LinkedIn: Letzte Bastion der Seriosität in der Welt der sozialen Medien
In einer Zeit anonymer Profile und hasserfüllter Kommentarspalten ist LinkedIn die letzte seriöse Bastion unter den sozialen Netzwerken. Doch ist die professionelle Plattform nun auch in Gefahr, ihre Relevanz an die knallharten Bedingungen des Algorithmus zu verlieren? Jeder kennt die hasserfüllten Kommentarspalten auf Facebook. Und die gemütlichen Urlaubsbilder auf Instagram. Oder die politische Debatte auf Twitter, das nach Elon Musks Übernahme in X umbenannt wurde und mit anonymen Profilen und aggressiven Posts überflutet ist.
Und dann gibt es LinkedIn, das – vorsichtig geschätzt – wohl die Lieblingsplattform der Leser dieses Artikels unter den sozialen Medien ist.
Ein digitaler Lebenslauf, in dem man Ausbildungsweg, Berufserfahrung und eine Reihe weiterer Kompetenzen einträgt, um ein professionelles Profil zu erstellen. Eine Plattform, die ursprünglich geschaffen wurde, um Netzwerke zu bilden, Jobs zu suchen oder neue Mitarbeitende zu rekrutieren. Doch etwas ist im Wandel, meint Jacob Holst Mouritzen, Direktor und Strategieberater in seiner eigenen Beratungsgesellschaft – und ein eifriger Nutzer von LinkedIn. Und als beinahe perfekte Illustration dieses Wandels teilte er seine Gedanken über die Entwicklung im Laufe des Frühjahrs in einem Post auf LinkedIn. „Ist LinkedIn zu einer Meinungsplattform geworden?“, fragte er.
Engagement schlägt Fachlichkeit, wenn der Algorithmus übernimmt
„Wir haben ja schon gesehen, dass soziale Netzwerke ihre Grundessenz verlieren, wenn sie sehr groß werden. Dann beginnen alle möglichen anderen Inhalte, das Engagement und die Algorithmen zu bestimmen – und typischerweise sind das wertbasierte Posts und Meinungen. Das ist es, was die Leute zum Kommentieren bringt, weil es sowohl Freude, Glück und Stolz auslösen kann – aber eben auch Wut, Empörung und Streit. Und deshalb dominiert es zunehmend“, sagt er.
Und genau das ist seine Beobachtung: LinkedIn ist nicht länger nur ein Ort für fachliche Inhalte, sondern auch für Meinungen, Werte und Gefühle. „Das zeigt sich auch daran, dass Politiker LinkedIn inzwischen nutzen. Und viele Lobbyisten sind dort aktiv. Früher sprachen die Leute hauptsächlich über ihre Fachlichkeit – wenn jemand zum Beispiel gut darin war, Newsletter zu erstellen, dann schrieb er darüber, wie er es macht. Heute nimmt das deutlich weniger Raum ein“, sagt Jacob Holst Mouritzen.
Von der Wohnzimmer-Idee zur Microsoft-Übernahme
LinkedIn begann ursprünglich als eine Idee im Wohnzimmer von Reid Hoffmann im Jahr 2002, und im darauffolgenden Frühjahr wurde die Plattform lanciert. Geboren im Herzen des Silicon Valley, unter dem blauen Himmel von Palo Alto in Kalifornien, studierte er in Stanford und Oxford – mit Fächern wie Psychologie, Informatik und Philosophie. Anschließend arbeitete er für Apple, Fujitsu und Paypal – alles Unternehmen, die in der Frühphase des Internets an der nächsten großen Sache arbeiteten. Hoffmann versuchte sich auch mit seiner eigenen sozialen Plattform namens Socialnet – 1997 gedacht als eine Art Dating-Seite, auf der sich Menschen online begegnen und anfreunden konnten.
Es gelang nicht. Die Technologie war noch nicht bereit, und zu wenige Menschen nutzten das Internet täglich – so wird es auf der US-amerikanischen Plattform Medium berichtet. Doch fünf Jahre später änderte sich das, als er die Idee eines sozialen Netzwerks erneut aufgriff – diesmal mit einem professionellen Ansatz. 2016 wurde LinkedIn für 23 Milliarden Euro von Microsoft gekauft.
Das neue Facebook?
Die meisten neuen sozialen Netzwerke würden sich insgeheim wünschen, das Etikett „das neue Facebook“ zu bekommen. Zumindest, wenn man nach Umsatz und Einfluss urteilt. Doch es hat sich etwas verändert bei dem, worum es eigentlich geht: dem Inhalt. Und das Gleiche könnte auch LinkedIn passieren, sagt Jacob Holst Mouritzen. „Wenn es LinkedIn nicht gelingt, das Professionelle zu bewahren, kann es wie Facebook enden – wo die meisten Nutzer aufhörten, eigene Inhalte zu posten. Stattdessen treiben große, debattierende Profile die gesamte Plattform“, sagt er. „Aber man kann kaum etwas dagegen tun – denn die Entwicklung wird durch das Engagement der Nutzer getrieben.“
LinkedIn hat allerdings ein starkes Wachsystem. Es ist nach wie vor eine Plattform, die ernsthaft zur Jobsuche und Rekrutierung genutzt wird. Solange es genutzt wird, um den Lebenslauf zu präsentieren und Erfolge zu teilen, wird man auch die radikalsten Meinungen, hitzigen Diskussionen, Drohungen usw. in den Kommentarspalten weitgehend vermeiden. Doch das ändert nichts an dem, was Jacob Holst Mouritzen die „Katzenfalle“ nennt. Bilder und Videos mit Katzen waren eine Zeit lang unfassbar populär im Internet – und deshalb gab es sehr viele davon. Heute posten Menschen unentwegt Selfies. „Menschen teilen das, was funktioniert. Aber wenn LinkedIn seine professionelle Aura verliert – die schon jetzt zu verblassen beginnt –, dann wird es irrelevant. Und dann wird vermutlich einfach eine neue Alternative entstehen“, sagt Jacob Holst Mouritzen.
Verliert LinkedIn seine Seele?
Auch in Deutschland ist LinkedIn längst zum wichtigsten beruflichen Netzwerk geworden – mit Millionen aktiver Nutzer in Industrie, Beratung, Medien und Politik. Doch je stärker sich die Plattform von fachlicher Kommunikation hin zu emotionalem Storytelling, persönlichen Bekenntnissen und meinungsstarken Postings entwickelt, desto mehr verschwimmt ihr professionelles Profil. Für den deutschen Mittelstand, für Recruiter und für Fachkräfte bedeutet das eine neue Herausforderung: Wer weiterhin sichtbar bleiben will, muss sich entweder an die neuen algorithmischen Spielregeln anpassen – oder das Risiko eingehen, im Feed unterzugehen. Die Balance zwischen Seriosität und Aufmerksamkeit wird auch für die deutsche Wirtschaft zur strategischen Frage.Wie Facebook droht auch hier ein schleichender Wandel – getrieben vom Algorithmus, vom Nutzerverhalten und vom Zwang zur Sichtbarkeit. Wenn sich Engagement nur noch durch Emotionalisierung erzeugen lässt, steht LinkedIn vor einem Identitätsverlust. Für Deutschland bedeutet das: Eine Plattform, die einst für berufliche Integrität stand, könnte bald nur noch ein weiteres Meinungsnetzwerk sein.


