Bill Gates hatte vor wenigen Monaten in einem Interview mit der Wochenzeitung „The Economist“ gesagt, dass noch Millionen von Menschen sterben werden, bevor die Pandemie vorbei ist. Doch die meisten dieser Todesfälle würden nicht durch die Krankheit selbst verursacht, sondern durch die weitere Belastung der Gesundheitssysteme und Volkswirtschaften, die bereits Defizite aufweisen. In Schwellenländern, in denen Gesundheitssysteme und Volkswirtschaften bereits Probleme haben, werden die „Schmerzen“ am stärksten sein, meint er.
Gates mag in vielen Kreisen eine umstrittene Persönlichkeit sein. Doch aus seinen Worten kann objektiv gefolgert werden, dass er auf eine Ernährungskrise in vielen Ländern hinweist. Die betroffenen Länder hatten schon vor der Pandemie ein Problem bei der Bewältigung der Ernährungssicherheit.
Am 26. Oktober 2020 diskutierte Gates mit dem Dekan der Medical School der Stanford University über die Auswirkungen der Pandemie. Stanford Medicine wörtlich: „Der Zusammenbruch der Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern dürfte laut Gates besonders verheerend sein, da die durch die Pandemie verursachte Ernährungsunsicherheit und politische Instabilität die Fähigkeit der Regierungen gefährden, Medikamente und Impfstoffe bereitzustellen. ,Dies wird eine viel höhere Zahl von Todesopfern verursachen als COVID direkt‘, sagte er.“
Derzeit ist mindestens jeder elfte Mensch unterernährt, wie aus dem Welternährungsbericht der Vereinten Nationen hervorgeht. Dazu gehören auch Millionen Kinder, die nicht genug zu essen bekommen, um gesund aufzuwachsen. Insgesamt schätzen die Experten in ihrer am Montag vorgelegten Studie, dass im Jahr 2019 rund 690 Millionen Menschen unterernährt waren - also knapp neun Prozent der Weltbevölkerung. Aufgrund der Corona-Krise könnten 83 bis 132 Millionen Menschen zusätzlich ernste Not leiden, warnen fünf UN-Behörden, darunter die Welternährungsorganisation FAO in Rom.
„Seit 2014 ist die Zahl hungriger Menschen weltweit langsam angestiegen“, heißt es in dem Bericht für 2020. Die Zunahme seither betrage knapp 60 Millionen Menschen - das ist etwa die Einwohnerzahl Italiens. In den Jahren 2017 und 2018 hätten Konflikte und extreme Klimalagen die Ernährungssicherheit negativ beeinflusst. Beim Anstieg des Vorjahres um rund zehn Millionen unterernährte Menschen seien Wirtschaftskrisen ausschlaggebend gewesen. Noch vor sechs Jahren hatte die FAO von einem Lichtblick im Kampf gegen den Hunger und von sinkenden Zahlen gesprochen. Das Ziel der Staatengemeinschaft, den Hunger bis zum Jahr 2030 zu stoppen, bleibt mit den neuen Prognosen jedoch in weiter Ferne. Im Gegenteil: Wenn sich der Trend der vergangenen Studien fortsetze, könnte es in zehn Jahren mehr als 840 Millionen Unterernährte geben.
Ein Bericht des australischen Zentrums für internationale Agrarforschung (ACIAR) weist genau auf dieses Problem hin. Der Bericht enthält fünf eingehende Bewertungen mit Schwerpunkt auf Indonesien, den pazifischen Inselstaaten (Kiribati, Tuvalu, Samoa, Tonga, Salomonen, Vanuatu und Fidschi), Papua-Neuguinea, den Philippinen und Timor-Leste.
Zunehmende Herausforderungen beim Anbau und Verkauf von Lebensmitteln, verringerte Einkommen, Bedrohungen der Biosicherheit und eine stärkere Exposition gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels werden als anhaltende Herausforderungen in der gesamten Region identifiziert, die durch die Pandemie verstärkt werden.
Der Bericht wurde von Wissenschaftlern der „Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation“ (CSIRO) und der Australian National University (ANU) in Zusammenarbeit mit Partnern in den Zielländern erstellt und markiert die zweite Phase einer dreiphasigen Reaktion von ACIAR, um Interventionsmöglichkeiten zu ermitteln. „Durch COVID-19-Pandemie sind Millionen von Menschen im indopazifischen Raum betroffen. Kleinbauern ernähren mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. COVID-19 erschwert diesen Landwirten den Zugang zu Saatgut, Arbeitskräften, Düngemitteln und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen, da Reisebeschränkungen die Markteinführung ihrer Produkte erschweren. Die Lebensmittelsysteme standen bereits unter Druck. COVID-19 hat diesen Druck aufgedeckt und verschärft. Die Pandemie droht sich von einer Gesundheitskrise in eine Nahrungsmittelkrise zu verwandeln. Frauen und Mädchen gehören zu den am stärksten betroffenen Gruppen und sind am stärksten von einer Verschlechterung der Ernährungssicherheit bedroht“, zitiert „Grain Central“ den Vorstandsvorsitzenden von ACIAR, Professor Andrew Campbell.
