Politik

Ukraine-Verhandlungen: Warum Europas Rettungsplan den Konflikt noch verschärfen könnte

Ein umstrittener US-Friedensplan setzt die Ukraine massiv unter Druck. Und Präsident Wolodomir Selenskyj kämpft gleichzeitig gegen innenpolitische Skandale sowie internationale Erwartungen. Die politische Lage spitzt sich so stark zu, dass selbst enge Partner zwischen Misstrauen und Solidarität schwanken. Jetzt entscheidet sich, ob Europa und die USA der Ukraine wirklich einen Ausweg eröffnen können.
27.11.2025 07:55
Lesezeit: 5 min
Ukraine-Verhandlungen: Warum Europas Rettungsplan den Konflikt noch verschärfen könnte
Selenskyj ringt um Unterstützung, während Europa und Washington um Einfluss konkurrieren. (Foto: dpa/Press Service Of The President Of Ukraine/AP) Foto: -

Politische Spannungen und ein belasteter Frieden

Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj beginnt eine der schwierigsten Phasen seit Beginn des Krieges. Nach einem Korruptionsskandal in seiner Regierung hat Kyjiw nun ein weiteres drängendes Problem. Die Vereinigten Staaten erhöhen erneut den Druck auf die Ukraine und nutzen dabei nach Ansicht vieler Beobachter die strategische Lage des Kremls. Auf dem Tisch liegt ein Plan, den politische Experten als besonders ungünstig für die Ukraine bewerten. Selenskyj versucht taktisch zu reagieren und bindet europäische Partner ein, doch am Ende muss sein Land wählen. Wie er selbst formuliert, geht es darum, entweder einen wichtigen Partner zu verlieren oder die eigene Würde preiszugeben. Das berichten die Kollegen des Wirtschaftsportals Verslo žinios.

Der Leiter des Instituts für Weltpolitik in der Ukraine, Wiktor Schlinčakas, erklärte in diesem Zusammenhang, dass Selenskyj bei politischer Bedrängnis meist in die Offensive gehe. Noch vor der Veröffentlichung des umstrittenen amerikanischen Plans mit achtundzwanzig Punkten wirkte Selenskyj politisch angeschlagen. Er hatte erheblichen Unmut ausgelöst, weil er die Kompetenzen jener Antikorruptionsbehörden beschneiden wollte, die enge Vertraute seines Umfelds untersuchen. Als die Behörden die Beteiligung einiger seiner Verbündeten an einem großangelegten Bestechungssystem offenlegten, forderten Parlamentsabgeordnete eine Misstrauensabstimmung gegen die Regierung. Gleichzeitig nahm auch der Druck aus Washington zu, offenbar durch russische Einflussnahme begünstigt. Der Plan, der aus Sicht vieler Ukrainer die Interessen Moskaus widerspiegelt, löste erhebliche Wut aus. Selenskyj reagierte sofort und veröffentlichte eine Videobotschaft mit klarer Symbolik. In derselben Straße, in der er am zweiten Tag der Invasion erklärt hatte, im Land zu bleiben, rief er seine Bevölkerung zum Zusammenhalt auf. Er forderte Bürger und Politiker auf, Streitigkeiten beizulegen und politische Spiele zu beenden. Selenskyj präsentierte das amerikanische Angebot als Wahl zwischen der Aufgabe der amerikanischen Unterstützung oder der Preisgabe der ukrainischen Würde bei einer Annahme russischer Bedingungen. Er bereitete die Bevölkerung auf mögliche Kompromisse vor und distanzierte sich gleichzeitig vom Plan, indem er den amerikanischen Druck offen benannte.

Ukraine-Friedensplan: Widerstand gegen amerikanische Forderungen

Analysten verweisen darauf, dass die Bevölkerung der Ukraine trotz interner politischer Konflikte während des Krieges stets den existenziellen Charakter der Bedrohung im Blick behielt. Auch jetzt werde die Gesellschaft Selenskyj in den Verhandlungen unterstützen. Wiktor Schlinčakas sagte der New York Times, dass Selenskyj als einziger legitimer Vertreter der Ukraine wahrgenommen werde, der den weit verbreiteten Überzeugungen Ausdruck verleihe, wonach kein von Russland aufgezwungener Kapitulationsplan unterschrieben werden könne. Selenskyjs politische Zukunft hängt eng davon ab, wie er die Verhandlungen mit der Regierung von Donald Trump bewältigt. So stark wie selten zuvor eingeengt, versucht er, zwischen einem festgefahrenen und für die Ukraine ungünstigen Friedensangebot und den roten Linien seines Landes zu navigieren. Um Erfolg zu haben, benötigt er sowohl gesellschaftliche Unterstützung als auch Rückhalt der europäischen Partner.

