Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Mit dem Begriff „Rechtsstaat“ wird in Deutschland primär der Schutz der Bürger vor staatlichen Übergriffen assoziiert. Das heißt, staatliches Handeln ist ans Recht gebunden, Willkür ist ausgeschlossen.
Aber impliziert „Rechtsstaat“ nicht auch, dass der Staat Gesetze und Regeln durchsetzen und seine Bürger schützen muss, damit sie ihre verfassungsmäßig garantieren Rechte wahrnehmen können?
Ralph Knispel: Ein Staat, der seinen Bürgern diesen Schutz versagt, dürfte sich allerdings nicht mehr „Rechtsstaat“ nennen. Die Bürger haben Anspruch darauf, dass der Staat sie umfassend vor Übergriffen schützt – eben nicht nur vor solchen, die von ihm, sondern auch vor solchen, die von anderen Bürgern ausgehen. Das heißt, der Staat ist sowohl für die Wahrung als auch für die Herstellung der Rechtsordnung innerhalb seiner Grenzen verantwortlich. Was letzteres angeht, muss er Recht durchsetzen, wenn notwendig, auch mit Zwang, so wie das beispielsweise hier in Berlin bei der – medial ausgiebig begleiteten – Räumung des besetzten Hauses in der Liebigstraße geschehen ist, die auf Grundlage eines gerichtlichen Räumungstitels erfolgte. Weiterhin muss der Staat dafür sorgen, dass der Bürger sein Recht vor Gericht durchsetzen kann – auch der „kleine“ Bürger, zum Beispiel im Zusammenhang mit einem Mietstreit oder einem Kaufvertrag.
Soweit zur Theorie. In der Praxis ist es so, dass der Rechtsstaat in Deutschland in Teilen nicht mehr funktionsfähig ist.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das ist ein massiver Vorwurf. Können Sie den konkretisieren?
Ralph Knispel: Wir haben schwere Strafsachen wie Raub- oder Gewalttaten, bei denen zwischen der Begehung der Tat und dem Urteilsspruch ein äußerst langer Zeitraum vergeht, teilweise drei bis fünf Jahre. Die Angeklagten können selbstredend über einen solch langen Zeitraum nicht in Untersuchungshaft genommen werden. Nach sechs Monaten Untersuchungshaft muss ein Oberlandesgericht – in Berlin das Kammergericht – entscheiden, ob die Untersuchungshaft verlängert werden darf. Und das geschieht eben wegen den Angeklagten nicht vorwerfbarer Umstände häufig nicht. Vielmehr sind Verfahrensverzögerungen an der Tagesordnung, die allein staatlichen Stellen zuzurechnen sind.
Weiterhin ist es so, dass der Bürger bei Zivilrechtsstreitigkeiten häufig unverhältnismäßig lange auf den Beginn der Verhandlung und das anschließende Urteil warten muss – das können dann bis zur Rechtskraft auch schon mal zwei oder mehr Jahre sein. Und dann folgt gegebenenfalls der oftmals steinige Weg der Vollstreckung.
Oder nehmen wir Wohnungseinbrüche. Es ist nicht so, dass die Polizei da keine Ansatzpunkte für Ermittlungen hätte. Es ist vielmehr so, dass sie Spuren feststellt, die für Untersuchungen durch Sachverständige geeignet sind – nehmen Sie beispielsweise DNA-Spuren. Dabei können immer wieder Spurenverursacher ermittelt werden, die einer den Strafverfolgern bereits bekannten Person zugeordnet werden kann. Nur: Das geschieht wegen fehlender personeller Kapazitäten bei der Berliner Kriminaltechnik erst lange nach der Tat. Wenn es sich um das Mitglied einer reisenden Einbrecherbande aus dem Ausland handelt, befindet sich diese Person dann möglicherweise schon lange nicht mehr in Deutschland. Ende des Jahres 2018 standen bei der zuständigen Stelle im LKA Berlin knapp 52.000 Gutachten aus. Allein bei DNA-Gutachten beliefen sich die Rückstände in Berlin Ende des Jahres 2014 auf rund 5.900 und im Sommer des Jahres 2019 gar auf ca. 29.000! Das sind nicht hinnehmbare Zustände und eines Rechtsstaates nicht würdig.
