Politik

„Einen ungeregelten Brexit wird es nicht geben“

Lesezeit: 4 min
04.06.2019 17:34
Der Ökonom Anatole Kaletsky halt einen ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU am 31. Oktober für sehr unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Verhandlungen auf unbestimmte Zeit weitergehen werden.
„Einen ungeregelten Brexit wird es nicht geben“
Eine britische Flagge. (Foto: dpa)

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Nachdem die britische Premierministerin Theresa May ihren Rücktritt angekündigt hatte, erklärten einige ihrer Nachfolgekandidaten, sie wollten einen „Brexit ohne Abkommen“. Darauf reagierten europäische Führungskräfte mit Vorbereitungen auf einen völligen Bruch mit dem Vereinigten Königreich. Finanzanalysten korrigierten dementsprechend ihre Prognosen, und das britische Pfund brach zusammen.

Die Ängste vor einem Brexit ohne Abkommen sind verständlich. Ein solches Ereignis würde die 18-monatige Übergangsperiode außer Kraft setzen, die beide Seiten für wichtig halten, um das Verhältnis zwischen Großbritannien und der Europäischen Union auf ordentliche Weise zu gestalten. Es würde den sofortigen Abbruch des Handels der Briten mit ihrem größten Handelspartner bedeuten, und auch die EU würde ihren zweitgrößten Handelspartner (nach den Vereinigten Staaten) verlieren. Und wie die Welt nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Jahr 2008 erfahren musste, kann ein plötzlicher Abbruch der Handels- und Finanzströme, auch wenn sie nur ein paar Wochen andauern, jahrelange Probleme verursachen.

Um diese Gefahren zu betonen, erarbeitete der Vorstand des britischen Civil Service ein 14-seitiges Dossier für das Kabinett (das prompt geleaked wurde). Dort werden nicht nur die möglichen wirtschaftlichen und finanziellen Schäden, sondern auch die Risiken für die nationale Sicherheit und Gesundheitsversorgung beschrieben. Wichtiger ist noch, dass der Kabinettsekretär darauf bestand, dieses Dossier in das Kabinettprotokoll mit aufzunehmen, um zu zeigen, dass die Minister selbst die volle Verantwortung für diese Risiken übernehmen müssen – und nicht ihre zivilen oder militärischen Berater.

In Großbritannien wäre der Schaden zwar am größten, aber ein Austritt ohne Abkommen könnte auch für die EU verheerend sein. Die Finanzkrise von 2008 wurde zwar von Amerika ausgelöst, aber in Europa hat sie sich aufgrund der dysfunktionalen makroökonomischen Politik dort am stärksten ausgewirkt. Und angesichts dessen, dass Deutschland, Frankreich und Italien schon wieder am Rand einer Rezession stehen, könnte sich ein solches Muster bei einem plötzlichen und chaotischen Zusammenbruch der britisch-europäischen Lieferketten wiederholen.

Zum Glück für Europa und Großbritannien ist das wahrscheinlichste Szenario allerdings, dass der nächste Tory-Parteiführer zwar den 120.000 Mitgliedern der Konservativen Partei nach dem Mund redet, um gewählt zu werden, sich aber dann wieder an die 60 Millionen britischen Bürger wendet, die er zufriedenstellen muss, um im Amt zu überleben. Unabhängig von den Versprechen, die er den europhoben Tory-Mitgliedern gemacht hat, wird er sich als nächster Premierminister um die Neueröffnung der Brexit-Verhandlungen bemühen und eine weitere Frist beantragen. Und am Ende wird Mays Nachfolger wahrscheinlich mit einer Variante ihres Abkommens zurückkehren, die entweder vom Parlament angenommen oder als Vorschlag für ein zweites Referendum dienen wird – das entscheidet, ob Großbritannien die EU immer noch verlassen will.

Um zu sehen, warum ein Brexit ohne Abkommen immer noch sehr unwahrscheinlich ist, müssen wir überlegen, wie es dazu kommen könnte. Es gibt drei Möglichkeiten: Großbritannien könnte die EU am 31. Oktober ohne Abkommen verlassen, wenn sich das Parlament weder für Mays Austrittsabkommen noch für eine Fristverlängerung entscheiden kann. Oder Großbritannien bittet um eine Verlängerung, aber die EU weigert sich, sie zu gewähren. Und schließlich könnte sich das Parlament auf eine Fristverlängerung einigen, aber Mays Nachfolger könnte sich weigern, diesen Wunsch an die EU weiterzugeben.