Seit Beginn des Krieges gilt Selenskyj als gereifter Politiker. Als Russland im Februar zweitausendzweiundzwanzig einmarschierte, war er nicht besonders beliebt. Sein Entschluss, im bombardierten Kyjiw zu bleiben und sich öffentlich an die Bevölkerung zu wenden, änderte jedoch die politische Wahrnehmung grundlegend. Er gelang es, die Nation und einen Großteil der internationalen Gemeinschaft zu mobilisieren. Auch spätere Krisen meisterte er. Ein drohender Munitionsmangel wurde durch die schnelle Umstellung auf Drohnenproduktion abgefedert. Mit häufigen, emotionalen Appellen an die amerikanischen Gesetzgeber konnte er die Unterstützung aus Washington zumindest teilweise wiederbeleben. Experten führen seine politischen Erfolge auf seine Kommunikation zurück, die er in diesem Jahr durch eine neue Taktik ergänzte. Unter starkem Druck aus Washington wandte er sich wiederholt an europäische Regierungen, um Unterstützung zu erhalten. So reagierte er auch auf den jüngsten amerikanischen Vorstoß. Der vorgelegte Plan sah vor, dass die Ukraine den gesamten Donbas aufgeben und ihre Streitkräfte massiv reduzieren sollte. Damit erfüllte er zentrale Wünsche Moskaus.

Europa legt einen Gegenentwurf vor

Die europäischen Staaten präsentierten innerhalb kurzer Zeit eine abgeschwächte Fassung des amerikanischen Vorschlags. Der Gegenentwurf sieht vor, dass die Ukraine keine von ihr kontrollierten Gebiete abtreten muss und dass die besetzten Regionen nicht als russisches Staatsgebiet anerkannt werden. Außerdem soll die ukrainische Armee auf achthunderttausend und nicht auf sechshunderttausend Soldaten begrenzt werden. Die eingefrorenen Gelder des russischen Staates innerhalb der Europäischen Union würden nur dann freigegeben, wenn Moskau eine Entschädigung für die Kriegsschäden zahlt. Zudem würde der Beitritt zur NATO nicht vollständig ausgeschlossen und Russland erhielte keine Amnestie für Kriegsverbrechen. Ein weiterer Punkt betrifft mögliche Wahlen, die möglichst bald, jedoch nicht sofort abgehalten werden sollen.

Nach zwei intensiven Verhandlungsrunden einigten sich Delegationen der USA und der Ukraine auf mehrere Punkte, während die schwierigsten Fragen, darunter territoriale Streitfragen und das Verhältnis zwischen NATO, Russland und den USA, den Präsidenten Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj vorbehalten bleiben. Der gesamte Plan wurde bislang nicht veröffentlicht. Der stellvertretende ukrainische Außenminister Serhij Kyslytsia erwähnte gegenüber der Financial Times, dass es nun ein Dokument mit neunzehn Punkten gebe. Der Präsident habe mithilfe Europas zumindest einige Formulierungen zu Gunsten der Ukraine verändert.

