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Was Joachim Gauck über die deutsche Arbeitswelt wissen sollte

Lesezeit: 9 min
01.06.2014 02:20
Bundespräsident Joachim Gauck hat mit seinen Äußerungen, dass es den Deutschen zu gut gehe, für Aufregung gesorgt. Die Fakten zeigen: Millionen Deutsche können von ihrer Arbeit nicht leben. Viele werden krank oder stürzen in die Armut. Im europäischen Vergleich steht Deutschland schlecht da. Eine Sachverhaltsdarstellung - Teil 2.

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Unter den Bedingungen dieses neoliberalen Turbokapitalismus spielt die Psyche massenhaft nicht mehr mit. Die Deutschen nehmen heute doppelt so viele Antidepressiva wie noch vor zehn Jahren. Jedes Jahr kommen fast elf Millionen Tage zusammen, an denen Menschen, die an einer Depression erkrankt sind, nicht zur Arbeit gehen können. Dabei beschränkt sich die Depression nicht auf einen Lebensbereich. Sie erhöht auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Demenzerkrankungen. Sie grenzt die Betroffenen oft aus ihrem sozialen Umfeld, aus ihrem Freundeskreis und ihrer Familie aus. Depressionen sind Hauptursache für Arbeitsunfähigkeit oder Frühverrentung. Und etwa 7.000 Menschen treiben sie jedes Jahr in den Suizid, fast doppelt so viele Menschen, als im Straßenverkehr umkommen.

Weltweit sind Depressionen nach Rückenschmerzen der wichtigste Grund für Arbeitsunfähigkeit geworden. Eine bahnbrechende Studie wurde 2011 vom European College of Neuropsychopharmacology und dem European Brain Council unter der Leitung von Prof. Hans-Ulrich Wittchen veröffentlicht. Sie deckt 30 Länder in Europa ab und belegt, wie mentale Störungen zur größten gesundheitlichen Herausforderung des 21. Jahrhunderts geworden sind. Vor allem Frauen sind von Depressionen betroffen und die vor allem im Alter von 16 bis 42 Jahren, wenn sie versuchen müssen, den beruflichen Druck und den der Familie zu bewältigen. Ihr Risiko, an einer Depression zu erkranken, hat sich gegenüber den 70er-Jahren verdoppelt. Fast jede siebte Frau ist heute betroffen. Fast ein Drittel aller vorzeitigen Todesfälle bei Frauen und fast ein Viertel bei Männern sind so verursacht.

Allgemein ist der Gesundheitszustand der Deutschen im westeuropäischen Vergleich ohnehin eher schlecht. Mit 65 Jahren ist die statistische Erwartung weiterer gesunder Lebensjahre am unteren Ende des Vergleichsfeldes (Abb. 15080). Der Anteil von Menschen mit langanhaltender starker gesundheitlicher Behinderung ist der höchste im Vergleichsfeld. Bei den Krankenhausentlassungen nach psychischer Erkrankung hat Deutschland einen traurigen Spitzenplatz (Abb. 15674). Die Barmer Ersatzkrankenkasse, die größte gesetzliche Versicherung, berichtet in ihrem Krankenhausreport 2013, die Krankenhausverweilzeiten unter der Diagnose von psychischen Störungen seien im Vergleich zu 1990 bis 2012 um 67 % angestiegen (Abb. 17891).

In dem entsprechenden Report 2011 hat sie die Daten von mehreren Millionen Patienten für 2010 ausgewertet. 2010 landeten über doppelt so viele Menschen wegen Depressionen im Krankenhaus wie zehn Jahre zuvor. Nach der Krankenhausstatistik des Statistischen Bundesamts wurden bei den nach vollstationärer Behandlung Entlassenen seit dem Jahr 1994 immer häufiger „Psychische und Verhaltensstörungen“ als Diagnose angegeben; deren Zahl stieg bis 2011 in nur 17 Jahren um mehr als die Hälfte auf 1,2 Millionen an.

