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Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft ist zu Ende: Wie Angela Merkel viele Brände löschte - und einige Feuer neu entfachte

Lesezeit: 6 min
16.01.2021 10:20
DWN-Kolumnist Ronald Barazon liefert einen - humorigen, aber höchst kompetenten - Rückblick blickt auf die sechsmonatige deutsche EU-Ratspräsidentschaft.
Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft ist zu Ende: Wie Angela Merkel viele Brände löschte - und einige Feuer neu entfachte
Berlin-Wedding: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) freut sich bei einem Besuch der Jugendfeuerwehr über ein Geschenk. (Foto: dpa)

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Im zweiten Halbjahr 2020 hat sich Angela Merkel, wieder einmal, als Feuerwehr-Chefin der EU erwiesen. Überall hat die Bundeskanzlerin als turnusmäßige Vorsitzende im EU-Rat beruhigt, beschwichtigt und Lösungen konstruiert, die der EU den Schein einer funktionierenden Gemeinschaft erhalten. Auch auf dem globalen Parkett hat Merkel die EU positioniert: Wenige Stunden vor Jahresende wurde ein „Investitionsabkommen“ mit China geschlossen, das zwar einer Luftblase gleicht, aber den USA zeigen soll, dass Europa eine eigene Geopolitik betreibt.

Eine neue Feuerwehr-Frau oder Feuerwehr-Mann zeichnet sich nicht ab

Wer wird die EU vor dem Zusammenbruch bewahren, wenn Merkel tatsächlich, wie geplant, im Herbst die politische Bühne verlässt? Im aktuell tätigen europäischen Führungspersonal zeigt niemand einen vergleichbaren Eifer, wenn es darum geht, die brüchige Union zu kitten. Frau Merkel hatte in den vergangenen Monaten einen tüchtigen Helfer: Das nicht zu bändige Corona-Virus ließ und lässt immer noch alle schwelenden Probleme klein erscheinen. Ohne Angela Merkel und ohne Corona-Virus, also voraussichtlich ab Herbst 2021, wird es unweigerlich rund gehen in der EU. Kleiner Vorgeschmack: Das Jahr ist erst ein paar Tage alt, und schon steckt Italien, wieder einmal, in einer Regierungskrise, diesmal, weil man sich über die Nutzung der EU-Förderangebote nicht einigen kann.

Das gefeierte 750-Milliarden-Programm wird nicht genügen

Womit bereits das erste Thema angesprochen ist: Ohne Merkel wäre das viel zitierte Programm zur Korrektur der wirtschaftlichen Folgen von Corona im Ausmaß von 750 Milliarden Euro nicht zustande gekommen. In diesen Jänner-Tagen 2021 erinnert man sich: Die Höhe des Betrags wurde zur Jahresmitte 2020 festgelegt, als man noch glaubte, die Krise werde im Herbst 2020 überwunden sein. Jetzt weiß man, dass bestenfalls im Herbst 2021 mit der Rückkehr zur viel beschworenen Normalität gerechnet werden kann. Also können und werden die 750 Milliarden nicht reichen.

Um den Euro und die EU zu retten, haftet Deutschland auch für die Schulden anderer

Doch zurück zur Entstehung: Die wirtschaftlich schwächeren EU-Länder, allen voran Frankreich und Italien, fordern seit Jahren die Ausgabe von europäischen Anleihen, deren Erlöse allen Mitgliedern zufließen sollen und für die alle Mitglieder gemeinsam haften. Deutschland und einige andere Länder haben sich lange gegen diese Idee heftig gewehrt, weil man nicht mit den hauseigenen Steuereinnahmen die Budget-Löcher anderer Staaten stopfen wollte. Das Nein ließ aber die Gefahr aufkommen, dass die schwächeren Länder, insbesondere Italien, aus der gemeinsamen Währung EURO aussteigen oder sogar die EU verlassen. Um die EU zu retten, gab Merkel schließlich nach, und auch die anderen Gegner der Gemeinschaftsschulden, wie etwa Österreich oder die Niederlande, beendeten ihren Widerstand.

Somit begibt die EU-Kommission bereits seit Oktober 2020 Anleihen, für deren Rückzahlung alle Mitgliedstaaten garantieren. Bisher sind 40 Milliarden Euro in Umlauf, weitere 100 Milliarden Euro folgen heuer. Außerdem finden Verhandlungen über die Aufnahme von Krediten für das 750-Mrd.-Euro-Programm statt. Einige Finanzminister konnten sich bereits in den vergangenen Wochen über Eingänge auf den staatlichen Bankkonten freuen: Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowenien, Spanien und Zypern. Blumensträuße an Willy-Brandt-Straße 1, 10557 Berlin, wären überfällig.

Ohne Merkel hätte Barnier vermutlich eine napoleonische Kontinentalsperre durchgesetzt

Die nächste Krise, die Merkel verhindert hat, drohte in Form des Brexits. Der Verhandlungsleiter der EU, der Franzose Michel Barnier, hatte sich schon vor Jahren bei der Beschlussfassung der Bankregeln Basel III als Spezialist in der Produktion von Komplikationen und der Missachtung der tatsächlichen Probleme erwiesen. Deshalb ist bis heute ein normaler Gewerbekredit schwer zu bekommen, aber die Banken können ungehindert verlustreiche Milliarden-Spekulationen betreiben. Nach diesem Muster wurde monatelang in den BREXIT-Verhandlungen über uninteressante Details gestritten, aber das Kernthema, der freie Handel, nicht zum Thema gemacht.