Nicht zuletzt nimmt selbst die Zahl der sogenannten Standkontrollen, also der allgemeinen Verkehrskontrollen – im Volksmund auch „Mausefallen“ genannt – , immer mehr ab. Das heißt, die Polizei nimmt weniger nicht verkehrstüchtige Fahrzeuge von der Straße, zieht weniger Fahruntüchtige aus dem Verkehr.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass in vielen Bereichen einfach nicht mehr die notwendigen Ressourcen vorhanden sind.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Warum ist das so?
Ralph Knispel: Viele Bereiche sind systematisch kaputtgespart worden. In Berlin hatten wir einen Regierenden Bürgermeister, der den berühmt gewordenen Satz geprägt hat: „Sparen, bis es quietscht.“ Bei allem Verständnis für finanzpolitische Beschränkungen frage ich mich, ob die Politik die richtigen Schwerpunkte setzt. Der Rechtsstaat kostet Geld. Seine Aufrechterhaltung ist nun mal nicht umsonst zu haben. Nehmen Sie den Strafvollzug – um nur mal einen Aspekt des Rechtsstaats herauszugreifen –, auch er ist kostenintensiv. Man muss sich aber die Frage stellen, ob sich Investitionen in einen funktionierenden Strafvollzug – mal abgesehen von juristischen Erwägungen – nicht auch in ökonomischer Hinsicht rentieren. Schließlich ist derjenige, der nicht in Haft kommt, weiter in der Lage, Straftaten zu begehen – und die meisten Straftaten ziehen schließlich teils ganz beträchtliche wirtschaftliche Schäden nach sich. Und niemand wird ernstlich glauben wollen, dass allein gute Worte und sozialpolitische Bemühungen dazu führen werden, dass sich dieser Personenkreis fortan auf einen rechtschaffenen Weg begeben wird.
Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang auch den Umstand, dass die ursprüngliche Strafprozessordnung aus dem 19. Jahrhundert stammt und trotz aller Reformen modernen Anforderungen einfach nicht mehr genügt. Beispielsweise gab es damals noch keine Rechner und Smartphones, deren Auswertung heutzutage sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Dazu fehlen Staatsanwaltschaft und Polizei häufig die sachlichen und personellen Mittel, was dazu führt, dass möglicherweise entscheidende Beweise nicht erbracht werden können.
Aber die Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien wird nicht nur durch die Knappheit der zur Verfügung stehenden Mittel erschwert, sondern auch durch andere Faktoren.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie uns diese erläutern?
Ralph Knispel: Da ist eine Justiz, deren Entscheidungen häufig nicht so ganz leicht nachvollziehbar sind. Hier in Berlin kommt man beispielsweise rascher in den offenen Vollzug als in allen anderen Bundesländern. Ein Verurteilter muss dafür natürlich bestimmte Voraussetzungen erfüllen, beispielsweise eine Arbeitsstelle vorweisen können. Aber ob er dieser Arbeit tatsächlich nachgeht, kann die Haftanstalt (aus Kapazitätsgründen) doch gar nicht kontrollieren. Für Angehörige bestimmter Milieus ist es vergleichsweise leicht, einen imaginären Arbeitsplatz vorzuweisen, beispielsweise im Gemüsehandel eines Verwandten. Aber sie verkaufen dann doch keine Orangen und Kichererbsen, sondern lieber Drogen.
Für mich als Staatanwalt ist es darüber hinaus immer wieder irritierend zu sehen, wie sich einige Angeklagte und ihre Anwälte vor Gericht benehmen. Wobei die Strafprozessordnung tatsächlich keine Ordnungsmittel für Verteidiger bereithält. Für Angeklagte aber schon. Einige Richter gebieten solchem Gebaren dann auch Einhalt, einige jedoch nicht. Ich frage mich immer, welches pädagogische Konzept sie damit verfolgen.
