Gewalt und Moral
Sławomir Sierakowski: Wir wissen also, was Polen nicht leisten kann. Aber mich interessiert das Spektrum der Möglichkeiten unter anderen Umständen. Die PiS-Regierung wird nicht ewig an der Macht bleiben. Wenn Sie Ihre politische Vorstellungskraft spielen lassen, was für Instrumente würden Sie dann nutzen wollen? Selbst die derzeitige Regierung bietet zumindest etwas an: Stipendien, Krankentransporte, eine Lockerung der Visabeschränkungen. Diese Gesten sollte man anerkennen. Gibt es noch etwas, das man für Weißrussland tun könnte?
Donald Tusk: Gut, lassen Sie uns einen Moment über die Ereignisse der letzten Tage hinausgehen. Derzeit tun sowohl die polnische Regierung als auch die EU als Ganze mehr oder weniger, was sie tun sollten – sie versuchen, mit gebotener Vorsicht, zuzuhören, was sich die Weißrussen wirklich von ihnen wünschen, und das in gewissem Grade umzusetzen.
Die EU, einschließlich Polens, hat außerdem Instrumente wie Sanktionen zur Verfügung, und gewisse Maßnahmen wurden hier ergriffen. Die Sanktionen können weiter verschärft werden, wenn sich die Situation verschlechtert. Doch das Wichtigste ist, die europäische Einheit zu wahren und gegenüber Putin die europäischen Prinzipien aufrechtzuerhalten. Diese Prioritäten haben in Europa an Bedeutung verloren, was an diversen Regierungswechseln und an der Entwicklung der Lage in der Ukraine liegt. Viele europäische Länder sind an so etwas wie einer Normalisierung ihrer Beziehungen zu Putin und Russland interessiert.
Dafür zu sorgen, dass Europa wachsam und bereit bleibt, der Ukraine oder den kleineren Ländern innerhalb der Östlichen Partnerschaft zu helfen, erfordert Druck von früh bis spät. Es bedarf einer ständigen Suche nach Verbündeten, proaktiver Planung und politischer Initiativen sowie laufender Bemühungen, die Franzosen zu überreden, in dieser Frage auf die Deutschen zu hören. Und selbst dann ist es ein ständiger Kampf, die Fokussierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Entschlossenheit in Bezug auf die Ukraine und jetzt Weißrussland aufrechtzuerhalten.
Europa zu hindern, seine Haltung in diesen Fragen aufzuweichen, erfordert in der Regel kontinuierliche, unspektakuläre Anstrengungen hinter den Kulissen. Die Aufgabe besteht darin, die eigenen Überzeugungen der EU zu stärken und Putin die Illusion zu nehmen, dass er sich in Europa einmischen kann, wie es ihm passt. Eine offensichtliche Botschaft, die man jetzt betonen sollte, ist, dass Russland Gift verkörpert – sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne, wie im Falle Alexei Nawalnys. In ähnlicher Weise hat sich das Bild von Lukaschenko mit dem Gewehr in der Hand zum Symbol seiner Diktatur entwickelt.
Letztlich können Sie immer noch mit Russland verhandeln, aber Sie müssen das in dem Bewusstsein tun, dass der Kreml ständig ein strategisches Problem für Europa schafft, und wir können keine Einigung mit Putin auf Kosten der Länder der Östlichen Partnerschaft herstellen. Diese geopolitischen Ungewissheiten zu steuern erfordert tägliche Arbeit; daher werden Sie jetzt keine konkreteren Vorschläge von mir hören.
Sławomir Sierakowski: Lassen Sie uns kurz abschweifen: Was glauben Sie, sollten die Konsequenzen der Vergiftung Nawalnys für Russland sein, und wie könnten sie die Lage in Belarus beeinflussen?