Nach der neuen Gesundheitsstudie des Robert Koch-Instituts von 2013 ist etwa jeder zehnte Erwachsene (14 % der Frauen und 8 % der Männer) stark und andauernd gestresst, wobei der Anteil bei den 18- bis 29-Jährigen auf knapp 13 % steigt. Zu ähnlich alarmierenden Ergebnissen kommt eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse vom Oktober 2013. Darin hat jeder Fünfte angegeben, in Dauerstress zu leben, wobei es bei Frauen allein sogar ein Viertel ist und hier Höchstwerte im Alter zwischen 36 und 45 Jahren erreicht werden. Bei den Frauen sagen fast sechs von zehn, ihr Leben sei in den vergangenen drei Jahren stressiger geworden, bei den Männern ist es knapp jeder zweite.

Je jünger, desto mehr Befragte meinen, dass ihr Stresslevel in den letzten Jahren angestiegen sei. Ganz oben auf der Liste der Stressfaktoren steht die Arbeit - also Beruf oder Schule und Studium. So grassieren Depressionen neuerdings und anders als früher vor allem bei jüngeren Menschen. Dabei werden unter den Jugendlichen Lehrlinge verstärkt ausgenützt, indem man sie immer längere Zeiten als Arbeitskräfte statt als Auszubildende einsetzt: zwischen 2000 und 2007 durchschnittlich ein Viertel mehr bei einfachen Arbeiten und sogar zwei Drittel mehr in Fachkräftetätigkeiten. Die Ausbeutung der Arbeitskraft auch junger Menschen kennt keinen Halt.

Der sozio-ökonomische Status (SES) spielt beim Stress eine große Rolle. Bei den Frauen mit niedrigem SES ist mehr als jede Fünfte stark gestresst (20 %), bei den Frauen mit hohem SES geht es hingegen nur etwa jeder neunten so (11 %). Je ungleicher die soziale Entwicklung wird, umso mehr sammelt sich also der Stress bei den ohnehin Benachteiligten an. Gestresste Menschen leiden auch häufiger an Folgeerkrankungen wie Burnout-Syndrom, einer depressiven Gemütslage oder Ein- und Durchschlafproblemen. Nach Ansicht der Autoren der DEGS-Gesundheitsstudie belegen die Ergebnisse eindrücklich einen hohen Zusammenhang zwischen Belastungen durch chronischen Stress und psychischen Beeinträchtigungen durch depressive Symptome, Burnout-Syndrom und Schlafstörungen. Natürlich ist Arbeit nicht der einzige Stressfaktor, jedoch ein besonders wichtiger.

So steigt seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts die Arbeitsunfähigkeit durch psychische Erkrankungen besonders stark an. Allein in den fünf Jahren bis 2012 haben die Arbeitsunfähigkeitstage um 41 % zugenommen. In den letzten 14 Jahren kam es zu mehr als einer Verdoppelung (Abb. 14792). Die Burnout-Fälle (Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung) haben ebenfalls stark zugenommen und betreffen schon jedes zehnte Mitglied der AOK-Versicherten (Abb. 17340). Nach einer Hochrechnung im Fehlzeitenreport waren 2011 mehr als 130.000 der gesetzlich krankenversichert Beschäftigten wegen eines Burnouts krankgeschrieben. Das ergab insgesamt 2,7 Millionen Fehltage.

Die Belastungen führen auch dazu, dass immer mehr Menschen - trotz der damit verbundenen finanziellen Einbußen - vorzeitig in Rente gehen. Nach den Zahlen der Deutschen Rentenversicherung bezogen 2011 knapp 700.000 Menschen erstmalig ihre Altersrente. Knapp die Hälfte von ihnen bekam nicht ihr volles Ruhegeld ausgezahlt, weil sie nicht bis zur Regelaltersgrenze von 65 Jahren gearbeitet hatten. Besonders betroffen sind Krankenpfleger, Erzieher und Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor. Insgesamt hatten bei den 64-Jährigen im Juni 2012 nur noch 14,2 % einen Job. Nach einer neuen repräsentativen Umfrage des Marktforschungsinstituts GfK vom Januar 2014 wollen nur 28 % der Beschäftigten von 45 bis 60 Jahren bis zum gesetzlichen Rentenalter voll erwerbstätig bleiben. Etwa jeder vierte Befragte will in den letzten Jahren vor der Rente nur noch in Teilzeit arbeiten. Ungefähr jeder Dritte möchte zwar bis zum Schluss voll arbeiten, aber vorzeitig in Rente gehen. Lediglich 8 % der Beschäftigten geben an, auch nach dem gesetzlichen Renteneintrittsalter noch ganz oder in Teilzeit arbeiten zu wollen.

