Digitale Souveränität klingt nach einem sperrigen Begriff – doch sie entscheidet längst über die wirtschaftliche Handlungsfreiheit Europas. Wie unabhängig sind deutsche Unternehmen wirklich im digitalen Raum? Die Antwort fällt ernüchternd aus: Technologisch sind viele Firmen gut aufgestellt, doch ausgerechnet bei der Kontrolle über ihre Daten und Systeme zeigen sich gefährliche Abhängigkeiten – vor allem von den USA.
Laut Bitkom sind 90-Prozent der deutschen Unternehmen auf den Import digitaler Technologien angewiesen. Im europäischen Cloud-Markt dominieren Amazon, Microsoft und Google mit rund 70-Prozent Marktanteil. Selbst Behörden setzen lieber auf US-Produkte als auf europäische Alternativen – aus Gewohnheit, Bequemlichkeit oder Angst vor Umstellungen. Open-Source-Lösungen bleiben oft ungenutzt – zu groß ist der Wunsch nach Komfort, zu klein der Mut, eigene Wege zu gehen.
Wenn Sicherheit nur geliehen ist – wie US-Gesetze Europas Daten gefährden
Doch Bequemlichkeit ersetzt keine Sicherheit. US-Gesetze wie der CLOUD Act erlauben amerikanischen Behörden den Zugriff auf Daten – selbst dann, wenn sie auf europäischen Servern liegen. Wer glaubt, seine Informationen seien „sicher in Frankfurt“, irrt. Denn die USA dominieren nicht nur viele der führenden Plattformen, sondern kontrollieren damit indirekt auch große Teile der digitalen Infrastruktur, auf der Europas Wirtschaft basiert.
Wie weit diese Abhängigkeit reicht, zeigen zwei Beispiele: Als TikTok – eine chinesische Plattform – in den USA unter politischen Druck geriet, leitete Washington ein Verfahren zur Abspaltung der US-Sparte ein. Ziel war es, den Einfluss des chinesischen Mutterkonzerns ByteDance auf amerikanische Nutzerdaten zu beenden – andernfalls drohte ein Verbot. Auch im Ukrainekrieg wurde sichtbar, wie eng digitale Kontrolle und politische Macht verknüpft sind: Die USA beschränkten den Zugriff auf bestimmte Funktionen der HIMARS-Raketensysteme – softwaregesteuerte Mehrfachraketenwerfer, die als Schlüsseltechnologie der ukrainischen Verteidigung gelten.
Digitale Erpressbarkeit: Warum Europas Abhängigkeit zur geopolitischen Schwachstelle wird
Diese Beispiele zeigen: Technologische Kontrolle ist längst ein geopolitisches Machtinstrument. Wer über Plattformen, Software und Daten entscheidet, bestimmt auch über wirtschaftliche und politische Handlungsspielräume. Genau hier liegt Europas Achillesferse – solange zentrale Infrastrukturen in fremder Hand bleiben. Zwar mag ein US-Boykott europäischer Nutzer noch weit hergeholt erscheinen, doch in einem künftigen Handels-, Sicherheits- oder Wirtschaftskonflikt könnten die Vereinigten Staaten den Zugang zu ihren Tech-Diensten jederzeit als Druckmittel einsetzen. Die Abhängigkeit Europas würde dann zur Schwachstelle – ökonomisch, digital und strategisch.
Ein mögliches Konfliktfeld ist die Digitalsteuer: In Brüssel liegt die Idee einer einheitlichen Abgabe zwar auf Eis, doch sie bleibt ein Reizthema – nicht zuletzt, weil Länder wie Frankreich, Spanien und Italien bereits nationale Modelle eingeführt haben. Ziel dieser Steuern ist es, Konzerne wie Google, Amazon oder Meta dort zu besteuern, wo sie ihre Umsätze erzielen. Donald Trump hat mehrfach angedeutet, in solchen Fällen mit Zöllen oder digitalen Sanktionen zu reagieren – und könnte den Zugang zu amerikanischen Diensten gezielt beschränken.
Was würde passieren, wenn Washington den digitalen Stecker zieht?