Donald Tusk: Ich habe schon immer argumentiert, dass Russland für Europa ein strategisches Problem ist und kein strategischer Partner. Putins unverhülltes Ziel war und ist die Schwächung der EU und ihre letztliche Spaltung. Darum ist es so wichtig, eine gemeinsame europäische Haltung in Bezug auf Russlands Aggression in der Ost-Ukraine, die Lage in Weißrussland und die Anschläge auf Oppositionelle beizubehalten. Schließlich ist Nawalny nicht der erste Putin-Gegner, der eliminiert werden sollte. Tatsächlich war dies noch nicht einmal der erste Anschlag auf Nawalny.
Das Worst-Case-Szenario wäre eine Spaltung der EU in diesen Fragen. Wenn der Kreml merkt, dass die europäische Solidarität bröckelt, wird er einen Schritt weiter gehen. Ein gespaltenes Europa wird nicht in der Lage sein, das weißrussische Volk wirksam zu unterstützen. Unsere Reaktion sollte so fest wie möglich sein, aber vor allem sollte sie einig sein. Ich glaube nicht, dass harte Sanktionen möglich sind, aber ich glaube noch immer an die Einheit der EU.
Sławomir Sierakowski: Mein Eindruck nach einmonatigem Aufenthalt in Minsk ist, dass Opposition und Demonstranten ihr Bestes tun, um dem Westen die Lage zu vereinfachen, indem sie weder Russland provozieren noch die EU in eine schwierige Lange zwingen. Doch der Grund ist nicht, dass sie eine neutrale Einstellung haben. Sie stehen Europa eindeutig näher, und es wäre unsinnig, einen Diktator zu bekämpfen, nur um mit seinem Nachfolger zu sympathisieren.
Doch diese stillschweigend proeuropäische Haltung könnte bei vielen Weißrussen letztlich zu Enttäuschung führen, wenn die EU nicht irgendeine Zukunftsvision für Weißrussland entwickelt. Ich spreche hier nicht von einer EU-Vollmitgliedschaft – aber was wäre mit Visafreiheit, so wie die Ukraine sie hat?
Donald Tusk: Alles, was nicht verlogen oder ein falsches Versprechen ist – wie etwa die Behauptung, dass die Tür für einen EU-Beitritt offen steht –, ist sinnvoll. Zudem ist Weißrussland bereits Teil der Östlichen Partnerschaft. Das Problem war immer schon Lukaschenko. Mit ihm an der Macht ist die Position des Landes eine andere als die der Ukraine, Georgiens oder Moldawiens. Seit Jahren ist klar, dass wir für jedes Land in der Östlichen Partnerschaft eigene nationale Wege der Kooperation entwickeln müssen. Wir müssen die Denkweise der Weißrussen uneingeschränkt respektieren. Sie verkörpern schließlich in perfekter Manier die Grundsätze der Besonnenheit und der Solidarität. Für die Polen war in den 1980er Jahren „Vorsichtig, aber couragiert“ das Motto.
Ihre Beschreibung trifft den Nagel auf den Kopf. Die weißrussische Opposition macht es prorussischen Politikern in Europa sehr schwer, sich abzuwenden. Die Weißrussen sagen: Wir werden gewaltfrei agieren; wir wollen keinen Konflikt mit Russland; wir propagieren keine übertrieben ehrgeizigen oder unrealistischen Pläne; wir wollen das bloße demokratische Minimum, das kein anständiger Mensch ablehnen kann.
Doch seien wir ehrlich: Selbst dieser kluge Ansatz garantiert keinen schnellen Erfolg. Lukaschenko hat seine Legitimität eingebüßt, aber das hatte Polens Diktator Wojciech Jaruzelski 1981 auch. Die Tatsache, dass ein Herrscher seine Legitimität verliert, bedeutet nicht, dass er sofort die Macht verliert. Ich entschuldige mich für das Klischee, aber in der Politik reicht es nicht, im Recht zu sein. Trotzdem ist es offensichtlich ein wichtiger Faktor. Ich kenne derzeit keinen europäischen Politiker, der sich offen auf die Seite Lukaschenkos, der weißrussischen Bereitschaftspolizei (OMON) oder Putins stellen würde, insbesondere nach dem Drama um Nawalny.
