Politik

Der „Great Reset“: Theorie oder Realität?

Lesezeit: 7 min
07.05.2021 18:42  Aktualisiert: 01.06.2021 19:28
Der „Great Reset“ wird in der Öffentlichkeit als Verschwörungstheorie abgetan. Doch das stimmt nicht. Es handelt sich dabei um eine globale Agenda, die vom Weltwirtschaftsforum vorangetrieben wird.
Der „Great Reset“: Theorie oder Realität?
Ursula von der Leyen (r-l), Präsidentin der Europäischen Kommission, Klaus Schwab, Gründer des Weltwirtschaftsforums, und seine Frau Hilde Schwab, nehmen an der Eröffnungsveranstaltung der WEF-Jahrestagung teil. Das Jahrestreffen findet vom 21.01.2020 bis 24.01.2020 statt. (Foto: dpa)
Foto: Alessandro Della Valle

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In diversen Medien kommt der Vorwurf auf, dass die „Great Reset“-Initiative eine Verschwörungserzählung sei, die der Realität widersprechen würde. Doch am 3. Juni 2020 hatte das Weltwirtschaftsforum (WEF) eine Pressemitteilung unter dem Titel „The Great Reset: Ein einzigartiger Zwillingsgipfel zu Beginn des Jahres 2021“ veröffentlicht.

Die Mitteilung des Weltwirtschaftsforums wird unkommentiert wiedergegeben:

Klaus Schwab, das Weltwirtschaftsforum und der IWF

Der Gründer des WEF, Klaus Schwab, und Thierry Malleret, der als Senior Director des Global Risk Network des WEF aktiv ist, haben im Jahr 2020 ein Buch unter dem Titel „Covid-19: The Great Reset“ („Covid-19: Der Grosse Umbruch“) veröffentlicht. Die Erscheinung des Buchs ist datiert auf den 9. Juli 2020.

Innerhalb von drei bis maximal vier Monaten haben Schwab und Malleret somit ein 332-seitiges Buch im Zusammenhang mit der Corona-Krise und dem „Great Reset“ geschrieben, produzieren lassen und auf den Markt gebracht. Denn im Buch werden beispielsweise die Auswirkungen des Lockdowns auf die französische Wirtschaft behandelt. Der erste Lockdown in Frankreich und anderen EU-Ländern wurde im März 2020 verhängt. Von März bis Juli 2020 sind es vier Monate.

In ihrem Buch schreiben sie unter anderem:

„Aufgrund der hohen gegenseitigen Abhängigkeit und Verflechtung der heutigen Wirtschaft, Industriezweige und Unternehmen, vergleichbar mit der Dynamik, mit der Makrokategorien miteinander verbunden sind, kann jedes Glied der Kette auf die unterschiedlichste Art und Weise schnell einen Dominoeffekt bei den anderen auslösen. Schauen wir uns als Beispiel einmal die Restaurants. Dieser Wirtschaftszweig wurde von der Pandemie in einem so dramatischen Ausmaß getroffen, dass nicht einmal sicher ist, wie das Gaststättengewerbe sich je wieder vollständig erholen soll. Ein Restaurantbetreiber drückte es so aus: ,Wie hunderte andere Köche in der Stadt und Tausende im ganzen Land stehe ich jetzt vor der großen Frage, wie unsere Restaurants, unsere Berufswege, unser Leben aussehen könnten, wenn wir sie überhaupt je zurückbekommen‘. In Frankreich und im Vereinigten Königreich schätzen mehrere Branchenkenner, dass bis zu 75 Prozent der unabhängigen Restaurants die Lockdowns und die nachfolgenden Social-Distancing-Maßnahmen nicht überleben könnten. Überleben werden hingegen die großen Ketten und Fast-Food-Giganten. Das legt die Vermutung nahe, dass große Unternehmen größer werden, während die kleinsten schrumpfen oder ganz verschwinden.“

„Der Mikro-Umbruch wird jedes Unternehmen in jeder Branche zwingen, neue Geschäft- Arbeits- und Betriebsweisen auszuprobieren. Wer sich der Versuchung hingibt, zur alten Arbeitsweise zurückzukehren, wird scheitern. Alle, die sich hingegen mit Flexibilität und Phantasie anpassen, werden die Covid-19-Krise schließlich zu ihrem Vorteil nutzen.“

