Österreich ist eine Eisenbahnnation. Mit 41 bahnrelevanten Patenten pro einer Million Einwohner und Forschungs- und Entwicklungsausgaben von sechs Prozent des Umsatzes führt die Alpenrepublik das internationale Innovationsranking der Branche an und ist der fünftgrößte Exporteur von Eisenbahnausrüstungen weltweit. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten sprachen mit dem Präsidenten des Verbands der österreichischen Bahnindustrie, DI Manfred Reisner, über die Innovationskraft seiner Branche, die Konkurrenz aus China und die Chancen und Risiken der "Neuen Seidenstraße".
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Bedeutung hat die eisenbahntechnische Industrie für die österreichische Volkswirtschaft?
Manfred Reisner: Die Bahnindustrie ist ein starker, innovativer Wirtschaftsfaktor in Österreich, der gute Chancen hat, seine Bedeutung in Zukunft auszubauen. Wir sind in zahlreichen Bereichen führend und innovativ auf den Weltmärkten unterwegs. Als Beispiele sind auszugsweise zu nennen: Schienenfahrzeuge wie Reisezugwagen, Lightrail-Fahrzeuge wie Straßenbahnen, Stadtbahnen und U-Bahnen, Drehgestelle insbesondere für den Einsatz im High-Speed-Bereich, Antriebssysteme wie Motoren und Getriebe, Gleisbaumaschinen, Schienen, Weichen, Oberleitungsbau, Eisenbahnsicherungssysteme und Komponenten, Leitsysteme und Funkanlagen, Klimaanlagen, Energieversorgungssysteme und vieles mehr.
Die Mitgliedsunternehmen stellen mit ihren über 9.000 direkten Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 3,1 Milliarden Euro einen beträchtlichen Wirtschaftsfaktor dar. Die volkwirtschaftliche Verflechtung mit den heimischen Zulieferbetrieben sieht man sehr gut am Beschäftigungsmultiplikator von 2,26. So werden aus 9.000 direkten Beschäftigten rund 20.300 Beschäftigte im Umfeld der österreichischen Bahnindustrie. In absoluten Zahlen sind unsere Unternehmen der fünftgrößte Exporteur von Eisenbahnausrüstungen weltweit, bei einem Exportanteil von 70 Prozent.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie innovativ ist die österreichische Bahnindustrie?
Manfred Reisner: Mit 41 bahnrelevanten Patenten pro einer Million Einwohner und Forschungs- und Entwicklungsausgaben von sechs Prozent des Umsatzes (EU-Schnitt: drei Prozent) führen wir das internationale Innovationsranking unserer Branche an und zählen zu den Schlüsselindustrien des Landes. Die Digitalisierung ist aktuell für jede Branche und somit auch für uns ein herausforderndes Thema. Im Bereich der Automatisierung werden in den kommenden Jahren viele neue Services, verkürzte Fahrintervalle und letztlich mehr Benutzerfreundlichkeit in den Vordergrund treten. In der Bahninfrastruktur sind E-Mobilität und autonomes Fahren keine Zukunftsvisionen, sondern bereits Realität. Geforscht wird etwa auch an neuen Antriebstechniken wie mit Wasserstoff.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie uns Beispiele für bahntechnische Innovationen aus Österreich nennen?
Manfred Reisner: Beispielsweise Zelisko: sicheres, neues Fernwirksystem ZFWS100 für die Kommunikation im Bahneinsatz: Der österreichische Spezialist für Bahninfrastruktur-Sicherheitstechnik, die Dr. techn. Josef Zelisko, Fabrik für Elektrotechnik und Maschinenbau GmbH mit Sitz in Mödling bei Wien, entwickelte ein neues Fernwirksystem. Dieses verbindet Bahnübergangssicherungstechnik, in Österreich als Eisenbahnkreuzungssicherungsanlagen (EKSA) bezeichnet, und elektronische Stellwerke und wurde entsprechend CENELEC EN5012x SIL4 zertifiziert. Bahnbetreibern steht mit dem ZFWS100 ein flexibles und zukunftssicheres SIL4-Fernwirksystem zur Verfügung.
Beispielsweise Kapsch: Industrial Internet of Things (IIoT): Die von Kapsch entwickelte IIoT (Industrial Internet of Things) Lösung KUBE ermöglicht es Bahnbetreibern, geschäftskritische Daten hochverlässlich und sicher zu transportieren, zu sammeln und zu visualisieren. Die Lösung kann bestehende GSM-R-Netze nutzen und stellt die Multimode-Konnektivität für Sensoren, Backhauling und lokalen Zugriff sicher, visualisiert auf Android-, ioS- und Windows-Geräten.