Durch die Art ihres Aufstands erleichtern die Weißrussen Anständigkeit vonseiten Europas. Dasselbe tun Lukaschenko und Putin, deren Worte und Taten die prorussischen Politiker, die Europas östliche Partner bereitwillig guten Beziehungen zum Kreml opfern würden, faktisch zum Schweigen zwingen. Es kommt also alles zusammen.
Gibt es noch zusätzliche Instrumente? Europa hat Soft Power, aber das ändert die Situation auf dem Schlachtfeld nicht, die in Weißrussland herrscht. Für den Augenblick müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um Europa, einschließlich Polens, in diesem Zustand des ethischen Gleichgewichts zu halten – indem wir nicht überziehen, aber praktische, im Rahmen des Möglichen liegende Maßnahmen verfolgen, und indem wir alles tun, was die weißrussischen Demokraten von uns erwarten, weil wir erkennen, dass sie nicht zu viel verlangen.
Doppeltes Spiel
Sławomir Sierakowski: Mir ist in Weißrussland schnell ein Paradoxon aufgefallen, das Europa wichtige Chancen zu bieten scheint, wirksame Unterstützung zu leisten. Die unabhängigen Medien sind zum Mainstream geworden und erreichen ein Massenpublikum, obwohl sie mit Minibudgets arbeiten. In Polen würde die Gründung eines Fernsehsenders oder das Start einer großen Tageszeitung eine Milliarde Złoty (220 Millionen Euro) kosten. Doch in Weißrussland kostet es mit den heutigen Technologien sehr wenig, um ein Online-Nachrichtenportal zu unterhalten, das Millionen erreicht.
Selbst wenn die EU in strategischem Sinn nicht viel für Weißrussland tun kann, hat sie Geld, und es braucht nicht sehr viel, um in diesem Bereich hocheffektiv zu sein. Finanzielle Unterstützung wird besonders wichtig werden, wenn sich der Kampf gegen Lukaschenko hinzieht. Die Finanzierung unabhängiger Medien, die Subventionierung von Streikfonds für Arbeiter und ihre Familien und die Bereitstellung von Geldern für NGOs, Kultureinrichtungen und Studierende kann die Protestbewegung erheblich stärken und das Regime deutlich schwächen. Doch sie muss schnell kommen, bevor die jungen Leute alle auswandern.
Donald Tusk: Europa kann es sich durch seine verschiedenen Institutionen und Stiftungen leisten, so viel Geld zur Verfügung zu stellen, wie die weißrussischen Demokraten benötigen. Doch muss dies natürlich auf eine Weise geschehen, die für die Weißrussen akzeptabel ist. Wie wir wissen, ist der Erhalt von Geldern aus Europa mit gewissen Risiken verbunden. Vor Jahren, als sowohl Polen als auch die EU in die weißrussische Zivilgesellschaft investierten, verursachte diese Unterstützung manchmal Probleme für diejenigen, die sie annahmen. Wir müssen diese Risiken im Hinterkopf behalten.
Trotzdem werde ich persönlich alles in meiner Macht Stehende tun, damit die zur Verfügung stehende Menge an Geld nicht das Problem ist. Wir müssen nur gute politische und logistische Lösungen finden. Ich bin nicht befugt, eine Garantie im Namen der EU abzugeben. Aber ich bin mir sicher, dass wir das nötige Geld, egal wie viel es ist, organisieren können, um die Oppositionsbewegung in Weißrussland zu unterstützen.
