Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie waren Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank und galten als Kandidat für das Amt des EZB-Präsidenten. Stattdessen sind Sie im Herbst 2011 als Chefvolkswirt zurückgetreten. Warum?
Jürgen Stark: Mehrere Faktoren spielten eine Rolle. Entscheidend war aber der Bruch des Maastricht-Vertrages durch die europäischen Regierungen mit Unterstützung der EZB im Mai 2010. Innerhalb weniger Stunden wurde das Maastricht-Konzept der Wirtschafts- und Währungsunion ausgehebelt. Es wurde gegen das Prinzip der „Nicht-Beistandspflicht“, also gegen die „no bail-out“-Klausel verstoßen, mit der die Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für ihre öffentlichen Haushalte festgelegt war. Die EZB hatte begonnen, griechische, dann irische und portugiesische Staatsanleihen zu kaufen. Dies wurde geldpolitisch begründet. In Wirklichkeit bedeutete das Staatsfinanzierung. Damit handelte sie außerhalb ihres Mandats und verstieß gegen das Verbot der monetären Finanzierung von Staatshaushalten. Heute tut sie das in einem gigantischen Ausmaß.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welches war nun der konkrete Auslöser für Ihren Rücktritt?
Jürgen Stark: Das war die Entscheidung des EZB-Rates im August 2011, italienische und spanische Regierungsanleihen zu kaufen. Dazu mussten sich die Regierungen beider Länder gegenüber der EZB und öffentlich zu Wirtschaftsreformen und zu weiterer Haushaltskonsolidierung verpflichten. Die EZB wurde also zum politischen Akteur. Ein solches politisches Mandat hat die EZB aber nicht. Eine unabhängige Zentralbank darf auch ihr Handeln nicht vom Verhalten Dritter abhängig machen. Tut sie es dennoch, betreibt sie keine Geldpolitik mehr. Auch fehlte in diesem Fall jegliche demokratische Kontrolle. Für mich war diese neue Rolle der EZB inakzeptabel. Daraus habe ich die Konsequenzen gezogen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Aber vor Ihrem Rücktritt und nachdem der damalige Bundesbank Präsident Axel Weber als Kandidat für die Nachfolge Trichets nicht mehr zur Verfügung stand, wurden Sie als möglicher deutscher Nachfolger gehandelt ….
Jürgen Stark: Das Amt des EZB-Präsidenten war für mich schon aus rechtlichen Gründen kein ernstes Thema. Ich war als Mitglied des EZB-Direktoriums für eine Amtszeit von acht Jahren bestellt und eine zweite Amtszeit ist nach den EZB-Statuten ausgeschlossen. Nachdem Weber das Handtuch geworfen hatte gab es in der damaligen Regierungskoalition in Berlin die Überlegung, doch einen Deutschen zu präsentieren. Dabei soll mein Name genannt worden sein. Es ging offenbar darum, für meine damalige Restamtszeit in der EZB von zweieinhalb Jahren übergangsweise das Präsidentenamt zu übernehmen. In einem Gespräch mit der Bundeskanzlerin habe ich deutlich gemacht, dass dies für mich allein schon wegen der unklaren Rechtslage nicht infrage kommt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Hätten Sie sich denn, wenn alle juristischen Voraussetzungen erfüllt gewesen wären, den Aufgaben als EZB-Präsident gestellt?
Jürgen Stark: Das ist eine hypothetische Frage. Ich war damals außerdem der Meinung, dass zweieinhalb Jahre eine zu kurze Zeit für einen Präsidenten sind. Heute muss ich sagen, dass die EZB in diesen Jahren einen fundamentalen Strategie- und Politikwechsel vollzogen hat. Das wäre vermeidbar gewesen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Seit Jahren hält die EZB die Zinsen niedrig, angeblich, um die Realwirtschaft anzukurbeln. Inzwischen ist sie sogar dazu übergegangen, Unternehmensanleihen zu kaufen. Doch die Wirtschaft in der Euro-Zone kommt nicht richtig in Gang. Glauben Sie, dass diese Medizin noch wirken wird?
