Finanzen

Wie eine neue Geldtheorie den Armen helfen soll – aber nur die Inflation anheizt

Eine neue Geldtheorie verspricht - angeblich - die Lösung aller finanzpolitischen Probleme. Doch sie führt nur zur Inflation - und einem weiteren sehr unangenehmen Effekt, wie DWN-Kolumnist Ernst Wolff in seiner Analyse darlegt.
Autor
avtor
11.10.2020 10:00
Lesezeit: 6 min
Wie eine neue Geldtheorie den Armen helfen soll – aber nur die Inflation anheizt
Durch eine Anwendung der Theorie wird der Einkaufswagen auch nicht voller, dafür würden die Preise deutlich steigen. (Foto: dpa)

Das weltweit praktizierte hemmungslose Gelddrucken steht immer heftiger in der Kritik, weil es überwiegend einer ultrareichen Minderheit zugute kommt. Macht nichts, sagen die Anhänger der Modern Monetary Theory (MMT) und warten mit einer simplen Lösung auf: Man muss das Geld nur anders verteilen.

Der MMT zufolge sollten die Zentralbanken ihr per Mausklick geschaffenes neues Geld nicht wie bisher an den Bankensektor vergeben, sondern großenteils nach dem Gießkannenprinzip in Form von Helikoptergeld über der Bevölkerung ausschütten. So könne dafür gesorgt werden, dass auch Geringverdiener und Arbeitslose ein Auskommen hätten, dass niemand mehr unter die Armutsgrenze rutschen und die rasante Zunahme der sozialen Ungleichheit endlich ein Ende finden würde.

So verlockend diese Zukunftsvision klingen mag, so gefährlich ist sie. Sie verkennt nämlich nicht nur die Gefahren, die die hemmungslose Geldschöpfung mit sich bringt. Sie dient vor allem als Wegbereiter für ein Vorhaben, das die Zentralbanken rund um den Globus zurzeit vorantreiben und das uns alle in eine Zukunft vollständiger Kontrolle und Überwachung führen soll – die Einführung des digitalen Zentralbankgeldes.

Zum besseren Verständnis dieses Prozesses muss man einen Blick auf die Entwicklung des globalen Finanzsystems im vergangenen Vierteljahrhundert und die zunehmende Bedeutung der Zentralbanken werfen.

Das globale Finanzsystem stand bereits mehrmals vor dem Zusammenbruch

1998 geriet ein US-Hedgefonds ins Trudeln und drohte, einen Dominoeffekt im Bankensystem auszulösen. Damals taten sich die betroffenen Geschäftsbanken unter der Führung der US-Zentralbank Federal Reserve (FED) zusammen, kauften den Hedgefonds für knapp vier Milliarden US-Dollar auf und entledigten sich so der fälligen Forderungen in Höhe von fast einer Billion US-Dollar. Die FED beteiligte sich nicht an den Zahlungen, bewahrte das System aber durch die Koordination der Rettungsaktion vor dem Zusammenbruch.

2007/08 erfolgte der nächste Beinahe-Zusammenbruch. Diesmal waren die Summen, um die es ging, allerdings so groß, dass die Geschäftsbanken überfordert waren. Also griffen die FED und die übrigen Zentralbanken direkt ins Geschehen ein. Sie schufen riesige Geldsummen aus dem Nichts, mit denen sie das System am Leben erhielten. Dadurch entstand allerdings ein Sogeffekt, der die Zentralbanken zwang, in den folgenden Jahren immer neues Geld zu schaffen und es zu immer niedrigeren Zinsen zu vergeben.

Da der Löwenanteil dieses Geldes nicht an die arbeitenden Menschen ging, sondern direkt in das globale Finanzcasino wanderte und dafür sorgte, dass es immer weiter ausuferte, nahm die Einkommensungleichheit weltweit dramatisch zu.