Sławomir Sierakowski: Das ist eine starke, äußert bedeutsame Erklärung. Wie wir gesehen haben, war Lukaschenkos ursprüngliche Strategie brutaler Gewalt im Gefolge der Wahlen ineffektiv, und dasselbe gilt für seine anschließenden Bemühungen, Demonstrationen zu verhindern; die enormen Protestmärsche Anfang dieses Monats haben das gezeigt. Sie haben Weißrussland während Ihrer Zeit als polnischer Ministerpräsident und als Präsident des Europäischen Rates gut kennengelernt, darum frage ich mich, was das Regime Ihrer Meinung nach als Nächstes versuchen wird. Ist Lukaschenko bereit, Gewalt einzusetzen?
Donald Tusk: Wir erleben heute ein ernstes geopolitisches Paradoxon. Lukaschenko – ein brutaler Autokrat und zugleich ein Exzentriker – genoss einst eine doppelte Legitimität als Herrscher. Erstens hatte er ein hohes Maß an echter Unterstützung, weil die politischen Alternativen schwach waren und die Bevölkerung nicht überzeugten. Zweitens war er in der Lage, die öffentliche Meinung sowohl in Weißrussland als auch in Europa mit dieser Botschaft zu kitzeln: Egal, was euch an mir stört, ich sorge dafür, dass Weißrussland nicht tatsächlich wieder Teil Russlands wird. Und er hat lange ein ähnliches Spiel mit Russland gespielt: Ihr mögt mich vielleicht nicht, aber ohne mich stünden an eurer Grenze Nato-Truppen.
Ich habe bisher nicht darüber gesprochen, aber es ist etwas Interessantes passiert, als sich Weißrussland in der heißesten Phase des Maidan-Aufstands als eine Art Mittler zwischen der EU, Russland und der Ukraine einschaltete. Ich war damals noch polnischer Ministerpräsident, und Lukaschenko rief mich an mit einem Angebot. Er sagte, er würde die EU überzeugen, dass er der Garant einer friedlichen Lösung für das ukrainische Problem sein könne, und bat mich, seine Idee einer weißrussisch-ukrainischen Union zu unterstützen, in der er als Präsident beider Länder dienen würde. Er schien nahezulegen, dass dies der einzige Weg sei, um Russlands aggressiven Absichten einen Riegel vorzuschieben.
Es war natürlich offensichtlich, dass seine Sorge nicht der Ukraine, sondern seinem eigenen Machterhalt galt. Damals hatten alle Angst, dass Russland es nicht bei der Annexion der Krim belassen würde, und Lukaschenko fürchtete, dass die Ereignisse außer Kontrolle geraten und nicht nur die Ukraine, sondern auch Weißrussland verschlingen könnten. Das hätte das Ende für ihn bedeuten können.
Sławomir Sierakowski: Indem er vorschlug, dass er Präsident der Ukraine werden sollte, hat Lukaschenko da nicht faktisch vorgeschlagen, dass Weißrussland zum Westen übergehen würde? Wann wurde dieses Angebot gemacht?
Donald Tusk: Im Frühjahr 2014. Aber erinnern wir uns: Lukaschenko hat immer sein eigenes Spiel gespielt und wird es immer tun. Er sondierte, wie viel Spielraum er hatte und ob Europa sich in sein Spiel würde hineinziehen lassen. Wir müssen zugeben, dass er im Falle der Ukraine eine positive Rolle gespielt hat, egal, wie wir seine Motive einschätzen.
Heute haben wir es mit einem Lukaschenko zu tun, der sowohl sein zweifelhaftes, aber reales innenpolitisches Mandat als auch seine zweite Quelle der Legitimität verloren hat. Er unterdrückt nicht nur brutal die eigene Gesellschaft, sondern bittet zudem unmissverständlich Russland um eine Sicherheitsgarantie.
Man erinnere sich an seine Rede vom 15. August. Da sagte er dem Kreml im Wesentlichen: Seid vorsichtig, dies wird auf euer Land übergreifen, wenn ihr nicht zu meiner Rettung kommt, denn ich werde das allein nicht schaffen können.