Jetzt hat sich im Januar 2014 die Bundespsychotherapeutenkammer mit einer aufschlussreichen und zugleich alarmierenden Studie in Auswertung der Statistiken der Kranken- und Rentenversicherungen zur Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung gemeldet. Danach sind im Jahr 2012 75.000 Menschen wegen psychischer Erkrankungen in Frührente gegangen. Das sind 50 % mehr als vor zehn Jahren. Im Durchschnitt waren die Frührentner, die ihren Job wegen einer psychischen Erkrankung aufgeben mussten, erst 49 Jahre alt, und mehr als ein Viertel gilt als arm, zumal eine Erwerbsminderungsrente durchschnittlich nur rund 600 Euro beträgt. Psychische Erkrankungen sind bereits für 42 % aller Frührentner der Grund für die vorzeitige Pensionierung. Nach Ansicht von Kammerpräsident Richter werden psychisch kranke Frührentner praktisch abgeschrieben.

Die Zahlen derer, die Arbeitslosengeld bekommen (907.000 Menschen) oder die amtlich als arbeitslos gezählt werden (2.9 Millionen Menschen) täuschen ein falsches Bild vor. Zieht man die ab, die angeblich gar keine Arbeit suchen, so bleiben immer noch 10,6 Millionen Menschen ohne reguläre Arbeit, einschließlich der 4,4 Millionen Hartz-4-Aufstocker, die von ihrer Arbeit nicht leben können, übrig (Abb. 18357).

Besonders schlecht sind die schon mehr als ein Jahr Arbeitslosen dran, die auf Hartz-IV-Niveau abgerutscht sind und deren Anteil an allen Arbeitslosen mit fast der Hälfte oder 1,3 Millionen in Deutschland besonders hoch ist. Nur die Eurokrisenländern Irland, Griechenland und Portugal sowie Belgien haben in Westeuropa noch höhere Anteile. Nach einer Untersuchung aus 2013 gehören dazu als harter Kern 435.000 dauerhaft Langzeitarbeitslose, die kaum Chancen auf Vermittlung haben, zumal sich die öffentlich geförderte Beschäftigung inzwischen nahezu ausschließlich auf fragwürdige Ein-Euro-Jobs beschränkt. Von diesen dauerhaft Arbeitslosen sind 300.000 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren abhängig.

Im Schatten des sozialen Arbeitslosen-Elends und davon profitierend hat sich um die Jobcenter der Arbeitslosen herum eine blühende „Sozialindustrie“ entwickelt, die viel kostet aber zu oft wenig am Elend ändern kann. Das sind einerseits die „Gemeinnützigen Gesellschaften mit beschränkter Haftung“, kurz gGmbH. Derzeit gibt es etwa 4.000 davon, die tausende Sozialpädagogen, Therapeuten und Kulturschaffende beschäftigen, um Arbeitssuchende fortzubilden. Bis zu 600 Euro soll es monatlich für einen Fortzubildenden geben. Wenn eine solche gGmbH beispielsweise 1.400 Fortzubildende betreut, macht das schon einen ordentlichen und profitablen Umsatz aus. Von Jobzentren in solche Maßnahmen Gezwungene sollen von bis zu 10 Maßnahmen berichten, die sie ohne größeren Erfolg nacheinander über sich ergehen lassen mussten. Dann gibt es noch die privaten Arbeitsvermittler. Die sind zusätzlich zu den tausenden von direkt bei der Bundesagentur für Arbeit und bei den Jobcentern angestellten und verbeamteten öffentlichen Arbeitsvermittler tätig. Die Jobcenter geben Vermittlungsgutscheine aus, mit denen der Arbeitssuchende zu den privaten Vermittlern gehen kann. Die erhalten für sechs Wochen Beschäftigung des Vermittelten 1.000 Euro und weitere 1.000 Euro nach weiteren sechs Monaten, bis das Ganze bei negativem Ausgang von Neuem beginnen kann, denn dauerhafte Erfolge sind in der Regel relativ selten.

