nutzen.“ Dabei besitze Europa bereits ein zentrales Instrument: den Binnenmarkt für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte. Nun müsse er erweitert werden. Das gelte auch für den Zugang zu Kapital. Die EU-Kommission arbeite derzeit an einer „Spar- und Investitionsunion“, um mehr risikobereites Kapital zu mobilisieren. Letta fordert, dieses Projekt „in sehr ambitionierter Form“ umzusetzen. „Unsere Märkte sind kaum in der Lage, Risiken zu tragen – aber ohne eine bessere Verbindung zwischen Forschung und Kapital wird Europa den globalen Wettbewerb nicht gewinnen können.“

Trump, NATO und eine gefährliche Zielverfehlung

Trotz aller wirtschaftlichen Prioritäten sieht Letta die EU mit existenziellen Herausforderungen konfrontiert – nicht zuletzt durch Donald Trump. Vergangene Woche beschlossen die NATO-Staaten ein neues Ziel: Mindestens 3,5 % des BIP sollen künftig in Verteidigung fließen, weitere 1,5 % in „gesellschaftliche Sicherheit“ im weiteren Sinn. Spanien sorgte im Vorfeld mit scharfer Kritik für Aufsehen – man halte das Ziel für überzogen. Für Letta ist das nichts anderes als eine nüchterne Feststellung. Was Spanien sage, gelte auch für Frankreich und Italien – drei der größten EU-Länder, die allesamt mit schwachen Staatsfinanzen ringen. „Was ich über Italien, Frankreich und Spanien weiß – und ich kenne alle drei Länder ziemlich gut – erlaubt mir zu sagen: Diese Staaten sind absolut nicht in der Lage, das neue NATO-Ziel zu erfüllen. Das ist vollkommen unrealistisch.“ „Die Haushalte dieser drei Länder stehen bereits massiv unter Druck. Die Umsetzung der NATO-Pläne wäre schlichtweg verheerend.“ Auch Trumps angedrohte Strafzölle auf europäische Produkte hält Letta für eine ernste Gefahr – der Europa entschieden entgegentreten müsse. „Passivität bringt uns nichts – wir dürfen uns nicht einfach schwächen lassen. Trump muss wissen, dass es einen Preis hat, wenn er Europa angreift. Und dass Europa nach wie vor eine große und einflussreiche Wirtschaftsmacht ist.“

Lettas Fazit: Zukunft Europas hängt nicht von Trump, sondern von Brüssel ab

Gleichzeitig betont Letta: Europas Zukunft entscheidet sich nicht an der Reaktion auf Trump – sondern an den Reformen. „Was zählt, ist, ob wir unsere Wirtschaft und unseren Binnenmarkt modernisieren – oder nicht.“ Um zu verhindern, dass rechte Protestparteien die Reformagenda blockieren, fordert Letta konkrete Fortschritte – etwa durch Investitionen und wirtschaftliches Wachstum. „Wir dürfen nicht bloß mit der EU-Flagge wedeln und behaupten, sie sei wichtiger als die der Nationalstaaten. Entscheidend ist, eine gute wirtschaftliche Basis für unsere Bürger und Unternehmen zu schaffen – darauf sollten sich alle demokratischen Parteien einigen können.“

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft CO2-Zertifikate: Europas Aufschub, der Autofahrer teuer zu stehen kommt
15.11.2025

Europa verschiebt den Start seines neuen CO2-Handelssystems – doch die Benzinpreise werden trotzdem steigen. Während Brüssel von...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Arbeitsmarkt 2030: Diese Fachkräfte werden in fünf Jahren gebraucht
15.11.2025

Automatisierung, KI und Klimawandel verändern den globalen Arbeitsmarkt rasant. Bis 2030 entstehen Millionen neuer Jobs, doch viele...

DWN
Finanzen
Finanzen Finanzielles Notfallpaket: So sichern Sie Ihr Vermögen in Krisenzeiten
15.11.2025

In Zeiten wachsender Unsicherheiten rückt neben Notvorräten und Fluchtplänen auch die finanzielle Absicherung in den Fokus. Marek...

DWN
Politik
Politik Für einen Kampfjet braucht es 400 Kilogramm seltene Erden: Europa im Wettbewerb mit China und den USA
15.11.2025

Seltene Erden sind zu einem entscheidenden Faktor in globalen Machtspielen geworden und beeinflussen Industrie, Verteidigung und Hightech....

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Klassengesellschaft 2.0 – Warum Demokratie ohne soziale Gleichheit zerbricht
15.11.2025

In Deutschland redet kaum jemand über Klassen – als wäre soziale Herkunft heute keine Machtfrage mehr. Doch die Soziologin Prof. Nicole...

DWN
Finanzen
Finanzen Finanzblasen 2025: Wo der nächste große Crash drohen könnte
15.11.2025

An den Finanzmärkten steigt die Nervosität. Künstliche Intelligenz treibt Bewertungen auf Rekordhöhen, Staaten verschulden sich wie nie...

DWN
Immobilien
Immobilien Immobilienpreise: Boom zu Neuverträgen – eine Prognose
15.11.2025

Laut ifo sind Neuverträge in Großstädten um 48 Prozent teurer als Bestandsverträge. Das, so Experten, ist nicht nur ein Problem für...

DWN
Finanzen
Finanzen So profitiert Trumps Familie im Kryptosektor: CZ-Deals bringen Milliarden
14.11.2025

Der Fall um Čangpeng Žao und die Trump Familie wirft ein Schlaglicht auf die Verknüpfung von Kryptowährungen, Finanzströmen und...