Jürgen Stark: Zunächst ist festzuhalten: Wir haben Preisstabilität im Euro-Raum. Das rechtfertigt sehr niedrige Zinsen, nicht jedoch Null- oder sogar Negativzinsen. Der gesamte Politik-Ansatz, den die EZB seit 2012 und verstärkt seit 2014 verfolgt, gründet auf einer falschen Diagnose, einer neuausgerichteten kurzfristigen Zentralbank-Strategie und einem ungerechtfertigten und unverhältnismäßig hohen Mitteleinsatz. Gemessen an letzterem sind die Wachstumswirkungen eher mager und sie bleiben umstritten. Auch bestand und besteht keine wirkliche Deflationsgefahr! Das japanische Beispiel zeigt zudem, dass die Geldpolitik längst ihre Grenzen erreicht hat. „Noch mehr für länger“ löst nirgendwo die Wachstumsprobleme, insbesondere, wenn sie struktureller Natur sind.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wird es überhaupt möglich sein, von der „Droge Niedrigzinsen“ wieder wegzukommen?
Jürgen Stark: An einen Ausstieg aus der derzeitigen Politik denken weder die EZB, noch die englische oder japanische Zentralbank. Im Gegenteil, man nährt die Illusion durch eine Erhöhung der Dosis die Volkswirtschaften und Teile der Finanzmärkte weiter zu stützen. Die negativen Folgewirkungen dieser Politik werden ausgeblendet. Ein Null- oder Negativzins führt zu erheblichen Wettbewerbs- und Marktverzerrungen. Der Zinssatz, als einer der wichtigsten Preise in einer Volkswirtschaft, hat seine Signal- und Steuerungsfunktion verloren. Damit befinden sich die Volkswirtschaften im „Blindflug“. Das führt zwangsläufig zu wirtschaftlichen Verwerfungen. Der Kauf von Staatsanleihen durch das Eurosystem hat diesen Markt bereits ausgeschaltet und bei Unternehmensanleihen erheblich verzerrt. Aber manche Finanzmarktteilnehmer und die Finanzminister haben sich an diese Politik gewöhnt. Ein rascher geldpolitischer „Entzug“ würde zu abrupten Korrekturen auf den Finanzmärkten führen, an denen Übertreibungen festzustellen sind, also insbesondere bei den Vermögenspreisen. Und damit steuern wir in die nächste Krise.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Vielen Banken mit klassischem Geschäftsmodell fällt es nun schwer, Gewinne zu erwirtschaften. Viele Lebensversicherer und Pensionsfonds wissen nicht, wie sie ihre Renditezusagen einhalten können. Der Ankauf von Unternehmensanleihen führt – wie Sie sagen – zu Wettbewerbsverzerrungen, maßgeblich wohl zulasten des Mittelstandes. Wer aber profitiert von der Niedrigzinspolitik wirklich?
Jürgen Stark: Das was wir heute im fortwährenden Krisenmodus erleben, hat kaum mehr etwas mit Marktwirtschaft zu tun. Es hat sich eine starke gegenseitige Abhängigkeit von Zentralbanken, Finanzmärkten und Politik ergeben. Das ist – um es vorsichtig zu sagen – eine wirtschaftlich suboptimale Konstellation. Die Negativzinsen der EZB und das Fluten der Märkte mit Liquidität gefährden die Geschäftsmodelle vieler Finanzmarktakteure. Auch klassische Instrumente der Altersvorsorge oder des langfristigen Sparens wie Lebensversicherungen und das Bausparen sind existenziell betroffen. Die Banken, deren Ertragsentwicklung im Wesentlichen von den Zinsmargen abhängt, haben ein ernst zu nehmendes Problem. Zwar können sie sich günstig bei der EZB refinanzieren, aber der negative Einlagenzins führt zu weiter sinkender Profitabilität. Und die europäischen Banken kämpfen ja mit einer Vielzahl von Problemen: einer vergleichsweise geringen Ertragskraft, den Folgen von Basel III, der unvollkommenen Bilanzbereinigung in einigen Ländern und der Digitalisierung. Es ist daher nicht zu verstehen, warum der jüngste Banken-Stresstest in seinen kritischen Szenarien nicht die Wirkungen des negativen Einlagenzinses als Parameter aufgenommen hat.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Und wer sind die Gewinner dieser Politik?