Arbeitslosigkeit und selbst die Angst vor Arbeitslosigkeit werfen tiefe Gräben in der deutschen Sozialstruktur auf. Menschen in Angst neigen zur Anpassung. Arbeitslosigkeit im Millionenbereich drückt auf die Arbeitseinkommen. Arbeitslose bekommen das Stigma zu spüren. Zeiten von Arbeitslosigkeit sorgen für viel zu kleine Renten und für Altersarmut mit deprimierenden Verhältnissen in Alters- und Pflegeheimen, die die Eliten allenfalls aus der Zeitung kennen oder besser gar nicht erst zur Kenntnis nehmen.

Im Schatten der Arbeitslosigkeit versteckt sich bittere Armut. Nach einer Meldung des Statistischen Bundesamts vom Mai dieses Jahres lebte 2012 ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland in privaten Haushalten, die nach eigener Einschätzung nicht in der Lage waren, unerwartet anfallende Ausgaben aus eigenen Finanzmitteln zu bestreiten. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Ausgaben für größere Anschaffungen oder Reparaturen. Auf Urlaubsreisen mussten knapp 22 % der Bevölkerung aus finanziellen Gründen verzichten. Klammert man die derzeitigen Euro-Krisenländer aus der Betrachtung aus, so ist die Lage in Deutschland erheblich schlechter als sonst in Westeuropa: der 10. Platz unter 11 Ländern für die Unfähigkeit, unerwartete Ausgaben zu bestreiten (Abb. 18360), und der 9. Platz unter 12 Ländern für die Unfähigkeit, sich einen Urlaub zu leisten.

Die Spitze des Eisbergs an Armut sind die Gratis-Küchen, wo sich Armut zeigen muss. In Deutschland hat sich die Zahl der Tafeln von 330 im Jahr 2003 auf 916 in 2013 fast verdreifacht (Abb. 18041). Dazu gehören mehr als 3.000 Tafel-Läden und Ausgabestellen bundesweit mit ca. 60.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Sie unterstützen regelmäßig etwa 1,5 Millionen bedürftige Personen, davon ein Drittel Kinder und Jugendliche. Für den angeblichen Sozialstaat Deutschland ist schon das eine Schande. Die Zahl der Tafeln und der versorgten Personen ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Mit Sorge beobachten die Tafeln vor allem die steigende Anzahl der bedürftigen Kinder und Jugendlichen. Viele bieten inzwischen eigene Kinder- und Jugendprojekte an.

 

Nach einer neuen Studie des DGB unterstützte der Staat 2012 insgesamt 6,1 Millionen Bürger mit Hartz-IV-Leistungen. Von ihnen seien 4,4 Millionen im erwerbsfähigen Alter gewesen. Der Hartz-IV-Regelsatz belief sich in 2013 auf die Summe von 12,56 Euro pro Tag, darunter 4,46 Euro für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke und ganze 0,05 Euro für Bildung. Aus der Sicht eines Menschen, der an der Spitze der Bundesregierung ein Einkommen von rund 350 Euro netto pro Tag (einschließlich steuerfreier Aufwandsentschädigung) bezieht, sollte das eigentlich ein unvorstellbar tiefer sozialer Graben sein, der die Betroffenen im Schatten verschwinden lässt.

Mitte 2013 bezogen fast neun Millionen Menschen Arbeitslosengeld, Hartz-IV-Leistungen oder Sozialhilfe. Sie alle haben keinen richtigen Job und leben praktisch in Armut. Hinzu kommen noch sehr viele Menschen, die mit Rentenabschlag frühverrentet wurden, weil sie keine Arbeit finden konnten, und natürlich die nicht wenigen, die sich aus Scham oder anderen Gründen nicht beim Sozialamt melden wollen. Rund 1,08 Millionen Bundesbürger erhalten nach einer neuen Auswertung der Arbeitsagentur bereits seit 2005 durchgängig Hartz-IV-Leistungen. Im Westen liegt die Quote dieser Dauerbezieher bei fast 23 % und im Osten bei fast 28 %. Weil ihr Arbeitslosengeld zum Leben allein nicht ausreicht, ist inzwischen etwa ein Zehntel auch der kurzzeitig Erwerbslosen zusätzlich auf Hartz IV angewiesen. So gab es 2012 bundesweit über 83.000 Menschen, die zusätzlich zu ihrem Arbeitslosengeld I auch noch Hartz IV beziehen mussten.