Die Folgen wären verheerend: Ohne Facebook, LinkedIn, WhatsApp oder YouTube verlören Millionen Unternehmen ihre wichtigsten Kommunikations- und Marketingkanäle. Fielen Business-Tools wie Microsoft 365, Zoom oder Slack aus, stünde die Zusammenarbeit vieler Betriebe still. Träfe es schließlich Zahlungsdienste oder Betriebssysteme wie Apple Pay, PayPal oder Android-Updates, würde der digitale Handel kollabieren. Das Internet könnte sich in nationale Inseln zersplittern – mit Europa als digital isoliertem Kontinent.
Politische Versäumnisse bremsen Europas digitale Eigenständigkeit
Dass ein solcher Stillstand überhaupt denkbar ist, liegt weniger an amerikanischer Willkür als an europäischer Nachlässigkeit. Während Washington seine digitalen Machtinstrumente gezielt strategisch einsetzt, fehlt es in Berlin und Brüssel bis heute an einer klaren Linie. Es mangelt an verlässlichen Förderprogrammen, an klaren Rahmenbedingungen und an einer Digitalstrategie, die Innovation in Europa nicht nur verspricht, sondern endlich umsetzt.
Experten bringen es auf den Punkt: Deutschland rede seit Jahren über digitale Souveränität – doch in der Praxis bleibe vieles bloße Rhetorik. Mehrere Ministerien ringen um Zuständigkeiten, Budgets versickern, Strategiepapiere verstauben. Und statt eigene Strukturen aufzubauen, nutzen Behörden weiterhin Systeme, die Unabhängigkeit nur vorgaukeln.
Polizeibehörden und Ministerien setzen auf US-Anbieter
Ein Beispiel ist die Delos Cloud – eine für deutsche Behörden entwickelte Plattform, die als „souveräne Lösung“ gilt, tatsächlich aber auf der Infrastruktur von Microsoft Azure basiert. Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang von „digitaler Eigenständigkeit im US-Mäntelchen“ – ein Sinnbild dafür, wie weit Anspruch und Wirklichkeit in Europa auseinanderklaffen.
Heikel ist auch der Einsatz der US-Software Palantir bei deutschen Polizeibehörden. Der Datenanalysekonzern unterhält enge Verbindungen zu amerikanischen Geheimdiensten – ein Umstand, der erhebliche Fragen nach Datensicherheit und staatlicher Kontrolle aufwirft. Sensible Daten könnten leicht in die Hände amerikanischer Konzerne – und im Zweifel auch staatlicher Stellen – gelangen. Selbst die Bundeswehr hat einen millionenschweren Cloud-Vertrag mit Google abgeschlossen – ein weiteres Beispiel dafür, wie sicherheitskritische Strukturen auf US-Plattformen ausgelagert werden
Europas digitale Souveränität bleibt ein ferner Anspruch
Wenn schon Ministerien und Sicherheitsbehörden Schwierigkeiten haben, sich aus der Abhängigkeit amerikanischer Systeme zu lösen, wie sollen es dann erst Unternehmen schaffen? Gerade kleine und mittlere Betriebe stehen hier vor einer kaum lösbaren Aufgabe: Es fehlt an Fachpersonal, an Zeit – und vor allem an der technischen Infrastruktur, um auf Alternativen umzusteigen oder eigene Systeme aufzubauen.
Zwar existieren in einzelnen Bereichen europäische Anbieter – etwa Cloud-Dienste wie Ionos, OVHcloud oder Hetzner sowie Collaboration-Tools wie Nextcloud, ProtonMail oder OpenProject. Doch für viele KMU sind diese Lösungen bislang keine vollwertige Alternative zu US-Produkten: Der Funktionsumfang ist oft geringer, die Integration komplexer, die Skalierbarkeit begrenzt.
Der Engpass liegt daher weniger im Geld als in der fehlenden Unterstützung, Standardisierung und politischen Rückendeckung, die es bräuchte, um einen echten Wandel einzuleiten. Solange diese Voraussetzungen fehlen, bleibt Europas digitale Unabhängigkeit ein ehrgeiziges Ziel – aber keine gelebte Realität. Denn wer seine digitalen Grundlagen nicht selbst kontrolliert, bleibt abhängig – technologisch, wirtschaftlich und politisch.


