Der Vorstandschef des Dax-Konzerns Wirecard, Markus Braun, tritt mit sofortiger Wirkung zurück. Interims-Chef wird der erst am Vorabend in den Vorstand berufene US-Manager James Freis, wie Wirecard am Freitag in München mitteilte.
Das Unternehmen kommt damit auch am Freitag nach dem Kursabsturz am Vortag nicht zur Ruhe: Die Aktien des angeblich in einen Bilanzskandal verwickelten Dax-Konzerns verloren erneut drastisch an Wert, zuletzt um fast 50 Prozent auf etwas mehr als 20 Euro. Am Donnerstag waren die Papiere um knapp 62 Prozent abgestürzt, nachdem Wirecard wegen milliardenschwerer Unklarheiten in der Bilanz seinen Jahresabschluss erneut nicht vorlegt hatte. Das war der zweitgrößte Tagesverlust eines Dax-Titels in der fast 32-jährigen Geschichte des deutschen Leitindex.
Die Bilanzprüfer haben Zweifel an der Existenz von 1,9 Milliarden Euro, die auf Treuhandkonten in Asien verbucht worden sein sollen. "Müssen die 1,9 Milliarden abgeschrieben werden, ist der Nettogewinn der vergangenen zehn Jahre futsch", rechneten die Autoren des täglichen Bernecker-Börsenbriefs aus.
Doch offenbar weiß niemand von diesen Treuhandkonten: Die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtete am Freitag , dass zwei philippinische Banken auf Anfrage Kundenbeziehungen mit Wirecard verneinten, obwohl sie im Zusammenhang mit den Treuhandkonten genannt worden sein sollen. Inzwischen erklärte die philippinische Bank BDO Unibank, bei der angeblich eines von zwei fraglichen Treuhandkonten für Wirecard geführt wurde, dass das deutsche Unternehmen kein Kunde sei: "Das Dokument, in dem die Existenz eines Wirecard-Kontos bei BDO behauptet wird, ist ein manipuliertes Dokument, das gefälschte Unterschriften von Bankangestellten trägt", hieß es in der Stellungnahme des in der Stadt Makati ansässigen südostasiatischen Geldhauses. "Der Fall ist an die Zentralbank der Philippinen berichtet worden."
Wirecard-Vorstandschef Markus Braun sieht das Unternehmen derweil womöglich in einen gigantischen Betrugsfall verstrickt. Wirecard war in den vergangenen Monaten ins Visier zahlreicher Hedgefonds aus London und New York geraten (hier, hier , hier, hier und hier nachzulesen) welche auf Kurseinbrüche der Aktie wetteten und damit saftige Gewinne machten. Begleitet wurde dies durch immer neue Vorwürfe, welche in der in London erscheinenden Finanzzeitschrift Financial Times erhoben wurden (etwa hier, hier, hier, hier und hier nachzulesen) - und die den Kurs der Aktie stets unter Druck brachten.
Analysten wie Mirko Maier von der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) hatten sich verwundert gezeigt über die erneute Verschiebung der Bilanzvorlage. Noch am 25. Mai habe Wirecard kommuniziert, dass für die Bilanz 2019 ein uneingeschränktes Testat erwartet werde, erklärte Maier in einer Studie. Insofern überrasche die Meldung mit den Täuschungsvorwürfen. Sollte der Zahlungsabwickler auch an diesem Freitag keinen testierten Abschluss präsentieren, droht die Kündigung von Krediten in Höhe von etwa zwei Milliarden Euro. Experten zweifeln allerdings, dass die Kreditgeber so einfach den Stecker ziehen würden, da dies auch Belastungen für andere Banken zur Folge haben könnte. "Werden die Kredite fällig gestellt, ist fraglich, ob die Liquidität reicht. Es geht schlicht ums Überleben", hieß es im Bernecker-Börsenbrief.
Währenddessen haben Hedgefonds ihre Wetten auf fallende Wirecard-Aktien deutlich erhöht. Die Netto-Leeverkaufspositionen liegen inzwischen bei fast 17 Prozent, wie am Freitag aus Daten des Bundesanzeigers hervorging. Am Mittwoch, bevor der Bilanzskandal um Wirecard so dramatische Züge annahm, waren noch zehn Prozent der Wirecard-Aktien an Spekulanten ausgeliehen. Die größte Position hält mit 2,5 Prozent inzwischen der Hedgefonds Coatue. Auf den US-Fonds TCI mit seinem prominenten Manager Chris Hohn entfallen gut 1,5 Prozent. Mit Leerverkäufen wetten Anleger auf fallende Kurse. Dabei verkaufen sie Wertpapiere, die sie sich zuvor gegen eine Gebühr leihen. Sinkt der Preis bis zum Rückgabe-Datum, können sie sich am Markt billiger mit den Titeln eindecken und streichen die Differenz ein. Steigt der Kurs dagegen, droht den Leerverkäufern Verlust. Die Aktien von Wirecard hatten am Donnerstag mehr als 60 Prozent verloren, am Freitag rauschten sie um weitere 35 Prozent in die Tiefe.