Dann sind da die Medien. Es gibt immer wieder Journalisten, die mit – gewollt oder ungewollt – großem Engagement zu Unterstützern der Gegenseite, der Kriminellen, werden. So werden einzelne Einsätze der Polizei nicht nur beständig hinterfragt, sondern oftmals Maßnahmen grundsätzlich in Frage gestellt. Dass es uneingeschränkte und vornehmste Aufgabe der Medien ist, durch ihre kritische Berichterstattung zum Funktionieren des Rechtsstaates beizutragen, steht auch für mich völlig außer Frage. Doch jedes Fehlverhalten auf Seiten der Sicherheitsorgane als strukturelles Problem darzustellen, wirft ein fatales Licht auf die dort Beschäftigten. So arbeiten knapp 300.000 Polizisten in Deutschland. Wenn sich davon 300 in irgendeiner Form rechtsextremistisch betätigen – was schlimm genug und in jedem Einzelfall zu verurteilen ist -, ist das etwa einer von Tausend, entspricht also rund 0,1 Prozent. Dass zudem auch für diesen Personenkreis die ansonsten in den Medien zutreffend bemühte Unschuldsvermutung gilt, sei nur am Rande erwähnt.
Weiter ist die Politik zu nennen. Die Parteien an den Rändern des politischen Spektrums erschweren die Arbeit der Polizei. Als Beispiele möchte ich zum einen die Ereignisse nennen, die sich anlässlich der Anti-Corona-Demonstrationen im Bundestag abgespielt haben, zum anderen das Gutheißen von militanten Aufmärschen und Krawallen in Berlin rund um den 1. Mai. Generell erfährt die Polizei von der Politik zu wenig Rückendeckung. Als sich im August dieses Jahres die drei tapferen Beamten der Übermacht entgegenstellten, die zum Sturm auf den Reichstag angesetzt hatte, bekamen sie höchstes Lob, wurden sogar vom Bundespräsidenten eingeladen. Und warum? Weil es politisch opportun war. Aber so etwas ist die Ausnahme – im Allgemeinen fühlen sich unsere Beamten von der Politik tendenziell im Stich gelassen. Das führt in letzter Konsequenz sogar dazu, dass sie in bestimmten Situationen schon mal zögern, im gebotenen Maße einzugreifen. Dabei sind die für polizeiliches Handeln notwendigen Eingriffsgrundlagen und Ermächtigungen durchaus vorhanden. Aber dieses Handeln wird eben fortschreitend delegitimiert.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie uns dafür ein konkretes Beispiel nennen?
Ralph Knispel: Nach dem Tod von George Floyd in den USA werden polizeiliche Aktionen immer häufiger von Umstehenden gefilmt und mit Protesten bedacht. Ich weiß von einem Einsatz, im Zuge dessen die Beamten – gemäß den Vorschriften und des geltenden Rechts – Widerstand brechen mussten. Passanten zückten sofort ihre Kameras, schrien „Mörder“ und brüllten „Sie ersticken ihn“. Völlig zu Unrecht, aber so etwas führt auf Seiten der Polizei natürlich zur Verunsicherung – vor allem dann, wenn die Politik sich nicht eindeutig auf ihre Seite schlägt.
Bedenken muss man in diesem Zusammenhang, dass solche Filme dann sofort in den sozialen Medien veröffentlicht werden. Aber sie zeigen eben nur bestimmte Szenen, nämlich die, in denen es zur Anwendung von Zwang kommt. Was davor geschah, wird ausgeblendet – der Betrachter bekommt nur eines zu sehen: Polizeigewalt.
In diesem Zusammenhang möchte ich beispielsweise auf ein Verhalten Vermummter bei Demonstrationen hinweisen: vor ihrer polizeilichen Festnahme lassen sie sich auf den Bauch fallen und verschränken ihre Arme unter sich. Um diese dann nach erfolglosen Aufforderungen freizubekommen, müssen die Polizeikräfte die Arme gewaltsam hervorziehen. Und das sieht für Außenstehende nicht schön aus, ist aber erforderlich. In den Medien erscheinen dann die entsprechenden Bilder, und alle Welt denkt sich: „Mal wieder Polizeigewalt.“
Die Krönung ist aber, wenn der Polizei bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität Knüppel zwischen die Beine geworfen werden.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wer sollte das tun?
