Wirtschaft

Europas Herausforderung für die geo-ökonomische Wettbewerbsfähigkeit

Ökonomen neigen dazu, sich nicht allzu viele Gedanken über die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes zu machen. Grenzüberschreitender Handel und grenzüberschreitende Investitionen sind in der Regel für beide Seiten von Vorteil, und ein schnelleres Wachstum in einem Land kommt auch anderen Ländern zugute, die dessen expandierenden Markt erschließen können.
Autor
avtor
26.05.2024 12:45
Lesezeit: 4 min

Entscheidend für den Wohlstand eines Landes ist die inländische Produktivität, nicht die Fähigkeit, andere zu übertreffen. Aus diesem Grund bezeichnete Paul Krugman vor 30 Jahren die Wettbewerbsfähigkeit als eine „gefährliche Obsession“.

Aus rein ökonomischer Sicht hatte Krugman Recht. Doch angesichts des andauernden Krieges der Russen und der zunehmenden Selbstbehauptung und Despotie Chinas können die europäischen Staats- und Regierungschefs die Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachten. Geopolitische Erwägungen werden genauso wichtig - oder sogar noch wichtiger. Um den amerikanischen Politikwissenschaftler Edward Luttwak zu paraphrasieren: Die „Logik des Konflikts“ ersetzt die „Grammatik des Handels“.

Auf Geo-Ökonomie kommt es bei Volkswirtschaft an

Die Berücksichtigung der Geopolitik impliziert einen völlig anderen Maßstab für die Bewertung einer Volkswirtschaft. Denn in der Geopolitik geht es um Macht, die notwendigerweise relativ ist. Wenn es um Macht geht, spielt Größe eine Rolle, aber nicht, wie gut die Menschen leben. Mit anderen Worten: In der „Geo-Ökonomie“, wie Luttwak sie nennt, ist die Wirtschaft eine Quelle der Macht, nicht unbedingt eine Quelle des Wohlstands für die Bevölkerung.

Diese Unterscheidung ist für die Europäische Union von besonderer Bedeutung. Gemessen am Lebensstandard, gemessen am BIP zu Kaufkraftparitäten, hat sich Europa in den letzten Jahrzehnten gut entwickelt. Selbst die träge Eurozone hat beim Wachstum des BIP pro Kopf mit den USA Schritt gehalten. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert beträgt das europäische BIP pro Kopf etwa drei Viertel des amerikanischen.

Aber der „European Way of Life“ (so die Europäische Kommission) unterscheidet sich deutlich vom „Amerikanican Way of Life“: Die Europäer haben mehr Zeit, die Amerikaner haben mehr Geld. Die Frage, was besser ist, hat für einen Ökonomen jedoch wenig Bedeutung - das muss jeder für sich selbst entscheiden. Aus geopolitischer Sicht ist die Antwort jedoch klar: Mehr Geld bedeutet mehr Arbeit, mehr Produktivität, mehr Wachstum und mehr Macht.

Die europäische Wirtschaft wird also nicht mehr daran gemessen, ob sie den Menschen ein gutes Leben ermöglicht, sondern daran, wie groß sie im Vergleich zu anderen ist. Und an diesem Maßstab gemessen verliert die EU an Boden. Das BIP-Wachstum der EU ist mit nur 1% pro Jahr das niedrigste unter den entwickelten Volkswirtschaften, und enttäuschende Wachstumszahlen sind nichts Neues. Der Anteil der EU an der Weltwirtschaft sinkt deutlich schneller als jener der USA.

Wechselkursschwankungen gleichen sich aus

Dieses Maß wird zwar stark von Wechselkursschwankungen beeinflusst, doch gleichen sich diese Schwankungen im Laufe der Zeit wieder aus. Bei den heutigen Wechselkursen , die in etwa denen bei der Einführung des Euro entsprechen, machen die USA mit einem BIP von 25 Billionen US-Dollar immer noch ein Viertel der Weltwirtschaft (100 Billionen US-Dollar) aus, während die Eurozone mit ihrer viel kleineren Wirtschaft (14 Billionen US-Dollar) nur auf rund ein Sechstel kommt. Als der Euro eingeführt wurde, war der Unterschied noch viel geringer.

Die Folgen dieses Rückgangs sind weitreichend. Zunächst ist es unwahrscheinlich, dass alle Bemühungen, den Euro zu einer lebensfähigen Konkurrenz für den US-Dollar als globale Leitwährung zu machen, erfolgreich sein werden. Zweitens schwindet die Fähigkeit der EU, den Zugang zu ihrem Markt (dem größten der Welt, wie sie sich gerne rühmt) für die Durchsetzung europäischer geopolitischer Ziele zu nutzen. Tatsächlich ist der EU-Markt in Bezug auf die Konsumausgaben bereits viel kleiner als der von den USA und liegt hinter China.

Der vielleicht direkteste Zusammenhang zwischen Bruttoinlandsprodukt und geopolitischer Macht besteht bei den Militärausgaben. Alle NATO-Staaten haben sich verpflichtet, mindestens zwei Prozent ihres BIP für Verteidigung auszugeben. Viele haben dieses Ziel nicht erreicht, aber selbst wenn sie es täten, würde ein stagnierendes BIP-Wachstum auch zu stagnierenden Militärausgaben führen. All dies würde sich im strategischen Kalkül von Persönlichkeiten wie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping vermutlich in höchst unerwünschter Weise niederschlagen.

Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache, dass sich der Lebensstandard in Europa trotz des geringen Wachstums gehalten hat, kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Um die geopolitische Position der EU zu erhalten und zu stärken, müssen die Staats- und Regierungschefs Wege finden, die Wirtschaft wieder anzukurbeln.

Einige haben diese Notwendigkeit bereits erkannt. Erst im vergangenen Monat haben zwei ehemalige italienische Premierminister, Enrico Letta und Mario Draghi, Entwürfe für eine Reform vorgelegt. Das Problem ist nur: Wenn es einen einfachen Weg gäbe, das Wachstum zu beschleunigen, einen Weg, der keine politischen Kosten mit sich brächte, dann wäre er schon längst beschritten worden. Europa braucht neue Ideen, wie Barry Eichengreen von der University of California, Berkeley, kürzlich feststellte.

Ein zweites, noch grundlegenderes Problem ist, dass die „Logik des Konflikts“ zu einer schlechten Wirtschaftspolitik führt. In einem Konflikt muss ein Land sein eigenes Territorium verteidigen. Dieser Imperativ kann leicht zu politischen Entscheidungen führen, die darauf abzielen, die heimische Industrie gegen ausländische Konkurrenz zu verteidigen. Als Luttwak 1990 den Begriff der Geo-Ökonomie prägte, empfahl er den USA, ihre verarbeitende Industrie zu schützen und eine restriktivere Handelspolitik zu betreiben. Doch wie eine aktuelle Studie des Internationalen Währungsfonds zeigt, ist der Schutz der heimischen Industrie ein Rezept für Stagnation, nicht für Wachstum.

Handel in den USA wurde tatsächlich liberalisiert

Glücklicherweise haben die amerikanischen Politiker Luttwaks Rat nicht befolgt. Stattdessen haben sie den Handel (bis vor kurzem) weitgehend liberalisiert und den Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der US-Wirtschaft schrumpfen lassen. Dadurch konnten andere Wirtschaftszweige, insbesondere der digitale Sektor, expandieren. Heute sind die USA die Heimat aller globalen Hightech-Giganten und unangefochtener Marktführer in Spitzenbereichen wie der künstlichen Intelligenz.

Die Lektion für Europa ist klar: Die Logik des Konflikts sollte die Staats- und Regierungschefs dazu anspornen, die EU-Wirtschaft wiederzubeleben, aber sie sollte ihnen nicht vorschreiben, wie sie das tun sollen.

Deutsch von Andreas Hubig

Copyright: Project Syndicate, 2024.

www.project-syndicate.org

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Gold als globale Reservewährung auf dem Vormarsch

Strategische Relevanz nimmt zu und Zentralbanken priorisieren Gold. Der Goldpreis hat in den vergangenen Monaten neue Höchststände...

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

avtor1
Daniel Gros

                                                                            ***

Daniel Gros ist Direktor des europapolitischen Instituts der Università Commerciale Luigi Bocconi.

DWN
Unternehmen
Unternehmen Deutsche Bahn: Generalsanierung soll vier Jahre länger dauern
25.06.2025

Die geplante Sanierung Dutzender wichtiger Bahnstrecken soll nach den Vorstellungen der Deutschen Bahn bis 2035 und damit vier Jahre...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Zwischen Dieselgate und Dialogkultur: Der neue Ernst der Wirtschaftsethik
25.06.2025

Der Dieselskandal bei VW liegt Jahre zurück, wirkt aber nach. Vor allem als Symbol für eine Unternehmenskultur ohne Ethik und ohne...

DWN
Politik
Politik Nato-Gipfel 2025 in Den Haag: Moskau offiziell Hauptbedrohung - Europa zahlt, Trump entscheidet
25.06.2025

Donald Trump in Den Haag: Europa muss zahlen, wenn es die USA im Bündnis halten will. Während Nato-Staaten um Ausnahmen betteln, droht...

DWN
Politik
Politik Hasspostings: Bundesweite Polizeiaktion wegen rechtsradikaler Hetze im Internet
25.06.2025

Unter Federführung des Bundeskriminalamts geht die Polizei bundesweit gegen mutmaßliche Verfasser von Hass und Hetze im Internet vor. In...

DWN
Politik
Politik Nach Luftschlägen: Iran kündigt Neustart seines Atomprogramms an
25.06.2025

Die Waffen ruhen – doch im Hintergrund laufen die Zentrifugen. Trotz US- und israelischer Angriffe auf seine Atomanlagen kündigt der...

DWN
Finanzen
Finanzen Vermögensmigration: Millionäre und ihr Kapital verlassen Europa
25.06.2025

Ein Report prognostiziert europäischen Ländern eine Abwanderung von Millionären – besonders betroffen ist Großbritannien, aber auch...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Milliarden winken: Revolut-Chef erhält „Elon-Musk“-Deal
25.06.2025

Ein Geheimvertrag mit gewaltigen Summen: Revolut-Chef Nikolaj Storonskij winken über 9 Milliarden Euro, wenn er den Börsenwert in...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Iran-Investments: Risiko, Isolation – und gewaltige Renditen?
25.06.2025

Öl, Gas, Pistazien – doch der Iran hat weit mehr zu bieten. Trotz Isolation, Sanktionen und politischer Unsicherheit entwickelt sich...