Der englischsprachige Dienst der Deutschen Welle (DW) geht ebenfalls auf die Ernährungssicherheit im Indo-Pazifik-Raum mit Fokus auf Indien ein. „Der Nahrungsmittelstress bestand lange vor Beginn der Pandemie. Er ist jetzt schlimmer geworden. Viele Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren, und diejenigen mit niedrigem Einkommen klagen über Ernährungsunsicherheit“, sagte Dipa Sinha vom Programm für das Recht auf Nahrung gegenüber der DW. Indien belegte im Global Hunger Index 2019 - unter Pakistan und Nepal in Südasien - Platz 102 von 117 Ländern, wobei der Hunger in dem Land als „ernst eingestuft wird. Das Ranking basierte auf drei Hauptindikatoren - Wachstumsstörungen bei Kindern, Kindersterblichkeitsrate und Anteil unterernährter Menschen in einem Land.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wörtlich: „Die Pandemie hat das gesamte Nahrungsmittelsystem betroffen und seine Zerbrechlichkeit offengelegt. Grenzschließungen, Handelsbeschränkungen und Beschränkungsmaßnahmen haben Landwirte daran gehindert, Zugang zu Märkten zu erhalten, unter anderem um Vorleistungen zu kaufen und ihre Produkte zu verkaufen - und Landarbeiter daran gehindert, Getreide zu ernten, wodurch nationale und internationale Lebensmittelversorgungsketten gestört und der Zugang zu gesunder, sicherer und vielfältiger Ernährung eingeschränkt wurden. Die Pandemie hat Arbeitsplätze dezimiert und gefährdet Millionen von Lebensgrundlagen. Wenn Ernährer ihren Arbeitsplatz verlieren, krank werden und sterben, sind die Ernährungssicherheit und die Ernährung von Millionen von Frauen und Männern bedroht, insbesondere in Ländern mit niedrigem Einkommen, insbesondere in den am stärksten marginalisierten Bevölkerungsgruppen, zu denen Kleinbauern und indigene Völker gehören.“
Das „Wall Street Journal“ hatte zuvor berichtet: „Eine Nahrungsmittelkrise verschärft sich weltweit, während sich die Coronavirus-Pandemie hinzieht. Die Pandemie hat die Zahl der Menschen, die akut lebensmittelunsicher sind, verdoppelt, sagte Arif Husain, Chefökonom beim Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen.“
Der Guardian wörtlich: „Die Welt steht am Rande einer Nahrungsmittelkrise, die seit mindestens 50 Jahren schlimmer ist als jede andere.“
Aus einem Bericht des „European Journal of Public Health“ geht hervor: „COVID-19 und der Lockdown haben die Weltwirtschaft einer enormen Belastung ausgesetzt, erhöhen aber auch die Gefahr einer längerfristigen Ernährungsunsicherheit. Ungeachtet der Probleme der länderübergreifenden Vergleichbarkeit von Daten ist klar, dass die Ernährungsunsicherheit in vielen Ländern mit hohem Einkommen bereits weit verbreitet ist. Nach der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 waren schätzungsweise 13,5 Millionen europäische Haushalte von Ernährungsunsicherheit betroffen, während die derzeitige Rezession bereits viel tiefer ist und voraussichtlich länger andauern wird.“
Der Sekretär des Landwirtschaftsverbandes für Venetien teilte mit, dass die gesamte Lebensmittelversorgung zum Erliegen kommen könnte. Deutsche, französische und niederländische Landwirte haben die gleichen Probleme. „Die Preise einiger Grundnahrungsmittel wie Weizen und Reis, die zur Herstellung langlebiger Produkte wie Nudeln verwendet werden, sind bereits seit Anfang 2020 um etwa 15 Prozent bzw. 17 Prozent gestiegen. Dies wird die Preise für die Verbraucher, die aufgrund der Wirtschaftskrise bereits Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen, erhöhen (…) In einigen Ländern ist der Markt für frischen Fisch mit seiner begrenzten Haltbarkeit fast zusammengebrochen. In der Zwischenzeit müssen Lebensmittelverarbeiter ihre Produktionslinien neugestalten, da beispielsweise die Müller die Nachfrage nach kleinen Mehlsäcken für die Brotherstellung zu Hause nicht befriedigen können.“, heißt es in dem Papier.