Die EU-Botschafterin in der Ukraine, Katarina Mathernova, betonte die außergewöhnliche Fähigkeit Selenskyjs, europäische Unterstützung zu gewinnen. Sie verwies auf seine erfolgreiche Kommunikation, die dem Land Waffen, Finanzmittel und diplomatische Rückendeckung eingebracht habe. Der ehemalige deutsche Verteidigungsbeamte Nico Lange erklärte im Wall Street Journal, dass kein ukrainischer Präsident, schon gar nicht ein durch einen Korruptionsskandal geschwächter Selenskyj, die politische Autorität besitze, einen solchen Vorschlag wie die ursprüngliche amerikanische Version zu akzeptieren. Dies würde seinen politischen Untergang bedeuten. Besonders umstritten war die amerikanische Forderung, auch solche Gebiete aufzugeben, die Russland nicht kontrolliert. Der Oppositionsabgeordnete Jaroslaw Schelesnjak betonte, dass die ukrainische Gesellschaft nicht bereit sei, Zugeständnisse zu machen. Auch wenn Selenskyjs Beliebtheit gesunken sei, bleibe der politische Wille der Bevölkerung unverändert. Die Probleme des Präsidenten würden die Fähigkeit des Landes zu verhandeln nicht beeinträchtigen, auch wenn dies in Washington anders gesehen werde. Experten wie der frühere Außenminister Dmytro Kuleba gehen davon aus, dass sich die Lage der Ukraine auf dem Schlachtfeld im kommenden Jahr weiter verschlechtern könnte, während Russlands Forderungen noch härter werden. Dennoch hätte ein Nachgeben gegenüber den Forderungen Washingtons seiner Einschätzung nach noch gravierendere Folgen. Kein Politiker würde einen Plan akzeptieren, den die Gesellschaft klar ablehnt.

Innenpolitische Belastungen und europäische Bedeutung

Gleichzeitig muss Selenskyj innenpolitische Krisen bewältigen. Erst vor wenigen Wochen entließ er die Minister für Justiz und Energie, nachdem eine unabhängige Antikorruptionsbehörde Beweise veröffentlicht hatte, die sie mit einem Korruptionsnetzwerk in Verbindung brachten. Dieses soll nach Angaben der Ermittler von einem ukrainisch israelischen Unternehmer aufgebaut worden sein, der früher in die Produktionsfirma investierte, die Selenskyj vor seiner politischen Karriere gegründet hatte. Gegen ihn liegt inzwischen ein internationaler Haftbefehl vor. Der Politologe Mykola Dawydjuk argumentiert, dass Selenskyj den Bürgern zeigen müsse, dass Reformen begonnen wurden und die Regierung auch ohne Neuwahlen erneuert wurde. Der Präsident erlebte bereits im Sommer dieses Jahres, wie stark die öffentliche Meinung sein Handeln beeinflussen kann. Als er per Gesetz die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörde beschneiden wollte, kam es zu Massenprotesten, die ihn zum Rückzug zwangen. Es existieren jedoch keine Belege, die Selenskyj persönlich mit Korruption in Verbindung bringen. Olexij Hontscharenko, ein Abgeordneter der Opposition, sieht in dem Skandal einerseits einen Vorteil für die russische Propaganda, andererseits ein Zeichen funktionierender demokratischer Strukturen. Die Antikorruptionsbehörden seien unabhängig genug, um auch enge Vertraute des Präsidenten zu untersuchen. Dies stärke das Vertrauen in internationale Partnerschaften. Kein bedeutender ukrainischer Politiker forderte bislang einen Rücktritt Selenskyjs oder Neuwahlen vor Ende des Krieges.

In einer Ansprache nach Erhalt des amerikanischen Friedensplans rief der Präsident dazu auf, innere Streitigkeiten zu beenden, um eine Spaltung des Landes zu verhindern. Er betonte, dass die Ukraine alles tun werde, um einen Frieden zu erreichen, der nicht das Ende des eigenen Staates bedeutet. Der frühere Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk erklärte, dass der ursprüngliche amerikanische Vorschlag keine Wahl zwischen einem schlechten Frieden und einem schlechten Krieg darstelle. Da es keine tatsächliche Friedensgrundlage gebe, interpretierten viele Ukrainer das Angebot lediglich als Vorteil für Russland. Vor allem Soldaten lehnen jede Form eines Gebietsverlustes ab, da dies als strategische Schwächung des Staates wahrgenommen wird. Der Militärexperte Franz Stefan Gady warnte vor möglichen Konflikten zwischen Regierung und Armee, falls Kyjiw strategisch wichtige Städte im Donbas kampflos aufgeben würde. Auch Tymofij Mylowanow, Präsident der Kyjiwer Wirtschaftsschule und früherer Wirtschaftsminister, erklärte, dass selbst ein zeitweiser Verlust amerikanischer Unterstützung den Kampfeswillen der ukrainischen Armee nicht brechen werde. Die Bevölkerung wisse, dass ein Nachgeben zu noch höheren Verlusten führen würde. Ein Abkommen könne nur dann angenommen werden, wenn die Menschen davon überzeugt seien, dass ihre Sicherheit gewährleistet ist und der Krieg nicht wieder aufflammt.

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