Kurz vor dem Jahreswechsel einigte man sich schließlich doch noch auf ein Freihandelsabkommen, sodass auch künftig der Handel zwischen den beiden für einander extrem wichtigen Partnern UK und EU ohne Zölle und Quoten funktionieren wird. Ohne den Aufschrei der deutschen Exporteure wäre das wohl nicht gelungen. In den goldverzierten Prachtsälen, in denen französische Minister zu sitzen pflegen, herrscht noch der Geist des legendären Finanzministers Colbert, der 1667 die Zölle auf englische Waren auf das Dreizehnfache erhöhte, und von Napoleon, der 1806 eine Kontinentalsperre gegen Waren aus Großbritannien für alle von ihm eroberten Gebiete verhängte.

Zu einer brauchbaren Lösung kam es bei einem Dauerstreitthema: Nachdem 2020 London noch pflichtgemäß rund 15 Milliarden nach Brüssel überwiesen hat, erfolgen derzeit zahlreiche Endabrechnungen bisher gemeinsam abgewickelter Projekte. Nach Abschluss der Detailsaldierungen soll das Vereinigte Königreich noch etwa 35 Milliarden Euro, allerdings über einen längeren Zeitraum, bezahlen. Insgesamt werden somit ab dem am 31. Januar 2020 erfolgten offiziellen EU-Austritt der Briten rund 60 Milliarden Euro nach Brüssel fließen. Ein brauchbarer Kompromiss, nachdem manche EU-Vertreter, wütend über den UK-Austritt, Forderungen stellten, die an die Reparationszahlungen erinnerten, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg aufgebürdet wurden.

Ungarn und Polen beruhigte Merkel mit einem faulen Kompromiss

Das 750-Milliarden-Programm drohte allerdings am Widerstand von Polen und Ungarn zu scheitern. An die Adresse der beiden Länder richtet sich ein Beschluss der EU-Spitze, wonach Staaten, die die Grundrechte der Bürger verletzen, keine oder verringerte Zahlungen aus den EU-Förder-Töpfen erhalten sollen. Die Antwort aus Warschau und Budapest lautete: Dann verhindern wir eben das Aufbau-Programm zur Bekämpfung der Folgen der Corona-Krise. Während bereits rundum an Alternativen gearbeitet wurde, trat Merkel auf den Plan und schaffte Fakten: Die Drohung bleibt aufrecht, Gelder können gestrichen werden, aber die betroffenen Staaten haben die Möglichkeit, gegen entsprechende Entscheidungen Protest einzulegen und sie ausgiebig zu verzögern. Nur wenn eine eindeutige und endgültige Verurteilung durch den EuGH erfolgt, wird tatsächlich am Geldhahn gedreht.

In der vagen Klimapolitik steckt Sprengstoff für die Unternehmen

Auch den immer lauter werdenden Ruf nach einer aktiveren Klima-Politik half Merkel im zweiten Halbjahr 2020 zu besänftigen. Deutschland unterstützte eifrig den lauten, aber inhaltsarmen Aktionismus der Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen. Die Klima-Ziele wurden verschärft, die strengeren Ziele und kürzeren Fristen für die Reduktion der CO-2-Emissionen fanden Applaus, ohne dass jemand weiß, wie sie erreicht werden sollen. Der Umbau der Wirtschaft durch den „Green Deal“ ist beschlossene Sache, ohne dass die Betroffenen das dubiose Papier gelesen hätten: Beamte sollen künftig in die Unternehmen eingreifen und mit Strafen dafür sorgen, dass „nachhaltig“ gewirtschaftet wird. Was nachhaltig ist, wurde allerdings nicht genau definiert, das sollen die staatlichen Kontrolleure entscheiden. Die damit verbundene Problematik ist den EU-Bürokraten jedoch egal: Hauptsache, die immer zahlreicher werdenden grünbewegten Europäer sind beruhigt.

Wenn die EU als Weltmacht inszeniert wird, spielen Menschenrechte keine Rolle

Und so nebenbei wurde auch in anderen Bereichen beschwichtigt, beruhigt und darauf geachtet, Aufsehen vermeiden. Die Türkei bekommt weiterhin Milliarden, um Flüchtlinge in Lagern an der Weiterreise nach Europa zu hindern. Dass dort Journalisten zu langen Gefängnisstrafen verurteilt werden, wenn sie unabhängig und offen berichten, stört Brüssel nicht. Und was den Iran angeht: Dort wird eifrig palavert, um den Vertrag über den Atomwaffen-Stopp zu retten, den die USA gekündigt haben. Dass im Iran ein harmloser Blogger wegen seiner Regime-Kritik zum Tode verurteilt und exekutiert wurde – das, ja das wird ignoriert.