„Die Reduzierung der soz. Kontakte als Reaktion auf Corona und die während der Ausgangsbeschränkung verhängten Maßnahmen des körperlichen Abstandhaltens werden ebenfalls dazu beitragen, dass sich der elektronische Handel (E-Commerce) zu einem immer stärkeren Branchentrend herauskristallisiert. Die Verbraucher brauchen Produkte, und wenn sie nicht einkaufen können, werden sie unweigerlich dazu übergehen, sie online zu kaufen. Und dann wird es zur Gewohnheit. Menschen, die zuvor noch nie online eingekauft haben, freunden sich damit an, während die Gelegenheits-Online-Käufer jetzt mehr und mehr dazu übergehen werden. Das wurde während des Lockdowns deutlich.“

„Wie Henry Kissinger bemerkte: ,Der Zusammenhalt und wirtschaftliche Erfolg von Ländern basiert auf dem Glauben, dass ihre Institutionen Katastrophen vorhersehen, ihre Auswirkungen stoppen und die Stabilität wiederherstellen können. Wenn die Covid-19-Pandemie vorbei ist, werden die Institutionen vieler Länder als gescheitert gebrandmarkt sein‘. Dies gilt insbesondere für einige reiche Länder mit modernsten Gesundheitssystemen und hochentwickelter Forschung, Wissenschaft und Innovation, deren Bürger sich fragen werden, warum die öffentliche Hand in ihrem Land im Vergleich zu anderen so schlecht abgeschnitten hat. In diesen Ländern kommt unter Umständen das Grundgerüst ihres sozialen Gefüges und ihres sozioökonomischen Systems zum Vorschein und wird als der ,wahre‘ Schuldige angeprangert, der es versäumt hat, das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen für die Mehrheit der Bürger zu gewährleisten.“

Die IWF-Chefin Kristalina Georgieva führt am Ende einer Mitteilung über den „Great Reset“ aus: „Ich möchte

mit einem Beispiel aus der Vergangenheit schließen. William Beveridge legte mitten im Zweiten Weltkrieg 1942 seinen berühmten Bericht vor, in dem er projizierte, wie Großbritannien das angehen sollte, was er die ,fünf riesigen Übel‘ nannte. Dieser berühmte ,Beveridge Report‘ führte nach dem Krieg zu einem besseren Land - einschließlich der Schaffung des National Health Service, der heute in Großbritannien so viele Menschenleben rettet. Zu dieser Zeit wurde auch meine Institution, der IWF, gegründet - auf der Bretton Woods-Konferenz. Jetzt ist also der Moment gekommen, um die Seite umzublättern - und alle Kraft zu nutzen, die wir haben. Im Falle des IWF verfügen wir über eine finanzielle Kapazität von einer Billion Dollar und ein enormes politisches Engagement. Das ist der Moment, um zu entscheiden, dass die Geschichte darauf als ,Great Reset‘ und nicht als ,Great Reversal‘ zurückblicken wird. Und ich möchte sagen - laut und deutlich -, dass das beste Denkmal, das wir für diejenigen errichten können, die bei der Pandemie ihr Leben verloren haben, darin besteht, eine Welt zu schaffen, die grüner, intelligenter und gerechter ist.“

Bei einer Rede am „Chicago Global Council on Global Affairs“ sagte der Gründer des World Economic Forum

(WEF), Klaus Schwab, dass die vierte industrielle Revolution im Rahmen des „Great Reset“ „zu einer Verschmelzung unserer physischen, digitalen und biologischen Identität führen“ werde (Im Video ab 15:48). In dem Buch „Shaping the Future of the Fourth Industrial Revolution“, das er gemeinsam mit Nicolas Davis verfasst hat, schreibt er über „aktive implantierbare Mikrochips, die die Hautbarriere unseres Körpers brechen“.

Schwab und Davis schreiben in ihrem Buch „Shaping the Future of the Fourth Industrial Revolution“ im Zusammenhang mit der Kriminalitätsbekämpfung und Microchips: „Wenn sich die Fähigkeiten in diesem Bereich (Kriminalitätsbekämpfung, Anm.d.Red.) verbessern, wird die

Versuchung für Strafverfolgungsbehörden und Gerichte zunehmen, Techniken einzusetzen, um die Wahrscheinlichkeit krimineller Aktivitäten zu bestimmen, Schuldgefühle zu bewerten oder möglicherweise sogar Erinnerungen direkt aus dem Gehirn der Menschen abzurufen. Selbst das Überschreiten einer nationalen Grenze könnte eines Tages einen detaillierten Gehirn-Scan erfordern, um das Sicherheitsrisiko einer Person zu bewerten“, schreibt Schwab.

Das Magazin „TIME“ führt eine eigene Rubrik zum Thema „Great Reset“ – HIER. Das Magazin ist Partner des WEF.