Beispielsweise Frauscher Tracking Solutions (FTS): kontinuierliche Zugverfolgung mit Distributed Acoustic Sensing: In enger Zusammenarbeit mit Betreibern hat das von Frauscher entwickelte Distributed Acoustic Sensing (DAS) gewaltiges Potenzial als Basistechnologie für Eisenbahnanwendungen. Schallwellen und Vibrationen treffen auf das Kabel und verändern die Reflexion von Pulsen, welche gemessen und ausgewertet werden. Dadurch wird eine einzelne Glasfaser entlang des Gleises zu einem linearen Sensor. Das ermöglicht eine genaue Zuglokalisierung in Echtzeit, die die Effizienz sowie die Kapazität des Zugverkehrs erhöhen kann. Andererseits bietet eine kontinuierliche Überwachung der Infrastruktur die Basisinformation für eine durchgängige zustandsorientierte Instandhaltung.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie beurteilen Sie die Perspektive mittelständischer Betriebe in der Bahnindustrie?
Manfred Reisner: Klein- und Mittelbetriebe bräuchten oft mehr Unterstützung im Zugang zu Förderungen aber auch Finanzierungen, um gezielt Forschung zu betreiben und ihr Potenzial besser auszuschöpfen. Im Fokus sollten Forschungsförderung von Schlüsseltechnologien, die Einführung eines europäischen Investment Screenings und ein Programm zum Schutz von sensiblen Technologiebereichen stehen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Chancen ergeben sich für die österreichische Bahnindustrie aus dem chinesischen Infrastrukturprojekt der "Neuen Seidenstraße"?
Manfred Reisner: Die Seidenstraße ist ein großes Bahnprojekt, das vorwiegend von chinesischer Seite gepusht wird, aber auch seitens der österreichischen Bundesregierung und den ÖBB stark unterstützt wird. Im Zuge des geplanten Baues einer Breitspurstrecke bis nach Wien entstehen natürlich Chancen für Zulieferungen seitens der österreichischen Bahnindustrie.
Als österreichische Bahnindustrie wollen wir hier auf ein sehr wichtiges wirtschaftspolitisches Thema aufmerksam machen – nämlich die Ungleichheit im gegenseitigen Marktzugang. Europa ist einer der offensten Märkte, andere Länder hingegen ziehen weit stärkere Grenzen, wenn es um den Marktzugang und den Nachweis lokaler Wertschöpfung geht. Diese restriktiven Lokalisierungspflichten liegen heute in einigen Marktsegmenten des Eisenbahnsektors bei 65 Prozent (z.B. USA), 75 Prozent (z.B. teilweise bei Metrozügen in China), teilweise bei 80 Prozent sowie darüber (zum Beispiel teils in Australien, Brasilien, China, Indien, Russland, Türkei) und für einzelne Vorprodukte sogar bei 100 Prozent. Hingegen bestehen für öffentliche Beschaffungen innerhalb von Europa keinerlei Lokalisierungsverpflichtungen!
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie stark macht sich die chinesische Konkurrenz auf Ihrem Heimatmarkt bemerkbar?
Manfred Reisner: Die Unternehmen der österreichischen Bahnindustrie sehen sich fit für den internationalen Wettbewerb. Auf globaler Ebene haben sie aber nicht dieselben Wettbewerbschancen in außereuropäischen Märkten wie andere Länder innerhalb des europäischen Marktes. Die EU ist für öffentliche Beschaffung der offenste Markt der Welt. Nicht immer wird in Nicht-EU-Ländern der gleiche Marktzugang gewährt, den die EU bietet. Doch eine einseitige Offenheit geht zulasten von Arbeitsplätzen in Ländern mit offenen Märkten. Das Ziel muss deshalb darin bestehen, auf europäischer Ebene für faire Rahmenbedingungen in der Handelspolitik zu sorgen. Wenn Anbieter aus Drittstaaten Zugang zum europäischen Markt haben, muss das für Unternehmen aus Europa in diesen Ländern ebenfalls gelten. Es geht hier vor allem um Chancengleichheit.
Spätestens nach dem Verkauf des deutschen Roboterherstellers KUKA sollte klar sein, dass Europa seine Schlüsseltechnologien vor dem Ausverkauf schützen muss. China sichert sich mit massiven staatlichen Subventionen und Programmen das technische Know-how aus Europa. Auf EU-Ebene muss daher eine gemeinsame China-Politik im Vordergrund stehen. In Zeiten eines weltweit zunehmenden Protektionismus sollte es daher von europäischem Interesse sein, sich aktiv für die Aufrechterhaltung einer internationalen regelbasierten Wirtschaftsordnung einzusetzen.
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Manfred Reisner, Geschäftsführer des Bahnausrüsters Knorr-Bremse Österreich, ist seit Dezember 2017 Präsident des Verbandes der Bahnindustrie. Der Diplomingenieur war über zehn Jahre Geschäftsbereichsleiter Reisezugwagen bei Siemens Österreich, bevor er 2008 als Geschäftsführer zu Knorr Bremse Österreich gewechselt ist.