Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat anlässlich des 76. Jahrestags des Kriegsendes eine Rede gehalten. Die Rede wird unkommentiert in Auszügen wiedergegeben:
„Wenn wir heute an den 8. Mai 1945 erinnern, fragen wir nach den Lehren, die uns dieser Tag aufgibt – dieser Tag vor 76 Jahren, an dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Wir erinnern an das Leid und den Schrecken, die die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über Europa gebracht hat, an die vielen Millionen Toten in ganz Europa, an die Opfer von Gewalt, Rassenhass und Vernichtungskrieg. Wir erinnern an den Zivilisationsbruch der Shoah.
Wir wissen: Ohne die Erinnerung an die Verbrechen, die von Deutschland ausgingen, an die Verbrechen, die Deutsche verübt haben, ist die deutsche Geschichte nicht zu begreifen. Die Erinnerung daran darf kein Ende haben, denn ohne sie haben wir keine Zukunft. Das ist es, was uns Aleida Assmann sagt.
Heute bekennen wir Deutsche uns zu diesem 8. Mai 1945 als einem Tag der Befreiung. Die Alliierten aus dem Westen und aus dem Osten haben uns, haben den gesamten Kontinent von der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten befreit. Und dafür sind wir ihnen zutiefst dankbar.
Am 8. Mai 1945 wurde Deutschland von außen befreit. Bis dieser Befreiung von außen auch eine innere Befreiung folgte, vergingen noch viele Jahre des Verdrängens und des Beschweigens. Es war ein mühsamer, schmerzhafter Prozess der Aufklärung und der Aufarbeitung von Mittäterschaft, Mitwisserschaft, Mitläufertum. Das demokratische Selbstbewusstsein unseres Landes aber ist ohne diesen Prozess nicht denkbar.
Das ist unsere historische Erfahrung: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die Erinnerung an Unrecht und Schuld, schwächt unsere Demokratie nicht. Im Gegenteil, sie stärkt ihre Widerstandskraft und ihre Widerstandsfähigkeit.
Ganz gleich von welcher Seite und unter welchen Vorwänden daher heute nach dem Schlussstrich gerufen wird: Ein Zurück zum Verdrängen wäre ein fataler Irrweg!
Denn nicht durch Verschweigen gewinnen wir Kraft und Selbstbewusstsein, sondern nur dadurch, dass wir kritisch und ehrlich bleiben – mit uns selbst und mit der Geschichte unseres Landes.
Die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen Shoah, an die Verheerungen durch Nationalismus und Rassismus, ist Teil unserer deutschen Identität geworden – und das muss sie auch in Zukunft bleiben. Noch immer erfahren wir bisher nicht bekannte Geschichten von erlittenem Unrecht. Es muss uns auch bewusst sein, dass jede Generation sich Geschichte neu aneignet und dass in jeder Generation aufs Neue Erinnerung eine Aufgabe bleibt.
Wir Deutsche sind heute dankbar, dass wir als geeintes, demokratisches Land in der Mitte eines geeinten, demokratischen Kontinents leben. Dankbar für die Versöhnung, die uns unsere heutigen Partner und Freunde, die uns Menschen überall in Europa gewährt haben. Sie haben uns die Hand gereicht, obwohl das Leid, obwohl der Schmerz in vielen Familien überall in Europa und auf der Welt fortlebt bis heute.
Der Schmerz, er lebt auch in einigen Ihrer Familien fort – Familien, die zu den Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns gehörten. Sie verstehen ihn als Auftrag zur Versöhnung. Sie leben Versöhnung.
Liebe künftige Ordensträgerinnen und Ordensträger, die wichtigste Lehre des Zweiten Weltkrieges ist die: Europa bleibt nur dann ein Kontinent des Friedens und der Freiheit, wenn es sich nie wieder auseinandertreiben lässt, wenn es nicht noch einmal der Verführung des Nationalismus erliegt. Für uns Deutsche ist unsere Geschichte eine besondere Verantwortung und Verpflichtung – auch mit Blick auf unsere Nachbarn. Nie wieder, das bedeutet, europäisch zu denken und zu handeln. Das bedeutet, alles dafür zu tun, damit Europa geeint und vereint bleibt und die Friedensordnung geschützt wird, die sich dieser Kontinent nach der Katastrophe zweier Weltkriege gegeben hat.
Sie alle, liebe Gäste, wissen um die Bedeutung der Vergangenheit für die Zukunft unseres Landes, für die Zukunft Europas. Sie engagieren sich für die Erinnerungskultur, für das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, für Frieden in Europa.
Sie alle wissen, dass unsere Zukunft mit dem Erinnern beginnt.“