Stillstand bei Europas Reformen
Vor etwas mehr als einem Jahr legte Mario Draghi in einem viel beachteten Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit Europas einen Reformplan vor. Ziel war es, die EU aus der Stagnation bei Produktivität, Innovation und Ideen zu führen. Bislang zeigt sich, dass das Reformtempo deutlich hinter den Erwartungen zurückbleibt.
Der Bericht Draghis und seiner Mitarbeiter wurde im Auftrag der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erstellt. Er sollte auf die wachsenden wirtschaftlichen und geopolitischen Herausforderungen Europas reagieren.
Dazu gehören das verlangsamte Produktivitätswachstum, globale Spannungen, zunehmender internationaler Wettbewerb und das Rückfallen in Schlüsselbranchen wie sauberen Technologien, Raumfahrt und Automobilindustrie.
Langsames Umsetzungstempo
Die bisherigen Ergebnisse sind überschaubar. Von den insgesamt 383 vorgeschlagenen Reformen wurden bislang lediglich 11 Prozent vollständig umgesetzt. Weitere 20 Prozent befinden sich in teilweiser Umsetzung, während 46 Prozent noch in der Vorbereitung stehen. Dieses Tempo ist, vorsichtig ausgedrückt, nicht überwältigend.
Ein kleiner Fortschritt ist erkennbar. Europäische Entscheidungsträger nehmen die Problematik der Abhängigkeit von kritischen Rohstoffen ernst, ohne die eine Energiewende nicht möglich wäre. In diesem Bereich wurden 33 Prozent der von Draghis Team vorgeschlagenen Maßnahmen umgesetzt.
In Branchen wie der Automobilindustrie, der Pharmaindustrie oder der Raumfahrt liegt die Umsetzungsquote jedoch bei null Prozent. Saubere Technologien wie Photovoltaik, Windparks oder Batteriesysteme erreichen lediglich 2,6 Prozent. Bei diesem Tempo wird es schwierig sein, die Wettbewerbsdefizite gegenüber China und den USA aufzuholen.
Strukturelle Herausforderungen der EU
Das Beispiel zeigt eine grundsätzliche Dysfunktion der EU, die zunehmend von Ökonomen, Experten und Politikern thematisiert wird. Fragmentierungen auf regulatorischer, kultureller, steuerlicher und ideologischer Ebene erschweren Reformversuche erheblich. Ein Ansatz könnte daher sein, Reformen stärker von den Mitgliedsstaaten ausgehend oder in kleineren Ländergruppen umzusetzen.
Ignacy Morawski bringt dies in einem Kommentar auf den Punkt. Die zweite Reaktionsmöglichkeit der EU auf den sich wandelnden internationalen Rahmen, Handelskonflikte und Chinas Expansion bestehe darin, die Realität anzuerkennen. Europa sei ein Zusammenschluss verschiedener Länder mit unterschiedlichen Interessen, Wirtschaftskulturen, Steuersystemen und Regulierungen.
Versuche, diese Vielfalt zu überwinden, führten meist nur zu negativen Reaktionen. Die Lösung liege darin, den Mitgliedstaaten größere Kompetenzen zu überlassen und die EU auf wenige kritische Bereiche zu konzentrieren, in denen Konsens erreichbar sei. Wenn Konsens schwer zu erzielen ist, solle dieser nur in ausgewählten Feldern angestrebt werden, möglicherweise in kleineren Ländergruppen.
Deutschlands Rolle im europäischen Reformstau
Für Deutschland bedeutet dies, dass nationale Initiativen zur Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft weiter an Bedeutung gewinnen. Während die EU insgesamt bei der Umsetzung von Reformen ins Stocken geraten ist, kann Deutschland seine Rolle als wirtschaftliches Fundament Europas nutzen. Gezielte Investitionen in Schlüsselbranchen wie saubere Technologien, Industrie und Forschung können den Anschluss an globale Wettbewerber sichern.


