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Flüchtlinge: EU diskutiert Wiedereinführung der Grenzkontrollen

In der EU wird ernsthaft darüber diskutiert, die Grenzkontrollen wegen der Flüchtlinge wieder einzuführen. Das Ende von Schengen droht - weil die EU-Staaten nicht in der Lage sind, das Flüchtlingsproblem menschenwürdig und solidarisch zu lösen.
24.07.2015 01:02
Lesezeit: 2 min

In einer interessanten Analyse beleuchtet Andreas Rinke von Reuters die Möglichkeit, dass wegen der ungelösten Flüchtlingsfrage die EU die Grenzkontrollen wieder einführen könnte:

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juni die Flüchtlingsfrage als größte europäische Herausforderung ihrer bisherigen Zeit im Amt bezeichnete, meinte sie damit nicht die Unterbringungsprobleme in Deutschland. Vielmehr drohe jetzt das Schengen-System mit Reisen ohne Grenzkontrollen zu kippen, warnte die Kanzlerin dann vor wenigen Tagen - also ausgerechnet einer der Punkte, die viele Bürger an der EU am meisten schätzen. Schuld sind die zunehmenden Spannungen zwischen den EU-Staaten durch die wachsende Zahl von Flüchtlingen, von denen allein in diesem Jahr 150.000 über das Mittelmeer gekommen sind.

Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten sich zwar bereits im April zu einem Sondergipfel getroffen. Aber die Probleme sind damit noch lange nicht im Griff. Allen dämmerte nach Angaben von Diplomaten vielmehr, dass die Debatte gerade erst beginnt. Vor allem zwei Probleme muss die EU schnell in den Griff bekommen: erstens den Grenzschutz, weil Schengen-Länder wie Griechenland kaum noch einen effektiven Schutz gegen illegale Einwanderung bieten. Das Grundprinzip eines weitgehend kontrollfreien Raums ist aber, dass die Außengrenzen gut geschützt sein müssen. "Dass ausgerechnet Griechenland die wohl am schwersten zu schützende EU-Außengrenze hat, ist ein großes Problem", sagt der Vorsitzende des Europa-Ausschusses, Gunther Krichbaum.

Zweitens steht in der Debatte die Frage nach einer fairen Verteilung der Flüchtlinge zumindest über die Schengen-Staaten in der EU im Vordergrund. Italien und Griechenland sollen mit der Verteilung von 40.000 Flüchtlingen entlastet werden. Weitere 20.000 sollen direkt aus Ländern wie Syrien und Eritrea kommen. Aber beim Sammeln freiwilliger Angebote kommt die EU-Kommission bisher erst auf rund 55.000.

Deshalb kochen die Emotionen hoch. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi tobt als Hauptbetroffener, weil mehrere osteuropäische Staaten die auch von Deutschland und Frankreich geforderten Verteilungsquoten verhindert haben. Auch Merkel mahnte in der ARD, in der EU sei Solidarität nötig. Balten und Polen fordern etwa in der Russland-Politik Beistand der west- und südeuropäischen Partner ein. Dann müssten die bisherigen Auswanderungsländer aber auch bereit sein, den Südländern Lasten bei Flüchtlingen abzunehmen, mahnt die Kanzlerin.

Nur: Wo beginnt Solidarität? Italien und Griechenland haben den Ruf, Flüchtlinge oft ohne Registrierung nach Norden zu schicken. Nach dem Dublin-Abkommen ist aber derjenige Staat für ein Asylverfahren verantwortlich, in dem der Flüchtling erstmals EU-Boden betritt und als Einreisender registriert wird. Dass Zehntausende Asylbewerber in Bayern, Baden-Württemberg oder Österreich ihren Erstantrag stellen, deutet darauf hin, dass Dublin bereits gescheitert ist. Deshalb fühlt sich auch Ungarn ungerecht behandelt. Als Schengen-Außenstaat hat es in diesem Jahr mehr als 60.000 über die serbische Grenze kommende Flüchtlinge aufgenommen. Jetzt fühlte sich Ungarn bestraft, weil es die Ankommenden brav registriert hat - und nun auch dafür verantwortlich sein soll, wenn sie sofort nach Deutschland oder Schweden weiterreisen.

Wegen dieser Missstimmungen mahnt Merkel eine Reform an. Gebe es keine Lösung, werde das Schengen-Abkommen keinen Bestand haben. Auch der Abgeordnete Krichbaum räumt ein: "Diese Verbindung zwischen Dublin-Reform und Überleben der Reisefreiheit sehe ich auch." Längst ist dies keine theoretische Debatte mehr. Frankreich etwa sperrte vor wenigen Wochen einen Grenzübergang zu Italien, um keine Flüchtlinge ins Land zu lassen. Dänemark hatte bereits vor Jahren mit dem Verweis auf illegale Einwanderung über Grenzkontrollen an der Grenze zu Deutschland diskutiert. Das vermischt sich mit der von Großbritannien begonnenen Debatte, ob man wegen des Zuzugs von EU-Bürgern aus Ost- und Südosteuropa auf die Insel nicht gleich die grundsätzliche Freizügigkeit innerhalb der Union beschränken sollte.

Wenn die EU-Kommission bald verkünden wird, wie viele Flüchtlinge verteilt werden können, hat man also erst ein Etappenziel erreicht. "Denn das Problem wird mit der Verteilung von 60.000 Flüchtlingen nicht beseitigt sein", warnt Nicolai von Ondarza, Europa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Im Vergleich zur wachsenden Größe des Problems ist dies sehr wenig." Die meisten Experten erwarten deshalb, dass am Ende doch ein verbindliches Verteilsystem kommen muss. Bei dem Pilotprojekt gehe es eher um einen Test, ob es "eine Möglichkeit für eine gleichmäßigere und damit gerechtere Verteilung" gebe, sagt der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer.

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