Menschenrechte finden auch keine Beachtung, wenn es darum geht, ein starkes, geopolitisch ernstzunehmendes Europa zu inszenieren: Kurz vor dem Jahresende erzwang Merkel den Abschluss eines so genannten „Investitionsabkommens“ mit China. Keine Rede davon, dass Peking die Uiguren gewaltsam „umerzieht“ und zu Zwangsarbeiten zwingt, in Hongkong die bestehenden internationalen Vereinbarungen bricht, Demonstranten inhaftiert, Journalisten und Blogger, die eine freie Meinung äußern, einsperrt, und prominente Unternehmer verschwinden lässt, wenn sie sich dem Diktat der Kommunistischen Partei und ihres Führers Xi Jingping entziehen wollen. All das ist nebensächlich – die Gelegenheit ist scheinbar günstig, den USA zu zeigen, dass die EU einen eigenen Weg geht und den Anti-China-Kurs nicht mitmacht, den übrigens nach Trump auch der neue Präsident Biden fortsetzen will.

Ein Abkommen mit China, bei dem Europa nur verlieren kann

Das „Investitions-Abkommen“ soll europäischen Unternehmen einen besseren Zugang zum chinesischen Markt sichern. In die Praxis übersetzt heißt das: Erleichterungen für den Auto-Export; bessere Möglichkeiten, in China zu investieren und sich an Unternehmen zu beteiligen sowie ein besserer Schutz westlicher Technologien vor chinesischen Kopien. Nur werden in dem Abkommen, das vorerst lediglich eine Absichtserklärung ist und erst zu Ende verhandelt und schlussendlich noch ratifiziert werden muss, von chinesischer Seite nur ganz vage Versprechungen abgegeben, sozusagen Bemühungen in Aussicht gestellt. Nach den Erfahrungen mit China bei internationalen Abkommen sind diese Ankündigungen als Schimären einzustufen. Auch die Aussicht, Peking werde sich bemühen, die Zwangsarbeit zu beseitigen, ist nicht ernst zu nehmen.

Im Gegenzug erleichtert die EU chinesischen Unternehmen den Zugang zum europäischen Markt. Auch hier ist eine Übersetzung notwendig: Huawei kann nun ungestört 5G-Netze bauen. Diese Konzession wird erfüllt, und wieder ist Europa der Verlierer. Nachdem seit Jahren chinesische Firmen mit staatlicher Unterstützung reihenweise europäische Firmen und sogar Häfen käuflich erwerben, sind vergleichbare Aktionen der Europäer in China unmöglich. Die einzig brauchbare Antwort wäre ein generelles Verbot chinesischer Aktivitäten in Europa, bevor man sich an den Verhandlungstisch setzt. Nur dann könnte man mit konkreten Ergebnissen rechnen. Abkommen, wie das von Merkel betriebene, die vom Wohlwollen Chinas abhängen, sind dagegen vollkommen unbrauchbar. Besonders skurril ist die Position mancher wirtschafts-liberaler Träumer, die das chinesische Agieren mit der Feststellung kommentieren, im freien Markt siege eben der Tüchtigere. Jawohl – aber nur bei gleichen Wettbewerbsbedingungen, und die sind und bleiben ein Traum.

An Russland stören Merkel die undemokratischen Verhaltensweisen, die sie im Iran, in der Türkei und in China übersieht

Anders als gegenüber China, der Türkei oder dem Iran, agiert Merkel gegenüber Russland. Da ist der Mordversuch am Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sehr wohl Anlass zu wütenden Protesten (wobei das Thema übrigens noch aktuell ist: Am Wochenende kehrt Nawalny nach Moskau zurück, auch wenn er dort inhaftiert werden soll. Es bleibt also spannend, wie Merkel weiter agieren wird).

Die Jugend Merkels in der DDR wird in diesem Zusammenhang gerne als Hauptgrund für ihre Unterstützung einer harten Russland-Politik genannt. Allerdings dürfte die in den östlichen EU-Ländern herrschende Angst vor einer russischen Aggression der größere Beweggrund sein: Auftritte gegen Russland, auch im Zusammenhang mit der Annexion der Schwarzmeer-Halbinsel Krim, stärken in den baltischen Staaten, in Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien sowie auf dem Balkan, das Gefühl der Zugehörigkeit zur EU.

Der Erweiterungseifer der vergangenen Jahre hat die EU zu einem chaotischen Haufen gemacht, in dem jeder gegen jeden seine tatsächlichen oder vermeintlichen Interessen vertritt. Merkel selbst hat alle Hände voll zu tun hat, um den Zusammenhalt zu sichern. Dennoch will die Bundeskanzlerin unbedingt auch noch Albanien und Nord-Mazedonien in die EU aufnehmen. Das hat vorerst Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verhindert, der im ersten Halbjahr 2022 den Vorsitz im EU-Rat übernimmt und sich dann mit den Fliehkräften innerhalb der EU auseinandersetzen muss, Erweiterungswünsche zu bearbeiten hat und nicht zuletzt das dann erst endgültig zu beschließende China-Abkommen auf seinem Arbeitsprogramm haben wird.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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