Jürgen Stark: Kurzfristig insbesondere all diejenigen, die sich verschulden, einschließlich der Finanzminister und solche, die rechtzeitig in Vermögenswerte investiert haben. Im Falle eines Anstiegs der Marktzinsen sieht das dann wieder anders aus. Dann werden Private und Regierungen Probleme bekommen, den Schuldendienst auf die aufgetürmten Schulden zu leisten und wer nicht rechtzeitig aus Vermögenswerten aussteigt kann erhebliche Verluste erleiden.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Glauben Sie, dass die EZB mit dem Ankauf von Staats- und jetzt auch von Unternehmensanleihen ihr Mandat überschreitet?
Jürgen Stark: Eindeutig ja. Meine Meinung dazu hat sich auch nach den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts zu den „Outright Monetary Transactions“ (OMT) nicht geändert. Das sind politische Entscheidungen, wenn auch unter Auflagen. In der Argumentation folgte man mangels eigener Expertise der Linie der EZB, wie der Generalanwalt beim EuGH dies formulierte. Ich habe das Akronym „OMT“ von Anfang an als „Outside the Mandate Transactions“ bezeichnet. Die EZB begründet ihre heutige mengenmäßige Lockerung der Geldpolitik (Quantitative Easing – QE) mit Deflationsgefahren und schwachem wirtschaftlichen Wachstum. In Wirklichkeit ging es bei diesen fraglichen Instrumenten immer um eine temporäre Entlastung der Regierungen von schmerzhaften politischen Entscheidungen und der Reduzierung der Zinslasten auf steigende Staatsschulden. Die EZB betreibt damit Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Das galt für das Securities Market Programme (SMP) von 2010 bis 2011, dann für OMT und gilt jetzt für QE. Die EZB hat Zeit gekauft, die Zinsen weiter gedrückt, aber die Wirtschaftsreformen sind in wichtigen Euro-Staaten nicht wirklich vorangekommen. Damit verlängert sich die Krise. Die verschärften Probleme des Bankensektors bestätigen das, insbesondere in Italien.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ist denn eine Geldpolitik, die für alle Länder der Euro-Zone sinnvoll wäre, überhaupt möglich?
Jürgen Stark: Die Frage einer „one size fits all“-Geldpolitik, also einer einheitlichen Geldpolitik für alle Mitgliedstaaten, trotz unterschiedlicher Konjunkturphasen und Wirtschaftsstrukturen, wurde schon vor Beginn der Währungsunion gestellt. Die Antwort darauf war: „One size must fit all!“ Das hätte erhebliche dauerhafte Konvergenzanstrengungen aller Euro-Länder bedeutet. Das heißt: Bereitschaft zu den notwendigen Anpassungen auf nationaler Ebene an die Bedingungen der Währungsunion. Dazu waren viele Staaten nicht willens oder nicht in der Lage. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist heute eher durch Divergenz als durch Konvergenz gekennzeichnet. Die EZB-Politik orientiert sich an den Reformnachzüglern und den schwachen Ländern.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie hatten sich seinerzeit – wenn auch nur in beratender Funktion und nicht als Entscheider – gegen einen Beitritt Italiens zur Euro-Zone ausgesprochen. Anschließend waren Sie in Italien eine „persona non grata“. Fühlen Sie sich im Nachhinein in Ihrer damaligen Einschätzung bestätigt?
