Politik

Eisberg voraus: In der Krise versagt die EU als Egoisten-Union

Lesezeit: 5 min
12.07.2015 02:58
Der EU droht der Zerfall wegen moralischer Insuffizienz. Sowohl bei Griechenland als auch in der Flüchtlingsfrage versagen alle ethischen Sicherungssysteme. Das politische Establishment in Europa erweist sich als Ansammlung von Schreibtischtätern, ohne moralischen Kompass und ohne Sachverstand. Die Titanic hat am Eisberg angeschlagen. Die Besatzung diskutiert über die mangelhaften Baupläne des Schiffs. Das Unheil nimmt seinen Lauf.
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Es ist für den neutralen Beobachter völlig unverständlich, dass die EU in der Stunde der Krise offenbar geschlossen versagt.

Das eigentliche Problem sind in diesem Fall gar nicht so sehr die von der tatsächlichen Macht abgeschnittenen Institutionen in Brüssel, als vielmehr die Parteien in den Mitgliedsstaaten. Es fehlt ihnen am Sachverstand und am moralischen Kompass. Das ist eine tödliche Kombination. Das politische Handeln wird nur noch von der Droge des eigenen Machterhalts und der rastlosen Gier nach dem Machtgewinn geprägt.

Bis jetzt war die EU eine Schönwetter-Veranstaltung: Die Regierungen haben das Geld der Steuerzahler über den Kontinent verteilt, als gäbe es kein Morgen. Doch nun haben wir es mit zwei konkreten Herausforderungen zu tun: Der Griechenland-Krise und dem Flüchtlingsproblem. In beiden Fällen führt das Aufkommen von echten Problemen nicht zu einem engagierten Eingreifen, sondern zu einer Erosion der Solidarität. Niemand will über seinen Schatten springen. Die wirklich Notleidenden – die griechische Bevölkerung und tausende Flüchtlingen – sind bestenfalls Statisten. Ihr Schicksal spielt keine Rolle. Die Egoisten denken nur an sich: Wie halte ich meine Prinzipien hoch? Wie gewinne ich die nächste Wahl? Wie sichere ich meine Pfründe? Wie schiebe ich die Schuld einem anderen zu? Wie drücke ich mich aus der Verantwortung? Wie kann ich vielleicht von der Situation profitieren?

Die Machterhalter in den Regierungen verhalten sich genauso beschämend wie die sogenannten Euroskeptiker. Man hat den Eindruck, ihnen allen ist es völlig gleichgültig, ob ein ganzes Land mitten in der EU von einem Tag auf den anderen auf das wirtschaftliche Niveau eines Entwicklungslandes zurückgestoßen wird. Das ist aber keine theoretische Frage, sondern eine praktische, sehr konkrete Konsequenz.

Es ist im Grund hier und heute völlig bedeutungslos, wie es zu der Eskalation gekommen ist. Entscheidend ist, dass wir es mit „Gefahr im Verzug“ zu tun haben: Der juristische Begriff bedeutet im Grunde, dass man zum Handeln verpflichtet ist, wenn man eine Gefahr für Leib und Leben anderer erkennt. Es geht hier nicht um mittel- und langfristige Strategien oder gar um Rechthaberei. Für alle funktionierenden Gesellschaften gilt: In einer akuten Not-Situation müssen unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden, um Schaden von den Menschen abzuwenden. Diskutieren kann man später. In dieser Hinsicht sind die Amerikaner den EU-Politikern um ein moralisches Lichtjahr voraus: Die Amerikaner drängen seit Wochen auf eine Lösung in Griechenland. Mag sein, dass geopolitische Gründe eine Rolle spielen, weil Griechenland ein Nato-Mitglied ist. Doch für die notleidende griechische Bevölkerung ist das Nebensache. Sie schlittern dramatisch schnell zuerst in eine humanitäre Katastrophe und dann in ein wirtschaftliches Debakel, das 20 Jahre dauern kann. Die Amerikaner sind fassungslos, dass die EU hier nicht handelt.

Die Euro-Retter und die Euro-Gegner verhalten sich wie die betrunkene Crew auf der Titanic: Das Schiff rast auf einen Eisberg zu, tausende Menschenleben sind in Gefahr. Doch auf der Brücke greift keiner beherzt ins Steuer. Man diskutiert darüber, warum die Baupläne des Schiffes schlecht sind. Griechenland steht, wie der Guardian schreibt, vor der wirtschaftlichen und sozialen Implosion. Und Wolfgang Schäuble legt ein Papier vor, in dem er vorschlägt, Griechenland aus dem Euro zu werfen. Griechenland wird nicht nur aus Europa fliegen. Es fliegt aus der Zivilisation, wenn nicht sofort gehandelt wird.

Im Falle Griechenlands eint Euro-Retter und Euro-Gegner ein gefährlicher Realitätsverlust. Man streitet über Griechenland so, als hätte man alle Zeit der Welt. Doch de facto ist die Lage dramatisch. Die Banken sind seit zwei Wochen geschlossen. Die Lebensmittel werden knapp. Die soziale Stabilität ist auf der Kippe. Täglich strömen 1.000 Flüchtlinge nach Griechenland. Wenn Griechenland zusammenbricht, wird das ganze Land zum Flüchtlingslager. Es spricht für Alexis Tsipras, dass er sich dem langfristig falschen Programm unterwirft, weil er den unmittelbar drohenden Zusammenbruch abwenden will. Es tut nichts zur Sache, ob er sich an seine Versprechungen halten will: Wer vom Bürgerkrieg bedroht ist, darf auch taktieren. Er muss den Bürgerkrieg verhindern. Alles andere ist nachgeordnet.