Die Armutsgefährdungsquote ist von rund 10 % 1999 auf über 16 % 2012 erheblich angestiegen (Abb. 17356). Der Schwellenwert für Armutsgefährdung liegt nach der gebräuchlichen Definition bei 60 % des Medians des Nettoäquivalenzeinkommens der Gesamtbevölkerung. Um diese schrecklichen Begriffe verständlich zu machen: Damit war im Jahr 2012 in Deutschland armutsgefährdet, wer weniger als 980 Euro je Monat zur Verfügung hatte, was auf rund 13 Millionen Menschen zutraf. Einige Personengruppen waren besonders armutsgefährdet, so knapp 22 % der Frauen zwischen 18 und 24 Jahren, fast ein Drittel der Haushalte alleinstehender Männer oder Frauen, 39 % der Alleinerzieher, mehr als 69 % der Haushalte von Arbeitslosen, knapp 26 % derer mit niedrigem Bildungsabschluss und in ähnlicher Höhe der Anteil bei den Mietern.

Auch gilt „einmal arm, immer arm“. Fast 81 % der Personen, die 2011 unter der Armutsgefährdungsquote lagen, waren bereits in den vier Jahren zuvor zumindest einmal von Armut betroffen. Darunter sind nahezu 40 % dauerhaft arm, weitere 42 % haben in diesem Zeitraum Ab- und Aufstiege in und aus Armut erlebt. Armut ist in Deutschland heute also alles andere als eine gelegentliche Randerscheinung, die man vergessen könnte. Auch international sieht Deutschland bei der Armut nicht gut aus: In 12 Ländern Westeuropas ist die Armutsgefährdung geringer, nur in den 5 Euro-Krisenländern und Großbritannien ist sie höher.

Seit den Hartz-Gesetzen geht von der Gefahr der Arbeitslosigkeit ein enormer psychischer Druck auf alle Deutschen im arbeitsfähigen Alter aus, die nicht zu den Bevorrechtigten mit entsprechendem Vermögensstatus und absolut sicherem Job zählen. Erfasst werden davon auch qualifizierte Arbeitnehmer und sogar akademisch ausgebildete, vor allem in vorgerückten Altersgruppen. Am Beispiel der Hartz-4-Empfänger wurde im Oktober 2013 durch eine neue Studie unter Mitwirkung des bundeseigenen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bekannt, wie stark Armut auf die Psyche schlägt. Die darin ausgewerteten Daten der Techniker Krankenkasse für 2006 zeigen, dass seinerzeit 22 % der berufstätigen Versicherten eine psychiatrische Diagnose gestellt bekommen hatten, doch Bezieher von Arbeitslosengeld II - also Hartz IV - waren schon zu 37 % betroffen. Noch brisanter sind die aktuelleren Daten der AOK, nach denen der Anteil von Hartz-IV-Beziehern mit psychischen Problemen an allen Hartz-4-Beziehern der AOK allein zwischen 2007 und 2011 um ein Viertel von knapp 33 % auf über 40 % gestiegen ist (Abb. 18240).

Der neue Datenreport des Statistischen Bundesamts von 2013 deckt ebenfalls auf, welche Folgen Armut für den Gesundheitszustand hat. So haben arme Männer und Frauen ein 2,7-beziehungsweise ein 2,4-fach erhöhtes Sterberisiko. Die mittlere Lebenserwartung von Männern der unteren Einkommensgruppe im Armutsgefährdungsbereich liegt fast 11 Jahre unter jener von Top-Verdienern. Bei Frauen beträgt die Differenz rund 8 Jahre (Abb. 17900). Dazu Roland Habich vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), unter dessen Aufsicht der Report entstanden ist: „Überspitzt könnte man die Befunde treffend so charakterisieren: Arme sterben früher.“ Leider ist das nicht überspitzt, sondern nur die traurige Wahrheit.

 

Lesen Sie den ersten Teil der Analyse hier.

 

Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.

Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.

 


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