Die erste Möglichkeit – dass das Vereinigte Königreich einfach aus Europa herausbricht – war bereits die größte Sorge vor der ursprünglichen Brexit-Frist des 29. März. Dies stellte sich als falscher Alarm heraus, da eine klare Mehrheit der Parlamentsmitglieder für das Verbot eines Brexits ohne Abkommen gestimmt und May sich ihrem Willen gebeugt hat. Da die Zusammensetzung des Parlaments am 31. Oktober (abgesehen vom Wechsel vierer Tory-Mitglieder zu Parteien der Opposition) immer noch die gleiche sein wird, ist es kaum vorstellbar, dass die Politiker dort einen Brexit ohne Abkommen absichtlich herbei führen würden. Der Parlamentssprecher John Bercow hat bereits bestätigt, das die parlamentarischen Konventionen, die dem Premierminister normalerweise die alleinige Macht zur Verabschiedung neuer Gesetze geben, wieder außer Kraft werden, falls dies nötig ist, damit eine parlamentarische Mehrheit ein Verlassen der EU ohne Abkommen verbieten kann – wie es bereits im März und April geschehen ist.

Das zweite Szenario, bei dem die EU eine Fristverlängerung verweigert, ist ebenso wenig plausibel. Obwohl der französische Präsident Emmanuel Macron längere Fristen ablehnen könnte, haben seine europäischen Partner jetzt noch weniger Grund als im April, ihm zuzustimmen und die wirtschaftliche Katastrophe eines Austritts ohne Abkommen zu riskieren. Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament und der Aufstellung der neuen EU-Kommission sind die britischen Haushaltsbeiträge angesichts der stockenden deutschen und italienischen Wirtschaft wichtiger denn je. Also wäre das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer weiteren Aufschiebung noch besser als beim letzten Mal.

Also bleibt die dritte Gefahr – über die wir uns wirklich Sorgen machen sollten: Nach Mays Abschied ist es fast sicher, dass ihr Boris Johnson oder ein anderer europhober Politiker als Premierminister folgt. Könnte dieser einen Weg finden, das Parlament zu umgehen und unilateral einen Brexit ohne Abkommen durchzusetzen?

Ein wirklich entschlossener Anhänger des Brexit hätte dazu zwei Möglichkeiten: Er oder sie könnte entweder Neuwahlen auslösen und eine echte parlamentarische Mehrheit für sich gewinnen, oder versuchen, die Bemühungen des Parlaments um einen weiteren Aufschub des Brexit zu blockieren.

Schaut man genauer hin, sind diese Möglichkeiten allerdings höchst unplausibel. Dass ein neuer Tory-Anführer – insbesondere einer, der so ehrgeizig ist wie Johnson – sein Lebensziel aufs Spiel setzt und riskiert, durch eine Neuwahl vor dem 31. Oktober der am kürzesten amtierende Premierminister in der Geschichte zu werden, ist kaum denkbar. Die nächsten britischen Wahlen werden wahrscheinlich deutlich vor der verfassungsmäßigen Frist im Sommer 2022 abgehalten, aber jeder neue Premierminister wird, bevor er dieses Risiko eingeht, Erfolge verzeichnen wollen (insbesondere zum Thema Brexit) und versuchen, die katastrophalen Wahlergebnisse der Torys wieder zu verbessern.

Ähnliche Erwägungen werden auch den letzten möglichen Weg zu einem Austritt ohne Abkommen verhindern: dass ein neuer Premierminister versucht, das Parlament irgendwie zu umgehen. Auch ohne Änderungen der parlamentarischen Verfahrensweisen gibt es einen klaren Mechanismus, der verhindert, dass die Mehrheit der Parlamentarier umgangen wird: Die Opposition kann jederzeit ein Misstrauensvotum beantragen. Nach den jüngsten Parteiaustritten bei den Torys wären nur noch fünf oder sechs zusätzliche Rebellen nötig, um die Regierung zu Fall zu bringen und Neuwahlen zu erzwingen, die der neue Premierminister wohl verzweifelt vermeiden wird.

Fanatische Brexit-Anhänger argumentieren zwar, ein Premierminister, der einen Brexit ohne Abkommen wirklich will, könne die totale politische Bombe zünden: das Parlament auflösen und sich weigern, die Parlamentarier vor dem 31. Oktober zurückzurufen. Dann würde laut aktueller Gesetze der Brexit automatisch geschehen. Aber glaubt man wirklich, das Vereinigte Königreich werde sich in ein zweites Simbabwe oder Venezuela verwandeln? In diesem Fall sollte man mit einen Brexit ohne Abkommen rechnen. Andernfalls kann man diese Möglichkeit getrost vergessen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Anatole Kaletsky ist führender Ökonom und Mitvorsitzender von Gavekal Dragonomics sowie der Verfasser von Capitalism 4.0: The Birth of a New Economy in the Aftermath of Crisis.

Copyright: Project Syndicate, 2019.

www.project-syndicate.org


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