In einem Promo-Video erklärt das WEF, was der „Great Reset“ aus seiner Sicht sein soll – HIER. Das Video wurde erst am 25. Januar 2021 veröffentlicht.

In einem weiteren Promo-Video äußert sich Prince Charles, der die Initiative gemeinsam mit Schwab ins Leben gerufen hatte, zu den Zielen der „Great Reset-Initiative“ – HIER.

HIER – kann das generelle Promo-Video abgerufen werden.

Wenn Sie auf der Webseite des WEF in der Suchfunktion „Great Reset“ eingeben, erhalten Sie zahlreiche Beiträge im Zusammenhang mit dem „Great Reset“– HIER.

Die Gesellschaft in Deutschland ist tief gespalten

Die „Great Reset“-Initiative soll der Transformation der Volkswirtschaften und Gesellschaften dienen. Es ist falsch, einen rhetorischen Missbrauch dieser Initiative zu betreiben, um kurzfristige tagespolitische Ziele zu erreichen. Da das Weltwirtschaftsforum die „Great Reset“-Initiative ideell ins Leben gerufen hat, muss eine öffentliche Diskussion stattfinden, damit keine falschen Annahmen und Schlussfolgerungen entstehen. An dieser Diskussion müssen sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, diverse Branchenverbände und die Bürger beteiligen dürfen. Das ist der einzige Weg, um einen Konsens zu schaffen. Probleme und Lösungsansätze zur Bewältigung der Probleme unserer Zeit müssen artikuliert werden dürfen. Kritiken müssen erlaubt sein. Es ist zu hoffen, dass eine öffentliche Diskussion in Bezug auf diese Initiative zugelassen wird. Im Moment befinden sich zahlreiche Menschen in einer Situation, die von einer tief verwurzelten Angst vor der Zukunft gekennzeichnet ist. Erschwert wird dieser Zustand durch den Zerfall der familiären Bindungen, von dem keiner verschont bleibt.

Viele Menschen sehnen sich nach den Zuständen der Bundesrepublik vor der Jahrhundertwende zurück. Das ist verständlich. Eine empathische Herangehensweise seitens der Politikmacher und Entscheider ist deshalb bitter nötig. Die Menschen brauchen endlich Stimmen, die ihnen Mut machen, ohne ihnen eine politische, ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheit als Sündenbock zu präsentieren – und ohne ihnen Vorwürfe zu machen. Es ist auch an der Zeit, die Mehrheitsgesellschaft nicht durch einen inflationären Rassismus-Vorwurf in die Enge zu treiben, sondern die Menschen im Kampf gegen Menschenfeindlichkeit jeglicher Art wohlwollend einzubinden.

Nochmal: Die Menschen brauchen Stimmen aus der hohen Politik, die ihnen Mut machen, damit sie mit Zuversicht in die Zukunft schauen können. Über alle Kontinente hinweg wird hierbei menschliche Empathie seitens der Eliten benötigt.

Das bedeutet aber auch für jeden von uns, dass wir unsere Nachbarn, Freunde oder Kollegen nicht als „Verschwörungstheoretiker“ oder „Vaterlandsverräter“ brandmarken. Mit welcher krankhaften Aggression Flüchtlinge attackiert werden, mit welcher Geschwindigkeit Menschen im Affekt als Rechtsradikale verleumdet werden, mit welcher seltsamen Geringschätzung Bürger als „Gutmenschen“ bezeichnet werden und mit welcher rhetorischen Ungerechtigkeit auf politische Gegner eingeschlagen wird, ist erschreckend und unerträglich. Die Republik zerfällt emotional, doch keiner ist sich des Ernstes der Lage bewusst.

Die Eliten, und damit sind alle politischen Lager gemeint, sollten davon ablassen, Teile der Bevölkerung vorsätzlich oder fahrlässig zur Weißglut zu treiben. Die Gesellschaft ist derart gespalten, dass mittlerweile sogar unüberbrückbare Mauern innerhalb der Verwandtschaft eines jeden Bürgers entstanden sind.

Es reicht!

+++Wichtige Information: Der Zwillingsgipfel des WEF unter dem Motto „Great Reset“, der im Januar 2020 in Davos stattfinden sollte, wurde zunächst auf den August 2021 in Singapur verschoben. Mitte Mai 2021 wurde dann bekanntgegeben, dass der Gipfel im aktuellen Jahr komplett ausfällt+++

+++Artikel editiert am 11.06+++

                                                                                ***

Cüneyt Yilmaz ist Absolvent der oberfränkischen Universität Bayreuth. Er lebt und arbeitet in Berlin.


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