Vertraut man den politischen Kommentatoren, besteht an der erneuten Kanzlerkandidatur von Angela Merkel nicht der geringste Zweifel:
"Wenn Deutschland inmitten außen- und innenpolitischer Krisen seine Kanzlerin abhanden käme, wäre das eine Sensation." (Die Welt)
"Denn mittlerweile ist die Ankündigung nur noch eine Formalie. Angela Merkel wird erneut bei der Bundestagswahl im Herbst 2017 antreten. Die Christdemokratin hat keine andere Wahl mehr. Sie hat durch Abwarten entschieden." (Frankfurter Rundschau)
"Deutsche wünschen sich eine 4. Amtszeit von Merkel" (Bild-Zeitung)
"Merkel ist zur vielleicht wichtigsten Führungspersönlichkeit der freien, liberalen Welt geworden." (Süddeutsche Zeitung)
"Kanzler ist für Merkel anscheinend kein Job, auch nicht Berufung, sondern Zustand." (Die Zeit)
Soviel Gewissheit herrschte zuletzt beim Brexit („Die Briten bleiben drinnen“) und bei der US-Wahl (bei Hillary Clintons Sieg geht es nur um die Höhe).
In beiden Fällen kam es allerdings anders, als alle vorhergesagt hatten. Die Fehleinschätzungen waren das Ergebnis, dass viele Beobachter sehr eng am politischen Geschehen leben und urteilen; sie wurden von den Wählern überrascht.
Bei einer Prognose, ob Merkel wieder antritt oder nicht, ist nur eine Person zu beurteilen – noch dazu eine, die viele Beobachter gut zu kennen glauben.
Tatsächlich kennt Merkel allerdings niemand – weil sie sich in den vergangenen Jahren zunehmend abgeschottet hat und wichtige Entscheidungen nur in einem sehr kleinen Kreis diskutiert. Merkel lebt in der politischen Berliner Blase in ihrer eigenen Blase. Kritik erreicht sie nicht, weil ihre eigenen Leute loyal und gegen Kritik von außen immun sind. Vor allem der Parteiapparat der CDU ist auf sie zugeschnitten.
In der Tat sprechen viele Gründe dafür, dass Merkel am Sonntagabend verkündet, dass sie, um der Stabilität der Welt willen, weitermacht.
Innenpolitisch hat sie niemanden zu fürchten. Das beginnt in der eigenen Partei: Merkel hat die Partei im Griff wie Hillary Clinton die Demokraten. Alle anderen Parteien werden bei der Bundestagswahl hinter der Union bleiben. Die wahrscheinlichste Koalition ist Schwarz-Grün, wenn es rechnerisch reicht. Auch eine Koalition mit den Grünen und der FDP ist denkbar. Selbst wenn die CDU deutlich verliert, kann Merkel an der Macht bleiben.
Ironischerweise könnten vor allem die Entwicklungen in den USA Merkel bestärken, wieder anzutreten. Donald Trump hat seine ersten Personalentscheidungen getroffen. Demnach wird der Sicherheitsapparat aus CIA, NSA und dem Pentagon auch weltpolitisch weiter eine zentrale Rolle spielen. Das macht die US-Außenpolitik für Merkel kalkulierbar. Wenn es in Zukunft statt gegen Russland gegen den Iran geht, wird Merkel den guten Argumenten folgen, die die Dienste liefern und aus denen Trump entsprechende weltpolitische Aktionen ableiten wird.
Merkel hat sich im Lauf der Jahre immer wieder meisterhaft mit wechselnden Mitspielern arrangiert. Zu keinem der verschiedenen Staats- und Regierungschefs hat sie eine sichtbar persönliche Beziehung. Selbst der Abschied von Obama blieb kühl. Nicht einmal auf Nachfrage einer Journalistin ließ sich Merkel zu mehr hinreißen als zu dem Satz: Natürlich bedauert man es, wenn jemand geht, mit dem man gut zusammengearbeitet hat.