Diese neue Position beseitigt seine zweideutige Rolle als stabilisierende Kraft, die Putin auf Distanz hielt. Sie bedeutet, dass Lukaschenko in zwei großen, wichtigen Fragen verloren hat – obwohl auch dies nicht heißt, dass er bereits die Macht verloren hat. Leider könnte sein Regime auch in Zukunft Bestand haben, gestützt durch die Sicherheitsdienste und die von ihnen ausgehende Gewalt.
Endspiel-Szenarien
Sławomir Sierakowski: Das bringt mich zurück zu meiner vorherigen Frage. Können Sie sich wirklich vorstellen, dass er sich entschließt, Leute zu erschießen?
Donald Tusk: Ich fürchte, jedes Szenario ist möglich. Wir hören jeden Tag, wie die, die inhaftiert werden, behandelt werden. Wir sprechen hier von jemandem, der bereits entschieden hat, Prügel, Folter und sogar Mord anzuordnen, auch wenn er später im gewissen Umfang einen Rückzieher gemacht hat. Lukaschenkos theatralischer Spaziergang mit der Flinte in der Hand war gewissermaßen ein Versuch, zu beweisen – auch sich selbst –, dass er zu allem imstande ist. Ich möchte keine Vorhersagen anstellen. Ich weiß es nicht. Niemand – vermutlich nicht einmal Lukaschenko selbst –, weiß, was sich entfalten wird.
In jedem Fall fürchte ich, dass er mental fähig ist, die nächste Linie zu überschreiten. Ich würde ein extremes Szenario nicht ausschließen, falls sein Versuch, die Protestierenden zu zermürben, keine Ergebnisse bringt. Auf jeden Fall ist die Situation des weißrussischen Volkes objektiv schwieriger als die der Ukrainer vor ein paar Jahren.
Sławomir Sierakowski: Und was sind Ihrer Meinung nach die Umstände, die Russland zum Eingreifen bewegen könnten? Nach meinem Verständnis ist das ukrainische Szenario angesichts der negativen Erfahrungen, die Russland gemacht hat, eher unwahrscheinlich.
Donald Tusk: Weißrussland ist ein anderes Land. Es gibt keine Krim. Es gibt kein Donezbecken. Hier wäre jedes Eingreifen eine klare Aggression gegen Weißrussland als Ganzes. Man kann nicht von einer verfolgten russischen Minderheit sprechen, wie sie laut russischen Behauptungen im Donezbecken existiert, oder auch nur von offen antirussischen Weißrussen. Putins politisches Theater wird immer zugunsten der russischen öffentlichen Meinung aufgeführt. Im Donezbecken will er zeigen, dass er eine russische oder russischsprachige Minderheit gegen nationalistische Ukrainer verteidigt. Aber dieser Vorwand lässt sich in Weißrussland nicht nutzen.
So gesehen hat Putin weniger Spielraum als in der Ukraine. Auch wenn Russland (aus offensichtlichen Gründen) in Weißrussland stärker präsent ist als in der Ukraine, erschwert dies es beiden Seiten, ein positives Ergebnis zu erzielen. Ich glaube nicht, dass Putin sich entschließen wird, seine brüderliche Hilfe anzubieten, weil dazu schlicht keine Notwendigkeit besteht. Solange Militär und Polizei Lukaschenko gegenüber loyal bleiben, reichen diese Kräfte aus, um die Opposition zu befrieden. Wie Putin reagiert, wenn diese Loyalität schwindet – was möglich ist –, weiß ich nicht.
Sławomir Sierakowski: Wird Putin Lukaschenko verteidigen, oder wird er es vorziehen, mit irgendeiner neuen Oppositions-Elite zu verhandeln? Die moldawischen, armenischen oder georgischen Szenarien sind ziemlich ermutigend für die weißrussische Opposition. Diese politischen Übereinkünfte waren nicht mit denselben Kosten verbunden wie in der Ukraine. Führte nicht jede faktisch zu einer Tolerierung der Demokratisierung unter der Voraussetzung, dass freundliche Beziehungen zu Russland aufrechterhalten würden?