Jürgen Stark: Auch wenn ich mich bestätigt sehe ändert das nichts an der Misere, in der wir uns heute befinden. Ich habe 1998 vor einer „Konvergenz-Illusion“ gewarnt, weil ich die Nachhaltigkeit der Konvergenz anzweifelte. Das richtete sich auch an die Finanzmärkte, die eine relativ große Zahl von Ländern am Euro-Start sahen und durch ihr Verhalten signifikant zur Verringerung der Risikoaufschläge bei Staatsanleihen beigetragen hatten. Mit Blick auf die Euro-Einführung wurden die Risiken einiger Länder nicht angemessen bepreist. Richtig ist auch, dass vor 25 Jahren, als der Maastricht Vertrag unterzeichnet wurde, kaum jemand davon ausging, den Euro mit elf Ländern zu starten und das Euro-Gebiet rasch zu erweitern. Viele Länder, darunter Italien, wurden aus politischen Gründen und wegen der gegebenen Disziplin-Versprechen aufgenommen. Diese Versprechen wurden dann gebrochen, übrigens im Jahr 2003 auch von deutscher und französischer Seite.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Finanzminister Schäuble hatte nach dem griechischen Referendum, bei dem sich eine Mehrheit der Bevölkerung gegen weitere Sparmaßnahmen ausgesprochen hatte, einen zeitweiligen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone ins Spiel gebracht. Glauben Sie dass ein derartiger Schritt der griechischen Volkswirtschaft hätte helfen können?
Jürgen Stark: Es hätte nicht nur Griechenland geholfen, sondern auch dem Euro-Raum selbst. Man hätte sich vorübergehend von einem Mitglied getrennt, das mit seinen institutionellen, fiskalischen und wirtschaftlichen Defiziten nicht in die Währungsunion passt. Manche haben diese Überlegung auch als späte Strafe für die statistisch erschlichene Euro-Mitgliedschaft Griechenlands 2002 gesehen. Aber darum ging es doch nicht. Im Juli vergangenen Jahres hatte sich übrigens die Mehrheit der Euro-Finanzminister für einen „Grexit“ ausgesprochen. Die EU-Staats- oder Regierungschefs haben dann anders entschieden, insbesondere auf Druck des französischen Staatspräsidenten. Seitdem ist eines klar: die derzeitige Länderzusammensetzung des Euro-Raums wird von niemandem infrage gestellt. Sie wird garantiert. Das wird nur möglich sein mit gegenseitiger Haftung für die öffentlichen Finanzen, einem dauerhaften substanziellen Finanztransfersystem und einer fortgesetzt extrem lockeren Geldpolitik der EZB, die an den Erwartungen der Peripherie ausgerichtet ist. Das ist für mich ein Szenario, von dem die eigentliche Sprengkraft für die Währungsunion ausgeht. Denn es überfordert die Solidarität sowie die politische und wirtschaftlich-finanzielle Kraft der potenziellen Geberländer bei wahrscheinlich rasch zunehmender Inflation.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Also wurden die Weichen für Griechenland schon früh falsch gestellt?
Jürgen Stark: Nicht nur 2001/2002, als die wirtschaftliche Konvergenz Griechenlands geprüft wurde und man manipulierten Statistiken aufsaß. Wäre man 2010 dem Maastricht-Vertrag gefolgt, hätte Griechenland bereits den Euro-Raum verlassen müssen, verbunden mit einem frühzeitigen Schuldenschnitt. Intern trat ich damals dafür ein und berührte damit ein absolutes Tabu: die Irreversibilität des Euro. Doch der Euro war nicht in Gefahr. Für mich bezog sich die Irreversibilität nicht auf die Ländermitgliedschaft im Euro! Sicherlich wäre dies ein Schock für die griechische Wirtschaft gewesen. Aber er hätte heilsam für beide Seiten sein können. Der Euro-Raum wäre gestärkt worden und europäisches Recht wäre wieder dem ihm gebührenden Rang zugekommen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der Ökonom Wilhelm Hankel hatte ein Konzept entwickelt, nach dem der Euro als Referenzwährung bestehen bleiben, zusätzlich zu ihm aber nationale Parallelwährungen eingeführt werden sollten. Glauben Sie dass die Euro-Zone reformiert werden muss? Durch Parallelwährungsmodelle oder auch eine Aufspaltung in einen „Nord“- und einen „Süd-Euro?
