Weniger als zwei Wochen vor den Wahlen in Großbritannien, die endlich über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union entscheiden, nehmen die Befürchtungen auf beiden Seiten des Ärmelkanals immer mehr zu. Da die Meinungsumfragen auf einen klaren Sieg der Konservativen unter Boris Johnson hindeuten, haben viele Finanziers und Medienkommentatoren Angst vor einem chaotischen No-Deal-Brexit. Dieser würde nicht nur dem Vereinigten Königreich schaden, sondern auch dem übrigen Europa, das fast doppelt so viel nach Großbritannien exportiert wie nach China. Andere fürchten immer noch eine Wahlüberraschung, mit der der unbeugsame Marxist Jeremy Corbyn zum Premierminister einer Labour-Regierung werden könnte – einer Regierung, die dazu neigt, Industrien erneut zu verstaatlichen, den Klassenkampf der 1970er wiederzubeleben und die NATO zu untergraben.
Keine diese Sorgen ist allerdings gerechtfertigt. Dass sich die Wirtschaftsräume der EU und Großbritanniens derart beängstigend voneinander abspalten, wie es noch bei Johnsons Amtsantritt als Tory-Parteiführer im Sommer schien, ist kaum zu erwarten. Und selbst wenn Corbyn wider Erwarten gewinnt, ist es kaum wahrscheinlich, dass irgend eine der radikalen Maßnahmen im Labour-Parteiprogramm tatsächlich umgesetzt wird, da die einzige denkbare Alternative zu einem Sieg der Tories ein weiteres Parlament ohne absolute Mehrheit wäre, in dem Labour, um regieren zu können, von anderen Parteien abhängt.
Darüber hinaus würde eine solche Regierung lediglich zu dem Zweck bestehen, ein neues „sanftes“ Brexit-Abkommen zu schließen, das der norwegischen Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum ähnelt. Dann würde eine Volksabstimmung folgen, um die neue Vereinbarung zu legitimieren oder den Brexit völlig abzusagen. Nach diesem „abschließenden“ Referendum wären weitere Wahlen unvermeidlich, da die anderen Parteien keine weiteren Labour-Maßnahmen unterstützen würden.
Was ist aber mit dem wahrscheinlicheren Ergebnis, dass Johnson gewinnt? Damit sind Befürchtungen über eine neue Art von „No-Deal-Krise“ in der Übergangszeit nach dem Brexit verbunden, also dann, wenn Großbritannien die Vorteile und Verpflichtungen einer EU-Mitgliedschaft behält, aber formell aus der EU aussteigt.
Das Austrittsabkommen vom Oktober sieht eine Übergangsperiode bis Ende 2020 und eine mögliche Verlängerung um weitere zwei Jahre vor. Als Reaktion auf die Beschuldigungen der Hardliner, er plane einen „Brexit nur dem Namen nach“, schrieb Johnson in sein Wahlprogramm, die Umsetzungsperiode werde „nicht [...] über den Dezember 2020 hinaus verlängert“.
Stattdessen versprach er, zwischen dem Königreich und der EU innerhalb von 12 Monaten ein umfassendes Handelsabkommen abzuschließen. Dies wird nicht geschehen: Noch nie haben sich zwei große Volkswirtschaften in weniger als drei oder vier Jahren auf ein Handelsabkommen geeinigt. Schlimmer noch: Das Austrittsabkommen erfordert, dass die Entscheidung, ob die Übergangsfrist verlängert werden soll, im Juni getroffen werden muss. Dies löst Sorgen (die manchmal an Panik grenzen) über eine neue „No-Deal“-Frist bis zum ersten Juli aus.
Auch diese Ängste sind jedoch unbegründet. Warum sollte man Johnsons Versprechen, die Übergangsfrist nicht zu verlängern, ernst nehmen? Immerhin versprach er wiederholt, die EU „ohne wenn und aber, was auch immer geschieht“ bis zum Oktober zu verlassen. Und nachdem ihn das Parlament gesetzlich verpflichtete, diese Frist zu verlängern, versprach er, lieber „in einem Graben zu sterben“, als dieser Vorgabe zu folgen. Als aber der 31. Oktober kam, erwiesen sich alle „Geheimstrategien“ Johnsons, das Gesetz zu umgehen, als Illusionen, und ohne Zögern stimmte er der Verlängerung zu. Damit brach er eins der festesten Versprechen, die jemals ein britischer Politiker den Wählern gegeben hat. Warum sollte er dann also im Fall seiner Wiederwahl ernsthafte Folgen befürchten müssen, wenn er ein weiteres Versprechen bricht, das nur wenige Durchschnittswähler überhaupt kennen?