Hätten die Euro-Retter einen moralischen Kompass, würden sie jetzt alles tun, um den Zusammenbruch in Griechenland zu verhindern: Die EZB müsste die ELA-Kredite sofort deutlich ausweiten, um die Wirtschaft wenigstens notdürftig zu stabilisieren. Parallel müsste ein ESM-Programm geben, um Griechenland bis zum Jahresende in die Balance zu bringen.

Es ist erschreckend, dass in der ganzen Debatte bisher nicht ein einziger kreativer Vorschlag gekommen ist. Würden die Euro-Retter ihre ewigen Sitzungen nicht dazu verwenden, sich gegenseitig austricksen zu wollen, müssten sie sagen: Das Austeritäts-Konzept ist gescheitert. Welchen Primärüberschuss Griechenland im Jahr 2015 liefert, ist völlig irrelevant. Wir können nicht ein Prinzip, das vor Jahren am Reißbrett entworfen wurden, blind fortschreiben. Eine Depression kann man nicht mit Steuererhöhungen und Sozial-Kürzungen bekämpfen. Die Austeriäts-Politik ist in Griechenland gescheitert (Grafik am Anfang des Artikels). Nun fällt den Euro-Rettern geschlossen nichts anderes ein, als darüber zu streiten, was besser sei: Weitere Austerität oder noch mehr Austeriät! Deutschland ist in den 1930er-Jahren in die Katastrophe gestürzt, weil die Reichsbank wegen des Gold-Standards die geldpolitische Reißleine gezogen hat. Man schickt sich bei Griechenland an, denselben Fehler zu wiederholen und ein Land sehenden Auges ins Unglück zu stürzen.

Wenn die Euro-Retter bei Sinnen wären, würden sie jetzt alle gemeinsam reinen Tisch machen: Die Lage der Wirtschaft in Spanien, Italien, Frankreich, Portugal, Slowenien und in den meisten osteuropäischen Staaten ist viel schlechter als die offiziellen Zahlen es ausweisen. Jeder weiß das. Doch man hält die Fiktion aufrecht, Griechenland könne als Einzelfall gesehen werden. Der Widerstand der Südeuropäer gegen die deutschen Hardliner signalisiert, dass auch in diesen Ländern der Zerfall droht. Doch das deutsche Griechen-Bashing ist genauso verkehrt wie das italienische Deutschland-Bashing.

Wenn die EU und ihre Mitgliedsstaaten Europa nicht insgesamt ins Unglück stürzen wollen, müssten sie noch im Juli einen gemeinsame Europa-Rettungs-Konferenz starten, in der offen über die faulen Kredite, die außer Kontrolle geratene Schulden-Spirale, die hohe Jugendarbeitslosigkeit, das Lohn-Dumping, die Gefährdung der Spareinlagen, die Austrocknung der Sozialsysteme und das Flüchtlingsproblem diskutiert werden. Doch dies kann nur geschehen, wenn nicht jeder mit einer „hidden agenda“ antritt. Die europäischen Probleme müssten als gemeinsame Probleme anerkannt und gelöst werden. Der Euro mag sich dann als ein Problem darstellen. Das muss adressiert und offensiv gelöst werden.

Doch dies ist der zweite Schritt: Der erste Schritt muss sein, kurzfristig den Zusammenbruch in Griechenland zu verhindern und gleichzeitig eine verbindliche Roadmap für die Flüchtlinge zu finden. Bis jetzt hat man die Rechtsextremen in der EU verbal isoliert. Die konkrete Politik allerdings hat sich nach dem möglichen Erfolg der Rechten ausgerichtet: Man tut so, als wenn alle Bürger in Europa morgen zu den Rechten laufen – und will deren Erfolg verhindern, indem man vorauseilend ihre Politik antizipiert. Das wird nicht funktionieren. Marine Le Pen wittert Morgenluft. In Griechenland hat die rechtsextreme Goldene Morgenröte als einzige Partei gegen die Austerität gestimmt. Sie sind bereits die drittstärkste Kraft im Parlament.

Die Union der Egoisten hat zu einem Revival des Nationalismus geführt. Griechenland? Nicht unser Problem? Flüchtlings-Quote? Sollen die anderen sehen, wie sie zu Rande gekommen. Schuldenschnitt? Kommt nicht in Frage! Besonders unangenehm ist die Tatsache, dass die griechischen Schulden für die europäischen Steuerzahler nur deshalb so ein Problem sind, weil die EU im Jahr 2012 die Banken gerettet hat und die Schulden auf den Steuerzahler abgewälzt hat. Nun fürchtet man die Stunde der Wahrheit. Doch sie ist angebrochen, unerbittlich, und am Zahltag wird sich der Zorn der Bürger gegen ihre Regierungen richten.

Kann man die Titanic noch auf Kurs bringen? Der Eisberg bricht sich bereits am Bug. Wir hören das Splittern von Glas. Die Reling zerbirst, Wasser dringt in den Rumpf ein.

Griechenland ist das Leck, an dem sich das Schicksal der EU und damit auch das Schicksal Europas entscheiden. Die Flüchtlinge sind die ersten, die über Bord gehen. Stopft das Leck, indem ihr Euch an Eure Werte erinnert. Jagt die Kapelle aus dem Tanzsaal an Deck, damit sie sehen, was passiert, und helfen. Lasst die Rettungsboote zu Wasser. Alles andere ist zweitrangig. Wer zu spät hilft, den wird die Geschichte bitter bestrafen.


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