Ralph Knispel: Menschen, die sich als anti-rassistisch begreifen. Sehen Sie, wir haben in Berlin ein Problem mit der Clan-Kriminalität. Teil der Gegen-Strategie ist die Politik der Nadelstiche: So kontrolliert die Polizei regelmäßig entsprechende Geschäfte, darunter auch Shisha-Bars. Dieses Vorgehen wird jedoch immer wieder als Stigmatisierung angeprangert, gar als Rassismus. Darüber hinaus wird der Vorwurf erhoben, die Polizei würde bei diesen Razzias viel zu martialisch auftreten, mit viel zu viel Beamten. Dazu kann ich nur sagen: Soll das Ordnungsamt dort etwa einen älteren Herrn und eine Dame vorbeischicken? Es gibt – glücklicherweise – in Deutschland keine No-go-Areas. Aber in bestimmten Stadtteilen Berlins ist die Polizei prinzipiell nicht mehr mit einer normalen Streife unterwegs, sondern in Mannschaftsstärke – so viel zum angeblich unnötig robusten Auftreten bei den Razzien.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Man könnte meinen, unser Rechtsstaat, auf den wir Deutschen uns so viel einbilden, befände sich in ernster Gefahr, und wir trügen einen nicht geringen Anteil an seiner Erosion. Sie sagten ja, dass er in Teilen nicht mehr funktioniert. Würden Sie sagen, er sei in seiner Existenz gefährdet?
Ralph Knispel: Zumindest ist die Tendenz rückläufig, was das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat angeht. Ich bin ein Verfechter des Rechtsstaats, und gerade deshalb wünsche ich mir einen konsequenten Staat. Denn zu viel falsch verstandene Toleranz führt tatsächlich zu einem Zustand, der irgendwann nicht mehr tragbar ist. Und dann gibt es eine starke Gegenreaktion, die zum genauen Gegenteil des liberalen Rechtsstaats wird – den illiberalen Staat, den Polizeistaat. Das möchte ich nicht.
Der Begriff „null Toleranz“ ist sehr negativ belegt. Aber ich frage mich: Warum eigentlich? Warum soll für Rechtsverstöße Toleranz aufgebracht werden? Warum soll es okay sein, im Halteverbot zu stehen? Wer oft genug ein Knöllchen bekommt, der wird irgendwann sein Auto dort abstellen, wo es erlaubt ist. Regeln werden doch nicht willkürlich gemacht, sondern dienen der Regelung eines geordneten, friedlichen Miteinanders.
Ich bin mit meiner Frau in der Toskana gewesen. Nachdem wir auf der Autobahn ein bisschen zu schnell gefahren waren, bekamen wir – nach Abzug der Toleranz – ein Ticket über 47 Euro, weil wir drei Stundenkilometer zu schnell unterwegs waren. Dieser Betrag galt aber nur, wenn der Betrag innerhalb von zwei Wochen überwiesen wurde. Danach wären 60 Euro fällig gewesen und nach Verstreichen einer weiteren Frist ein Betrag von rund 100 Euro eingezogen worden. Harte Sanktionen, aber soll ich mich darüber ärgern – oder nicht doch zugeben: Es muss niemand zu schnell fahren.
In Deutschland gibt es eine Tendenz zur Individualisierung. Darüber hinaus stehen die Rechte immer mehr im Vordergrund, die Pflichten werden dafür gerne vernachlässigt. John F. Kennedy hat einmal gesagt: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst.“ Sich ab und an diesen Ausspruch ins Gedächtnis zu rufen, würde dem Gemeinsinn hierzulande bestimmt nicht abträglich sein.
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Ralph Knispel (60) ist seit 1991 als Dezernent bei der Staatsanwaltschaft Berlin tätig. 1996 wechselte er in die Abteilung für Kapitalverbrechen, deren Leiter er – nach zwischenzeitlichen Wechseln – seit nunmehr vielen Jahren ist. Unter anderem war er zum NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages abgeordnet und hat die maßgeblichen Unterlagen beim „Bundesamt für Verfassungsschutz“ auswerten dürfen. Das Thema „Rechtsstaat“ beschäftige ihn seit dem ersten Tag seiner Dienstzeit, wie der geborene Berliner betont.
Im März 2021 soll sein Buch „Rechtsstaat am Ende: Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm“ im Ullstein Verlag erscheinen.