Die Empörung über diese Entwicklung brachte einige Politiker dazu, sich für die MMT zu interessieren, die bis dahin ein kümmerliches Schattendasein gefristet hatte. Sie lieferte ihnen nämlich die Rechtfertigung dafür, die Geldpolitik der Vergangenheit nicht etwa grundlegend zu verändern, sondern den Kurs der hemmungslosen Verschuldung unter veränderten Vorzeichen einfach weiter zu verfolgen.

Der Keynesianismus und die Rolle des Staates

Um die MMT zu verstehen, muss man sich die zwei Strömungen ins Gedächtnis rufen, von denen die Volkswirtschaftslehre seit Jahrzehnten beherrscht wird – den Keynesianismus und den Neoliberalismus. Beide unterscheiden sich vor allem in der Einschätzung und der Bewertung der Rolle des Staates.

Den Keynesianern zufolge sollte der Staat in wirtschaftlichen Krisenzeiten direkt in das Geschehen eingreifen, beispielsweise durch die Finanzierung des Baus von Straßen, Brücken oder öffentlichen Gebäuden. Durch solche Infrastrukturprojekte würden Arbeitsplätze geschaffen, die Menschen würden wieder Geld verdienen und könnten durch ihren Konsum die Wirtschaft ankurbeln.

Der Neoliberalismus dagegen verlangt vom Staat, sich so weit wie möglich aus dem Wirtschaftsgeschehen herauszuhalten. Er fordert vor allem die Deregulierung, also die Abschaffung einengender Regelungen für den Wirtschafts- und vor allem den Finanzsektor, und setzt dazu auf die Austeritätspolitik, also ein rigoroses Sparen des Staates.

Die MMT steht grundsätzlich auf der Seite des Keynesianismus, geht aber noch einen Schritt weiter. Sie verquickt nämlich die Rolle des Staates mit der der Zentralbank, wobei die Rollenaufteilung folgendermaßen aussieht: Die Zentralbank schafft Geld, während der Staat es in Gestalt von Steuern wieder einzieht.

Obwohl sämtliche Wirtschaftswissenschaftler bisher davon ausgingen, dass zwischen beiden Vorgängen ein Gleichgewicht bestehen müsse, behaupten die MMT-Anhänger das Gegenteil und verwiesen dazu auf das Beispiel Japan: Dort hat die Zentralbank in zwei Jahrzehnten mehr Geld ins System gepumpt als in irgendeinem anderen Land der Erde – ohne dass es zu einer nennenswerten Inflation gekommen ist.

Neuen Auftrieb haben die MMT-Fürsprecher in diesem Jahr durch die Rettung des globalen Finanzsystems nach dem Absturz des Ölpreises im März bekommen, in dessen Folge nicht nur hunderte von Milliarden, sondern Billionen an Dollars, Euros, Yen und britischen Pfund ins System gepumpt wurden, die ebenfalls keinen Inflationsschub erzeugt haben.

Der Haken an der Sache

Diese Argumentation hat aber einen Haken. Das von der Zentralbank geschaffene Geld konnte nämlich gar keine Inflation im Alltag bewirken, weil es nicht an die arbeitende Bevölkerung gegangen, sondern auf direktem Weg in die Taschen von Finanzspekulanten geflossen ist und diese es nicht in die Realwirtschaft, sondern in die Anleihen-, Aktien- und Immobilienmärkte gesteckt haben. Dort hat es tatsächlich eine gewaltige Inflation erzeugt, die man allerdings nicht so nennt, sondern als „Blasen“ bezeichnet.

Zudem lässt die MMT die historische Situation, in der wir uns zurzeit befinden, völlig außer acht: Wir haben es nämlich seit dem Beinahe-Zusammenbruch des globalen Finanzsystems 2007/08 an den Finanzmärkten auf Grund der Geldinjektionen und der Zinssenkungen der Zentralbanken mit der höchsten Verschuldung von Staaten, Unternehmen und Privathaushalten zu tun, die es jemals gegeben hat.