Entgegen der Erwartungen vieler Trump-Gegner wird sich Merkel niemals als weltpolitischer Antipode zu Trump positionieren. Merkel wird dem transatlantischen Kurs folgen, auch wenn sich die Richtung ändert.
Merkel hat also nichts zu verlieren, wenn sie weitermacht.
Und doch gibt es einige Hinweise, die Zweifel aufkommen lassen, ob sie am Sonntag nicht doch die „Sensation“ ihres Abtretens verkünden wird.
Zum einen ist der Charakter des Auftritts ungewöhnlich: Er wurde kurzfristig angesetzt. Kein Thema wurde bekanntgegeben. Merkel tritt allein auf – ohne den CDU-Generalsekretär, ohne einen Vertreter der Schwesterpartei CSU.
Stutzig macht auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit einer Programmänderung: Die ARD hat mitgeteilt, dass das Thema der Sendung von Anne Will geändert wird.
„Merkels Entscheidung - Das richtige Signal in unsicheren Zeiten?“, heißt die Sendung aus aktuellem Anlass. Offiziell geht es um die Frage: „Was müssen Merkel und die etablierten Parteien jetzt tun, um das Vertrauen aller Bürger in unsicheren Zeiten zurückzugewinnen?“
Doch keiner der Gäste, die eingeladen sind, ist Parteien-, Politik- oder Demokratieforscher. Die Gäste sehen eher danach aus, als hätten sie etwas zur Person und zur Psychologie von Merkel zu sagen: Annegret Kramp-Karrenbauer, Ministerpräsidentin des Saarlandes, war von Merkel bereits im Jahr 2014 höchstpersönlich als ihre Nachfolgerin vorgeschlagen worden. Klaus Wowereit ist ein Politiker, der den Rücktritt eben hinter sich hat, und der sich seit seinem Ausscheiden aus der Politik nicht als Vordenker der Demokratie-Entwicklung profiliert hat. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz hat sich laut ARD „ für verschiedene Medien immer wieder mit der Politik Angela Merkels auseinandergesetzt“. Giovanni di Lorenzo wird als Autor des Buchs „Vom Aufstieg und anderen Niederlagen. Gespräche mit Zeitgenossen“ vorgestellt.
Vielleicht wird diese Gruppe ja tatsächlich über Trump, die AfD, das europäische Projekt oder die "Abgehängten" diskutieren. Allerdings muss man wissen, dass Anne Will jene Journalistin ist, deren Show Merkel stets für Auftritte an politisch kritischen Wegmarken ausgewählt hat. Wenn Merkel wirklich weitermacht, wäre es eigentlich naheliegend, dass die Kanzlerin selbst in die Sendung kommt – weil die Zuseher vielleicht wissen wollen, welche Pläne Merkel für Deutschland in den kommenden Jahren hat. Will man wirklich von Wowereit hören, was die nächste Merkel-Amtszeit bringt? Von einem Psychoanalytiker?
Oder aber kann man sich die Debatte nicht eher so vorstellen, dass Wowereit erzählt, wie schwer und befreiend ein Abschied aus der Politik fällt? Und dass man von Kram-Karrenbauer zwischen den Zeilen erfährt, wie eine CDU unter ihr aussehen könnte? Dass der Psychologe und der Niederlagen-Experte zu erklären versuchen, was Merkel zu ihrem Rückzug gebracht haben könnte?
Ein zweiter, kleiner Hinweis: Zum Geburtstag von Wolf Biermann sprach Merkels Mann, Joachim Sauer. Eingefleischte Beobachter der Berliner Szene können sich an keinen Auftritt erinnern, bei dem Merkel die Frau an der Seite ihres Mannes blieb. Während Merkel mit den Mächtigen der Welt verhandelte, absolvierte Sauer artig das „Damenprogramm“. Bei Biermann stand er im Rampenlicht, und sie war „nur“ anwesend. Hat das etwas zu bedeuten?
Zugegeben: Das ist eine reine Spekulation. Das können alles Zufälle sein.