Jürgen Stark: Ich kenne die Überlegungen. Ich halte nicht viel von solchen Hilfskonstruktionen oder von einer Aufteilung des Euro in Nord und Süd. Zu welchem Teil gehört z.B. Frankreich? Dennoch beruhen diese Überlegungen auf der Diagnose auseinander driftender Volkswirtschaften. Politisch relevant sind die Entscheidungen vom Sommer 2015 und die Garantie für den Zusammenhalt des Euro-Raums. Die Bedingungen unter denen diese Garantie ausgeübt werden kann, stoßen aber auf wahrscheinlich schwindende Akzeptanz bei der Wählerschaft der Geberländer. Da die politische und wirtschaftliche Heterogenität des Euro-Gebiets fortbestehen wird, schließe ich eine Korrektur vergangener Entscheidungen nicht aus. Das heißt, das eine oder andere Land wird vorübergehend den Euro-Raum verlassen. Das wurde zu lange tabuisiert.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In Italien sitzen viele Banken auf faulen Krediten. Es ist die Rede von einer erneuten Bankenkrise. Ist nun eine solche Krise abgewendet?
Jürgen Stark: Zunächst ja. Aber man muss abwarten, ob die getroffenen Entscheidungen ausreichen und wie sie umgesetzt werden. Italiens Bankenprobleme, insbesondere das Volumen notleidender Kredite von 360 Milliarden Euro, das auf den Bilanzen lastet, ist seit langem bekannt. Man braucht dazu nur die Länderberichte des Internationalen Währungsfonds der letzten Jahre zu studieren. Aber die Probleme wurden von der Banca d’Italia, also der italienischen Bankenaufsicht, und den italienischen Regierungen herunter gespielt. Es erfüllte sich dann auch die Hoffnung, dass die EZB helfen würde. Erst kürzlich hat der ehemalige italienische Ministerpräsident Monti öffentlich dargelegt, dass das OMT-Programm der EZB den politischen Handlungsdruck gemindert und den italienischen Banken geholfen habe. Damit ist auch die Frage „OMT – cui bono?“ beantwortet.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Könnte eine Bankenkrise in Italien auf andere Länder übergreifen?
Jürgen Stark: Der jüngste Banken-Stresstest hat auch Schwächen der Bankensysteme in anderen Ländern aufgedeckt, obwohl der Test nicht stringent genug war. Ich habe schon gesagt, dass wichtige Parameter wie negative Einlagenzinsen aus den Szenarien ausgeklammert wurden. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit des Tests. Gleichzeitig demonstriert die EZB als Mitorganisator des Tests ihren Interessen- und Zielkonflikt zwischen Geldpolitik und Bankenaufsicht. Die anhaltenden Bankenprobleme gehen zurück auf eine andere Tabu-Entscheidung der Jahre 2008/2009. Keine große Bank sollte insolvent werden. Kein zusätzlicher Schock für die Finanzmärkte nach dem Kollaps von Lehman Brothers sollte vom Euro-Gebiet ausgehen. Infolge staatlicher und EZB-Interventionen wurde eine eskalierende Bankenkrise verhindert, aber die Probleme wurden nur auf der Zeitachse geschoben. Die umfassende Konsolidierung und Sanierung der Bankensysteme unterblieb. In USA ist man 2008/2009 radikaler vorgegangen. Viele insolvente Banken sind aus dem Markt ausgeschieden, andere wurden zwangsrekapitalisiert.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Glauben Sie, dass es Ministerpräsident Renzi gestattet werden sollte, die italienischen Banken mit Steuergeldern zu retten? Oder hielten Sie es für geboten, die seit Anfang des Jahres geltenden Bail in-Regeln anzuwenden?
Jürgen Stark: Ich halte die Bail in-Regeln für die Marktteilnehmer, seien es Sparer, Anleger oder Aktionäre, bei der Sanierung von Banken für eine wichtige Grundentscheidung. Es ist ein marktwirtschaftlicher Ansatz. Negative Folgen privatwirtschaftlicher Entscheidungen sollen nicht sozialisiert werden, d.h. Banken sollen nicht mit Steuerzahlergeld gerettet werden. Die Glaubwürdigkeit dieses Ansatzes wäre dahin, wenn man im italienischen Fall davon abweichen würde. Deshalb verstehe ich auch nicht die Einlassung der EZB-Leitung zugunsten einer staatlichen Intervention. Man muss aber auch sagen, dass dieser Ansatz sehr anspruchsvoll ist. Er erfordert bei einer systemisch relevanten Bank die Verständigung aller relevanten Gruppen innerhalb weniger Stunden. Gelingt dies nicht, muss wieder Steuerzahlergeld fließen, wenn man eine systemische Krise vermeiden will.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Eine Anwendung der Bail in-Regeln in Italien dürfte für Renzi problematisch sein und zu einem Erstarken der Fünf-Sterne-Bewegung führen, einer Euro-kritischen Partei. In Frankreich haben die geplanten Arbeitsmarktreformen zu massiven Protesten geführt. Hier konnte der Front National von der Lage profitieren. Gefährdet der Euro in seiner jetzigen Form das europäische Projekt?
