Die Präsidentschaft Donald Trumps, der Amerikas globale Rolle geschwächt und sich zugleich geweigert hat, Chinas wachsenden Einfluss anzuerkennen, repräsentiert das letzte Aufbäumen einer unipolaren Epoche. Doch während viele annehmen, dass die unipolare Welt der Zeit nach dem Kalten Krieg einer bipolaren, von den USA und China dominierten internationalen Ordnung Platz machen wird, ist dieses Ergebnis weder unvermeidlich noch wünschenswert. Stattdessen gibt es jede Menge Gründe, auf eine Welt zu hoffen – und hinzuarbeiten –, in der Europa und die Schwellenländer eine durchsetzungsfähigere Rolle spielen.
Natürlich hat China als wirtschaftlich erfolgreichste Autokratie der Welt in Asien und darüber hinaus bereits beträchtlichen geopolitischen Einfluss erlangt. Während der beiden letzten globalen Krisen – dem Finanzcrash 2008 und der heutigen Pandemie – hat die Kommunistische Partei Chinas die politische Ökonomie des Landes rasch an sich wandelnde Umstände angepasst und so ihre Macht gefestigt. Länder, die nicht den Vorgaben der USA folgen wollen, orientieren sich heute regelmäßig in Richtung China, um sich dort Inspirationen und häufig auch materielle Unterstützung zu holen. Was also könnte natürlicher sein, als dass China als einer der beiden Pole globaler Macht hervortritt?
Tatsächlich wäre eine bipolare Welt zutiefst instabil. Ihr Entstehen würde (gemäß der Logik der Thukydides-Falle) die Gefahr gewaltsamer Konflikte erhöhen, und ihre Konsolidierung würde Lösungen für globale Probleme völlig von den nationalen Interessen der beiden herrschenden Mächte abhängig machen. Drei der größten Herausforderungen, vor denen die Welt heute steht, würden entweder ignoriert oder verschlimmert.
Die erste Herausforderung ist die konzentrierte Macht der großen Technologiekonzerne. Während die Technologie oft als eine zentrale Front im Konflikt zwischen den USA und China dargestellt wird, gibt es zwischen beiden Ländern beträchtliche Kongruenzen. Beide haben sich dem Streben nach algorithmischer Dominanz über die Menschen verschrieben, bei der digitale Plattformen und künstliche Intelligenz (KI) von Staat und Konzernen als Instrumente zur Überwachung und Kontrolle der Bürger genutzt werden.
Natürlich gibt es Unterschiede. Während die US-Regierung sich die Vision der großen Technologiekonzerne zu eigen gemacht hat und sich der Branche dienstbar gemacht hat, unterliegen die chinesischen Technologieriesen weiterhin der Gnade der Regierung und müssen sich an deren Agenda halten. So zeigt etwa eine aktuelle Untersuchung, wie die Nachfrage der Kommunen nach Überwachungstechnologien die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der chinesischen KI-Entwickler bestimmt. Doch so oder so dürfte keines der beiden Länder den Datenschutz und andere Regelungen zum Schutz der Normalbürger stärken, und schon gar nicht dürften sie den Kurs der KI-Forschung verändern, sodass deren Vorteile eindeutiger Art sind und breiten Schichten zugutekommen.
In ähnlicher Weise hätte Menschenrechte und Demokratie in einer bipolaren Welt keine hohe Priorität. Angesichts der zunehmenden Repression in China mögen die USA vergleichsweise noch immer als Musterbeispiel für diese Werte erscheinen. Doch ist Amerikas prinzipiengeleitetes Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten dünn und wird im Ausland nicht ernst genommen. Schließlich haben die USA wiederholt demokratisch gewählte, aber nicht ausreichend freundliche Regierungen in Lateinamerika, Asien und Afrika gestürzt. Und wenn sie die Demokratie anderswo – wie etwa in der Ukraine – unterstützt haben, hatten sie dafür gewöhnlich eigene Gründe, wie etwa den Wunsch, Russland kontra zu geben oder zu schwächen.