Donald Tusk: In all diesen Ländern hat Putin konsequent versucht, unterschiedliche Alternativen herbeizuführen. Er ist imstande, demokratischere Regierungen zu akzeptieren – zu einem gewissen Preis. Das gilt selbst in Georgien, wo es sowohl im herrschenden Lager als auch bei der Opposition aufgrund des Problems mit Abchasien und von Grenzfragen im Allgemeinen eine antirussische Stimmung gibt. Es gibt einige Orte, und Georgien gehört dazu, wo offen prorussische Kräfte schlicht keine Wahlen gewinnen können.
Aber Weißrussland ist ein völlig anderer Fall. Falls Putin seiner Linie treu bleibt, sollte er kein Problem haben, patriotische weißrussische Partner zu finden, die für ihn ausreichend „sicher“ sind. Putins Verbindung zu Lukaschenko ist mit Sicherheit nicht sentimentaler Art. Ich weiß, was Putin über führende frühere und heutige ukrainische Politiker und über die Weißrussen und ihre Führung denkt. Nicht mit Respekt oder Anerkennung. Die Vorstellung eines „Großrusslands“ ist ein dauerhaftes Merkmal von Putins Denken. Aus seiner Sicht sind die ukrainische Unabhängigkeit und die weißrussische Souveränität historische Missverständnisse.
Dennoch erwarte ich kein Szenario, bei dem Russland sich entschließt, offen Gewalt einzusetzen – sofern nicht etwas in Russland selbst passiert. Aber selbst in Chabarowsk – wo es nach der Verhaftung eines nicht vom Kreml abgesegneten Gouverneurs zu Protesten gekommen ist – ist es zu einer nervösen Reaktion Putins gekommen. Eins ist dabei klar: Ich gehe von den jetzigen Gegebenheiten aus – was in der Zukunft geschieht, weiß keiner. Doch gegenwärtig hat Putin immer noch Zeit. Lukaschenko dagegen läuft die Zeit davon. Putin steht noch nicht so unter Druck wie Lukaschenko. Wenn nötig, wird Putin eine teilweise Kontrolle über Weißrussland ohne Lukaschenko und mit der Opposition an der Macht akzeptieren.
Sławomir Sierakowski: Wie schließlich ist es im Gefolge der weißrussischen Proteste und Putins Reaktion sowie der Vergiftung Nawalnys um die Zukunft der Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland bestellt? Wird Merkel das Projekt und die Behauptung, es handele sich dabei um ein rein wirtschaftliches Unterfangen, endlich aufgeben?
Donald Tusk: Nord Stream 2 hätte nie in Angriff genommen werden dürfen. Es liegt im Interesse Europas, seine Energiequellen zu diversifizieren und langfristig in Energiefragen autark zu werden. Die Abhängigkeit vom russischen Gas beschränkt den Spielraum der europäischen Diplomatie stark und rückt die gesamte Ostpolitik Deutschland in ein sehr zweifelhaftes Licht.
Aber ist es realistisch, zu erwarten, dass das Projekt wegen des Anschlags auf Nawalny beendet wird? Ich denke nicht. Schließlich wurde der Bau fortgesetzt, trotz der Annexion der Krim, der Aggression im Donezbecken, der Ermordung von Boris Nemtsow und des Abschusses des Passagierflugs MH17 durch vom Kreml unterstützte ukrainische Separatisten im Jahr 2014. Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass der Druck der öffentlichen Meinung, der wegen Nawalny jetzt stärker denn je ist, und vor allem wirtschaftliches Kalkül die Bundesregierung bewegen, ihre Position zu überdenken.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Donald Tusk war von 2007 bis 2014 polnischer Ministerpräsident und von 2014 bis 2019 EU-Ratspräsident. Sławomir Sierakowski ist Gründer der Bewegung „Krytyka Polityczna (Politsche Kritik)“, Direktor des „Instituts für fortgeschrittene Studien“ in Warschau und leitender Wissenschaftler der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“.
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