Jürgen Stark: Es geht ja nicht nur um den Euro allein, der in manchen Ländern kritisch gesehen wird. Die EU befindet sich ja in einer Mehrfachkrise, auf die die Politik noch keine Antwort hat. Die gemeinsame Währung wird für vieles verantwortlich gemacht, was in Wirklichkeit auf nationaler Ebene auf politische Führungsschwäche und ungelöste wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme zurückgeht. Alles, was in diesem Zusammenhang von Europa erwartet werden kann, ist Zeit zu kaufen durch die EZB und andere Scheinlösungen. Es ist eher Symbolpolitik. Gerade die beiden genannten Länder haben erheblichen Nachholbedarf bei wirtschaftlichen und sozialen Reformen und im Fall Italiens bei der Bankensanierung. Diese Probleme sind nicht durch den Euro verursacht. Wenn man über den Euro hinaus über Europa spricht, geht es heute nicht mehr um „Mehr Europa“, sondern um ein „besseres Europa“. Von dem weiß aber niemand so recht, wie es aussehen soll und wie denn überhaupt darüber ein europäischer Konsens hergestellt werden kann. Auch vor dem Hintergrund des Brexit halte ich eine Reflektionsphase über die Zukunft Europas für dringend geboten, in der das Verhältnis zwischen Demokratie, Integration und Souveränität erörtert werden muss. Mit anderen Worten: es geht um die Frage, wie die Bürger besser in das Europa-Projekt eingebunden werden können und um eine Revision der derzeitigen Kompetenzverteilung zwischen der supranationalen und nationalen Ebene.
Info zur Person:
Jürgen Stark war von 2006 bis 2012 Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB). Ende 2011 erklärte er vorzeitig seinen Rücktritt von seinen Funktionen in der EZB. Zwar gab er „persönliche Gründe“ an, es war jedoch der Protest gegen die Politik des Krisenmanagements der Regierungen und der EZB in Europa und die fundamentale Abkehr vom Maastricht Vertrag.
Stark hat über ein Vierteljahrhundert das Projekt europäische Währungsunion in verschiedenen Funktionen begleitet und auch beeinflusst – sei es in der Bundesregierung als Mitarbeiter des Kanzleramts, als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium oder als Vizepräsident der Deutschen Bundesbank und zuletzt als Mitglied des Direktoriums und des Rates der EZB. Man kann ihn als Teil des „institutionellen Gedächtnisses“ bezeichnen seit den Verhandlungen zum Maastricht Vertrag und den politischen Folgeentscheidungen, u.a. zum Stabilitätspakt.
Stark gilt als entschiedener Verfechter einer stabilitätsorientierten Geldpolitik, der Unabhängigkeit der Zentralbanken und solider Staatsfinanzen. Er hat sich jedoch selbst nie als orthodoxen Geldpolitiker gesehen. Vielmehr fordert er aus historischen Erfahrungen heraus eine klare Aufgabenteilung zwischen Regierungen und Zentralbank und wendet sich gegen kurzfristige wirtschaftspolitische Scheinlösungen. Er forderte, dass gerade in Krisenzeiten vereinbarte Prinzipien und Regeln eingehalten werden müssen.
Seit 2012 arbeitet Stark freiberuflich als Consultant. Darüber hinaus ist er u.a. Honorarprofessor der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, Stellv. Vorsitzender des Verwaltungsrats und des Kuratoriums des ifo-Instituts in München und Kuratoriumsmitglied der Bertelsmann Stiftung.