In streng wirtschaftlicher Hinsicht ist es beruhigend, dass „Johnsons Karriere auf zwangloser Verlogenheit“ beruht, wie es der leitende politische Kommentator der oft unterschätzten Financial Times schrieb. Versucht man vorherzusagen, wie Politiker von Johnsons Art schwierige Entscheidungen treffen, hilft es oft, Versprechen zu ignorieren und sich auf wirtschaftliche und politische Interessen zu konzentrieren.
Wird Johnson wiedergewählt, was läge dann in seinem wirtschaftlichen Interesse? Seine höchste Priorität wäre wohl zu zeigen, dass sein „fantastisches Brexit-Abkommen“ ein möglichst schmerzloses Verlassen der EU gewährleistet und auf wundersame Weise das Wirtschaftswachstum ankurbelt. Würde er während seines ersten Jahres im Amt eine Finanzkrise riskieren, wäre er verrückt – ob sie nun durch die Verweigerung einer Übergangsperiode verursacht würde, oder aber durch einen Zusammenbruch des Handels in dem fast sicheren Fall, dass innerhalb von 12 Monaten kein EU-Handelsabkommen abgeschlossen werden kann. Daher liegt es eindeutig in Johnsons wirtschaftlichem Interesse, den Übergang nach dem Brexit über den Dezember 2020 hinaus zu verlängern und wahrscheinlich sogar die gesamten drei Jahre in Anspruch zu nehmen.
Und wie sieht es mit den politischen Interessen aus? In seiner kurzen Karriere als Premierminister hat sich Johnson auf die Unterstützung der Brexit-Hardliner im Parlament verlassen, und der Schlüssel zu seiner Wahlstrategie bestand darin, Nigel Farages Brexit-Partei ins Abseits zu drängen. Um diese beiden Ziele zu erreichen, musste er jede Möglichkeit einer Verlängerung des Nach-Brexit-Übergangs ausschließen. Aber diese politischen Überlegungen werden sich bald ins Gegenteil umkehren.
Was die öffentliche Meinung betrifft, muss Johnson die Brexit-Partei nach der Wahl nicht mehr bekämpfen. Darüber hinaus werden viele Pro-Brexit-Wähler bereits damit zufrieden sein, dass Großbritannien die politischen Institutionen der EU verlässt. Um die Handels- und Marktverhandlungen, die dann für lange Zeit weitergehen können, werden sie sich nicht kümmern.
Nach der Wahl wird sich auch der parlamentarische Einfluss der Brexit-Hardliner verringern. Johnson brauchte sie, um sich von ihnen zum Vorsitzenden wählen zu lassen und ohne eine parlamentarische Mehrheit im Amt bleiben zu können. Aber alle Tory-Parlamentarier haben sich nun schriftlich dazu verpflichtet, bedingungslos für Johnsons Austrittsabkommen zu stimmen. Bekommen sie die Mehrheit, werden die Tories dieses Abkommen umsetzen. Und ist dies erst geschehen, werden weitere Verhandlungen über den Handel mit der EU, darunter auch die Übergangsbedingungen, keinerlei parlamentarische Zustimmung mehr benötigen, bis ein Abkommen erzielt ist – ob dies nun 2020, 2021 oder später geschieht.
Das Fazit ist, dass die britischen Beziehungen zur EU – unabhängig vom Wahlergebnis in diesem Monat – für lange Zeit fast unverändert bestehen bleiben. Verliert Johnson, wird der Brexit verzögert und wahrscheinlich abgesagt. Gewinnt er, was wahrscheinlicher ist, wird der Brexit umgesetzt, was Großbritannien langfristig schaden wird. Aber in Hinblick auf die nächsten ein oder zwei Jahre sollten sich die Bedenkenträger wirklich beruhigen.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Anatole Kaletsky ist führender Ökonom und Mitvorsitzender von Gavekal Dragonomics sowie der Verfasser von Capitalism 4.0: The Birth of a New Economy in the Aftermath of Crisis.Copyright: Project Syndicate, 2019.