Bisher hat man der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel nach jeder Wahl vorgeworfen, dass sie ihren jeweiligen Koalitionspartner geschwächt hat. Mit dem Wahlergebnis zur Bundestagswahl zeigt sich: Nicht nur die SPD muss daran glauben, sondern auch die Union – und zwar sowohl die CDU als auch die CSU. Merkels Konzept, die jeweils zentralen Programmpunkte der anderen Parteien der Union einzuverleiben, hatte der Union bisher stets zum Vorteil gereicht.
Am Sonntag hat die Union fast neun Prozentpunkte verloren – eine historische Schlappe. Ebenfalls ein Debakel wurde aus Bayern gemeldet, wo die CSU unter 40 Prozent gefallen ist.
Merkel dürfte die AfD unterschätzt haben. Sie konzentrierte sich auf die Grünen und die SPD und versuchte, diesen Parteien mit rot-grünen Kernthemen wie der Ehe für alle das Wasser abzugraben. Die AfD, so war das Kalkül bei SPD und CDU, werde man geschlossen in die Nazi-Ecke schieben. Fast dankbar wurde jedes Stöckchen aufgegriffen, dass sich aus den Rülpsern vom rechten AfD-Rand bot.
Das Thema Flüchtlinge und Migration wollten die Union und die SPD dagegen mit den Argumenten der AfD abhandeln: Die Töne gegen Ausländer waren scharf und undifferenziert. Ohne Not attackierte Merkel beim TV-Duell sogar die Deutsch-Türken, auch Martin Schulz wetterte gegen die Deutsch-Türken los – obwohl diese Gruppe mit der jüngsten Migrationsbewegung nichts zu tun hat. Doch Merkel fuhr eine Doppelstrategie: Sie betonte zum Ende des Wahlkampfs, dass sie alles wieder so machen würde wie im Herbst 2015. Diese Botschaft war an die die rot-grünen Wähler gerichtet: Merkel hat in ihrer gesamten Amtszeit die CDU links von der Mitte positioniert und wollte bei dieser Wahl den Schlussstein zu ihrer langjährigen Strategie setzen.
Doch der Spagat ist nicht gelungen: Die rot-grünen Wähler haben, wie auch die konservativen Wähler, die Eiertänze der Großen Koalition durchschaut. Sie haben die FDP, die Grünen oder die Linkspartei gewählt, während die bürgerlich-konservativen Wähler zu AfD gewandert sind. Eine Million Wähler hat die Union an die AfD verloren. Das geht an die Substanz.
Am Wahlabend spielten sowohl Merkel als auch Ursula von der Leyen und Kanzleramtschef Peter Altmaier das Unions-Desaster herunter. Die offizielle Sprachregelung zu minus 9 Prozent: Klar wäre etwas mehr schön gewesen, aber die Schlappe ist nicht so schlimm. Wir haben unsere wichtigsten Wahlziele erreicht, nämlich wieder stärkste Fraktion zu werden und damit den Auftrag zur Regierungsbildung zu erhalten und zugleich sicherzustellen, dass gegen uns keine Regierung gebildet werden kann.
Das Problem: Merkels CDU ist nicht, wie von ihr erwartet, eine links-grün-konservative Volkspartei geworden. Merkel hat zwar die Inhalte der anderen Parteien abgesaugt – doch die Wähler sind zu den anderen Parteien gegangen – nicht zur CDU. Damit hat Merkel die Union nicht breiter gemacht, sondern extrem verengt, weil sie zugleich die klassischen Konservativen des früheren Berliner Kreises an die AfD verloren hat. Alexander Gauland ist das beste Beispiel dafür: Er war jahrzehntelang CDU-Mann – und wurde in der Union ausgegrenzt wie die Euro-Kritiker Willsch und Bosbach.
Merkels gescheiterte Strategie vom Aufbau einer links-grün-konservativen Volkspartei in der Mitte hat dazu geführt, dass Deutschland aktuell so gut wie unregierbar ist.
Nach der Ankündigung der SPD, in die Opposition gehen zu wollen – was angesichts der inhaltlichen Auszehrung der Partei eine richtige Entscheidung wäre – bleibt angeblich nur eine sogenannte Jamaica-Koalition aus Schwarz-Gelb-Grün. Das Problem in dieser Konstellation ist nicht die theoretische Unverträglichkeit von FDP und Grünen. Die Meinungsmacher in beiden Parteien sind radikale Opportunisten und könnten sich in jedweder Koalition einreihen.
Doch Merkel wird von dem eingeholt, was viele für ihren Sündenfall halten: Der Marginalisierung der Konservativen. Diese sind in Gestalt der CSU plötzlich unter massivem Druck. Im kommenden Jahr ist in Bayern Landtagswahl. Horst Seehofer hat längst seinen Zenit überschritten und mit seiner taktisch unausgereiften Obergrenzen-Diskussion die AfD in Bayern stark gemacht.
Der CSU ist aber klar geworden, dass sie sich, um die AfD wieder aus Bayern zu vertreiben, klar rechts von der Mitte positionieren muss. Das ist vollkommen unvereinbar in einer Koalition mit den Grünen. Es ist so gut wie unvereinbar mit einer FDP. Das bezieht sich nicht nur auf die Frage der Zuwanderung. Auch in den Fragen der Familienpolitik, der Energiepolitik oder des Verhältnisses zu Russland können sich CSU und Grüne nicht einigen, ohne dass die CSU an die AfD verliert. Die CSU wird überdies einen Spitzenkandidaten brauchen, der, wie Österreichs Sebastian Kurz, die AfD beim Thema Migration entzaubern kann. Karl Theodor zu Guttenberg ist dieser Charakter eher nicht.
Merkels bisherige politische Strategie hat auf Entideologisierung durch eine Art des politischen Synkretismus geführt. Das ist an sich kein schlechtes Konzept. Doch 12 Jahre an der Macht haben die CDU korrumpiert. Die Parteileute können nicht mehr erkennen, wo die eigene Beliebigkeit die Kernwähler vertreibt. Die AfD hat diesen „deplorables“ eine Alternative geboten, weil die CSU nicht in der Lage war, sich in der Union durchzusetzen.
Nun sind die Wähler weg. Merkel hat zwar mit dem ersten Platz den Anspruch erworben, Kanzlerin zu werden. Weil aber die Volksparteien in Trümmern liegen, stellt sich die Frage, ob dieser Anspruch nicht nur ein Muster ohne Wert ist. Es ist denkbar, dass Deutschland den Weg der Niederlande oder Spaniens gehen wird: Dieser bedeutet, dass das Land monatelang provisorisch regiert wird, bis am Ende eine Neuwahl unausweichlich ist.