Die Umsetzung der MMT-Pläne würde diese Staatsverschuldung auf immer neue Rekordwerte treiben. Und nicht nur das: Da das neu geschaffene Geld nicht, wie seit 2007/08 in den Finanzsektor, sondern großenteils direkt an die arbeitenden Menschen ginge, würde es eine höhere Nachfrage nach Konsumgütern erzeugen – und die würde von der Industrie mit Sicherheit zu einer Erhöhung der Preise genutzt werden.

Das heißt: Sollte es tatsächlich zu einer Geldpolitik auf der Grundlage der MMT kommen, bekämen wir es schon sehr bald mit einer Inflation im Alltag zu tun. Diese wäre auch nicht mehr zu bremsen, denn um ihr entgegenzuwirken, bliebe nichts anderes übrig, als noch mehr Geld ins System zu pumpen. Auf diese Weise würde ein Kreislauf in Gang gesetzt, der nicht mehr zu stoppen wäre und der zwangsläufig über die Geldentwertung zu einer fortschreitenden Enteignung der arbeitenden Bevölkerung führen würde.

Die MMT löst also keines der Probleme, sondern schiebt sie nur vor sich her, schafft andere – neue – und schadet schlussendlich der Mehrheit der Bevölkerung.

Die größte Gefahr lauert im Hintergrund

Noch bedenklicher aber ist, dass die MMT einer Entwicklung Vorschub leistet, die derzeit von den Zentralbanken in Zusammenarbeit mit den großen Digitalkonzernen vorangetrieben wird und die weder in den Medien noch bei der Politik Beachtung findet: die geplante Einführung des digitalen Zentralbankgeldes.

Wer wissen will, wie dieser Plan in der Praxis aussieht, der muss den Blick nach China richten: Dort läuft das Experiment seit April dieses Jahres auf Hochtouren. Im ehemaligen Reich der Mitte verfügen bereits vierzig Millionen Bürger über ein „wallet“ genanntes Konto bei der Zentralbank, über das sämtliche finanzielle Transaktionen abgewickelt werden. Sie erhalten ihren Lohn auf eine Handy-App und leisten alle Zahlungen ausschließlich darüber. Die Steuern werden ihnen automatisch abgezogen, zudem sorgt ein Sozialpunkte-System dafür, dass sie bei Fehlverhalten von diversen Dienstleistungen ausgeschlossen werden.

Auch in der westlichen Welt werden die Pläne für ein solches Projekt mit Nachdruck vorangetrieben. Die geniale Blockchain-Technologie, die einmal als Grundlage für die anonyme Kryptowährung Bitcoin entwickelt wurde, wird zu diesem Zweck in ihr Gegenteil verkehrt und zu einem Kontrollmechanismus pervertiert, mit dem sämtliche Zahlungsströme der Bevölkerung überwacht werden können.

Wer sich fragt, wie nah wir der Einführung eines solchen Systems sind, der muss nur wenige Monate zurückschauen: Im März und im April 2020 haben die Zentralbanken die größten Summen aller Zeiten mobilisieren und den Leitzins auf Null oder fast Null drücken müssen, um das System zu retten.

Beim nächsten Crash bliebt ihnen daher nur die Möglichkeit, noch größere Billionensummen zu schaffen und den Leitzins unter Null zu senken, womit das aktuelle Bankensystem mit Sicherheit zerstört würde. Um das zu vermeiden, gäbe es dann aus heutiger Sicht nur zwei Auswege: die Einführung des digitalen Zentralbankgeldes oder eine vollkommene Neugestaltung des bestehenden Geldsystems.

Da nur die erste Variante die bestehenden Machtverhältnisse unangetastet lässt, sollte es niemanden verwundern, dass zurzeit mit Hochdruck an ihrer möglichst schnellen Umsetzung gearbeitet wird.

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Ernst Wolff

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Ernst Wolff, 69, befasst sich mit der Wechselbeziehung zwischen internationaler Politik und globaler Finanzwirtschaft.

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