Aber man könnte noch andere Gründe finden. Merkel hat eine andere soziale Intelligenz als die Männer vor ihr - die, von Kohl bis Schröder, erst gegangen sind, als das Spiel wirklich aus war. Merkel kann antizipieren und hat einen exzellenten Instinkt für das Machbare. Merkel wirkte in den vergangenen Wochen resigniert und müde. Vielleicht ist das nur ein genialer Trick, damit die Wähler denken, die Zeiten sind nicht kritisch, weil wir eine phlegmatische Kanzlerin haben.
Doch Merkel weiß, dass mit dem Sieg von Donald Trump ein grundlegender Stilwechsel der internationalen Politik eingeläutet ist. Es wird Klartext geredet. Wer Klartext redet, hat Erfolg, auch wenn er vielleicht Unsinn sagt. Erdogan, Trump, die Briten, Orban, Petry – das ist nicht Merkels politische Welt. Dazu das Internet, von Merkel noch nicht vor allzu langer Zeit als „Neuland“ entdeckt: Für Gerhard Schröder reichten „Bild, Bams und die Glotze“. Heute kann jeder sagen, was er denkt – und erreicht damit sogar Millionen, wie Trump bewiesen hat, der von mehr oder weniger allen Medien offen angefeindet oder mindestens skeptisch gesehen wurde. Er hat die Wahl mit seinen Tweets gewonnen. Merkel nutzt die Unmittelbarkeit des Internets lediglich für ihre wöchentliche „Videobotschaft“.
Merkel hat die Öffentlichkeit schon einmal vollig unvorbereitet überrascht – beim Atom-Ausstieg nach der Katastrophe von Fukushima. Sie hatte sich mit niemandem abgesprochen. Nichts war durchgesickert. Da ging es immerhin um das ganze Land. Nun geht es „nur“ um sie.
Merkel steht unter erheblichem Erwartungsdruck. Sie ist allerdings sehr nüchtern: Sie weiß, dass sie diesen Erwartungen nicht wird entsprechen können. Sie ist mit ihrem politischen Stil nicht mehr zeitgemäß, und auch nicht mit jenen Inhalten, für die sie sich aus politischer Opportunität oder tatsächlicher Überzeugung in den vergangenen Jahren stark gemacht hat.
Wenn sie jetzt abtritt, wird sie nicht daran gemessen, was sie gemacht hat, sondern was sie hätte werden können. Sie hat jetzt die einmalige Chance, als die Retterin der liberalen Welt in die Geschichte einzugehen, ohne den Beweis dafür antreten zu müssen. Sie wäre eine begehrte Vortragsrednerin, würde mit Angeboten von US-Universitäten überhäuft werden. Man wird, wenn der neue politische Wind von rechts besonders scharf weht – etwa, wenn Marine Le Pen auf einmal bei den EU-Gipfeln auftaucht – sagen: Wie schade, dass die Merkel nicht mehr da ist! Wie anders wäre alles geworden, wenn die Merkel noch einmal weitergemacht hätte.
Für diese Lesart spricht, dass Merkel ihre selbstgesetzten Ziele nicht wird erreichen können: Die EU, wie Merkel sie sich vorstellt, löst sich vor ihren Augen auf. Die meisten Staats- und Regierungschefs machen, was sie wollen - ob in der Flüchtlingsfrage oder bei den Staatshaushalten. Im Grunde ist jeder Gipfel schon seit Jahren eine Qual. Nächtelange Sitzungen, ohne Ergebnis. Merkel, die Physikerin, weiß, dass es aussichtslos ist, gegen die Schwerkraft zu argumentieren.
Das ist alles reine Spekulation. Allerdings: Es wäre denkbar, dass Merkel so denkt.
Denkbar ist freilich auch, dass alles genauso kommt, wie alle es erwarten. Wir werden dann ab Montag Merkel weiter kritisch begleiten, und unsere Kritik wird Merkel noch lange nicht erreichen.
Update Sonntag, 20.11.2016, 14.00 Uhr: Merkel hat sich entschieden, weiterzumachen, meldet die dpa.