Das dritte große Problem, das in einer chinesisch-amerikanischen bipolaren Welt zu kurz kommen dürfte, ist der Klimawandel. In den letzten Jahren schien es, als unterstütze China auf die Verringerung der Treibhausgas-Emissionen gerichtete internationale Vereinbarungen stärker als die USA das tun. Doch sind die beiden Supermächte nicht nur die beiden weltgrößten Verursacher von Emissionen; sie haben sich auch beide energieintensiven Wirtschaftsmodellen verschrieben. China wird weiterhin vom Wachstum seiner Industrie abhängig bleiben, während in den USA der Konsum und Wachstumsbranchen (wie Cloud-Computing) die hohe Nachfrage nach Energie aufrechterhalten werden. Und es steht zu erwarten, dass das kurzfristige Interesse beider Länder an wirtschaftlicher Überlegenheit das Interesse der übrigen Welt an einer raschen Umstellung hin zu mehr Klimafreundlichkeit überwiegt.
In einer Welt mit zwei zusätzlichen Polen – vertreten von der Europäischen Union und einem Konsortium aus Schwellenländern (womöglich mit einer neuen Organisation, einer „S10“ bestehend aus Mexiko, Brasilien, Indien, Indonesien, Malaysia, der Türkei, Südafrika und anderen) – würden all diese Probleme vermutlich in Angriff genommen. Eine solche vierpolige Welt wäre einem neuen Kalten Krieg weniger zuträglich, und sie würde vielfältigere Stimmen in die globale Ordnungspolitik einbinden.
Was die EU angeht, so ist diese bereits als Bannerträger des Datenschutzes und der Regulierung der großen Technologiekonzerne hervorgetreten, und sie ist gut aufgestellt, um der algorithmischen Automatisierung Widerstand zu leisten. Obwohl es überwiegend Unternehmen aus den USA und China sind, die die Sorgen über den Datenschutz, die Manipulation der Verbraucher und eine Arbeitsplätze vernichtende KI antreiben, ist der europäische Markt so groß und wichtig, dass er die Spielregeln weltweit beeinflussen kann.
Doch womöglich hätte ein strategischer Pol, der für die Schwellenländer spricht, sogar noch stärkere Folgen. Wenn die KI weiter Arbeitsplätze vernichtet, werden die Schwellenländer die größten Verlierer sein, weil ihr größter Wettbewerbsvorteil ihre reichlich vorhandenen Arbeitskräfte sind. Schon jetzt verringert die Automatisierung das Angebot an Arbeitsplätzen, die früher in diese Volkswirtschaften ausgelagert wurden; daher ist es wichtig, dass sie eine Stimme bei den globalen Debatten erhalten, in denen darüber entschieden wird, wie neue Technologien konzipiert und eingesetzt werden.
Europa und die Schwellenländer können zudem einen mächtigen Interessenverbund gegen Emissionen aus fossilen Brennstoffen bilden. Während die EU inzwischen ein weltweiter Vorreiter bei der Dekarbonisierung ist, haben die Schwellenländer ein akutes Interesse am Klimaschutz, weil sie (obwohl sie am wenigsten zu dem Problem beigetragen haben) überproportional unter der globalen Erwärmung leiden werden.
Natürlich wäre eine vierpolige Welt kein Allheilmittel. Angesichts eines größeren Spektrums an Stimmen und der Möglichkeit zu opportunistischeren Koalitionen wäre sie sehr viel schwieriger zu steuern als die unipolare Welt der jüngsten Vergangenheit. Brasilien, Mexiko, Indien und die Türkei werden inzwischen alle von autoritären Herrschern geführt, die entschlossen sind, ihre Gegner, die unabhängigen Medien und zivilgesellschaftliche Gruppen zum Schweigen zu bringen. Was Menschenrechte und Demokratie angeht, würde sich Europa daher unweigerlich mit diesem Block streiten.
Doch selbst hier böte eine vierpolige Welt mehr Hoffnung bieten als die zweipolige Alternative. Diese Länder an den internationalen Tisch zu holen könnte ihre Bereitschaft stärken, die Opposition im eigenen Land zu tolerieren. Und zudem können die Schwellenländer nur dann als geeinte Front zusammenarbeiten, wenn sie ihre autoritärsten, nationalistischsten und destruktivsten Verhaltensweisen einstellen. Eine vierpolige Welt könnte daher unerwartete Dividenden bringen.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Daron Acemoglu ist Professor für Volkswirtschaft am MIT und Verfasser (gemeinsam mit James A. Robinson) von The Narrow Corridor: States, Societies, and the Fate of Liberty.
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