In Afghanistan haben die militant-islamistischen Taliban einen weiteren Bezirk eingenommen. Nach Angaben der örtlichen Behörden vom Donnerstag zogen sich die Sicherheitskräfte der Regierung aus dem Bezirk Daulat Schah in der ostafghanischen Provinz Laghman zurück. Zuvor hatte es Verhandlungen zwischen Anwohnern und Taliban gegeben. Es ist bereits der dritte Bezirk, den die Taliban im Mai übernommen haben. In Afghanistan ist seit Beginn des Monats der Abzug der internationalen Truppen in Gang.
Der Bezirk Daulat Schah sei seit mehreren Monaten von den Islamisten belagert worden, hieß es von Provinzräten. Seit rund einem Monat hätten Polizei und Armee keinen Nachschub oder Kräfte mehr dorthin verlegen können. Eine einwöchige Operation der afghanischen Armee habe keine Änderung gebracht. Zuvor hatten die Taliban bereits den strategisch wichtigen Bezirk Nerch unweit der Hauptstadt Kabul erobert. Anfang Mai war der Bezirk Burka im Norden an die Taliban gefallen.
Seit Beginn des offiziellen Abzugs der US- und Nato-Truppen aus Afghanistan am 1. Mai haben die Taliban mehrere Offensiven im Land gestartet. Sie greifen die Sicherheitsringe rund um mehrere Provinzhauptstädte an, aber auch mittelgroße Militärbasen. Dutzende Sicherheitskräfte wurden seither getötet. Einige Offensiven konnten Sicherheitskräfte zurückschlagen, andernorts stehen sie schwer unter Druck. Beobachter vermuten, dass diese Angriffe erst der Beginn der jährlichen Offensive der Taliban sind. Diese könnte sich nach Abschluss des Abzugs der US- und Nato-Truppen weiter verstärken.
Der Abzug der rund 10 000 US- und Nato-Soldaten im Land soll bis spätestens 11. September abgeschlossen sein. Das US-Militär hatte diese Woche mitgeteilt, es schätze, rund 13 bis 20 Prozent des gesamten Prozesses sei abgeschlossen.
Afghanische Helfer beantragen Schutz in Deutschland
Mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan will die große Mehrheit der einheimischen Mitarbeiter Schutz in Deutschland. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur haben inzwischen mehr als 450 der sogenannten Ortskräfte, die aktuell oder in den vergangenen beiden Jahren in Afghanistan bei der Bundeswehr beschäftigt waren, einen entsprechenden Antrag gestellt. Das sind mehr als 80 Prozent der Menschen in dieser Gruppe. Dazu kommen meist noch Familienangehörige, nach früheren Erfahrungen insgesamt etwa 2000 Menschen. Darüber hinaus gibt es etwa 300 Anträge von Afghanen, die in früherer Zeit als Helfer eingestellt waren, aber innerhalb der geltenden Zweijahresfrist keine Gefährdung angezeigt hatten.
Unterdessen begann die Bundeswehr am Dienstag mit der Rückverlegung von Material und Ausrüstung aus dem Einsatz. Wie das Einsatzführungskommando mitteilte, sollten mehr als 120 Fahrzeuge und 6 Hubschrauber verladen werden. Dabei würden Frachtflugzeuge des Modells Antonow AN-124 eingesetzt, die zu den größten Transportflugzeugen der Welt gehören. Die ersten zwei Transporthubschrauber NH90 wurden am Dienstag eingeladen und nach Deutschland geflogen. Ziel: Der Flughafen Leipzig.
Die Nato will ihre Ausbildungsmission «Resolute Support» in Afghanistan bis spätestens September beenden. Der Großteil der Truppen wird nach dem Stand der Planungen vorher abgezogen. Deutschland hat etwa 1100 Soldaten im Land, die über die Jahre - vom Übersetzer bis zur Küchenkraft - viele Helfer hatten.
Ob auch Anträge von früheren Ortskräften auch nach Ablauf der Zweijahresfrist geprüft werden sollen, ist politisch noch nicht entschieden. Der Blitzabzug aus dem Land und das Vorrücken der Taliban haben eine neue Lage geschaffen. Was die Bewertung der Einzelfälle noch verkompliziert: In dieser Gruppe können auch Beschäftigte von Vertragsfirmen sein, die nicht unmittelbar bei der Bundeswehr angestellt waren.
Die Bundeswehr leistet in Afghanistan Amtshilfe bei der Organisation. Dazu gehören auch die Erfassung von Daten sowie biometrischer Merkmale. Diese werden für die Erteilung von Visa oder eines Passersatzes - eines sogenannten Reiseausweises für Ausländer - benötigt. Über die Aufnahme der einzelnen Männer oder Frauen als Teil des Ortskräfteprogramms entscheiden in Deutschland dann aber das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium.
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hatte im April für ein schnelles Verfahren plädiert. «Wir reden hier von Menschen, die zum Teil über Jahre hinweg auch unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit an unserer Seite gearbeitet, auch mitgekämpft haben und ihren persönlichen Beitrag geleistet haben», sagte sie. «Ich empfinde es als eine tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, diese Menschen jetzt, wo wir das Land endgültig verlassen, nicht schutzlos zurückzulassen.»
Experten warnten in der vergangenen Woche, dass die Zeit ablaufe. Wissenschaftler, frühere Diplomaten und Offiziere forderten in einem am Freitag verbreiteten offenen Brief eine unbürokratische und schnelle Aufnahme Betroffener in Deutschland parallel zum Abzug. «Die Taliban haben immer wieder deutlich gemacht, dass sie diese Ortskräfte als Kollaborateure des Westens begreifen, die sie als Unterstützer eines militärischen Besatzungsregimes zur Verantwortung ziehen wollen», hieß es in dem Schreiben.
Es sei zu befürchten, dass Gefährdete schutzlos zurückgelassen werden könnten, warnen die Unterzeichner. Und: «Wer die effektive Aufnahme wirklich will, der kann in den verbleibenden Wochen nur eine unbürokratische Prozedur für all die Ortskräfte und ihre Angehörigen umsetzen, die für deutsche Stellen gearbeitet haben: öffentliche Bekanntgabe des Aufnahmeprogramms, Registrierung, Vorbereitung der Ausreise, die möglichst geschehen muss, solange die Bundeswehr noch im Lande ist, gegebenenfalls Durchführung von Charterflügen.»
Tadschikistan verstärkt Grenze zu Afghanistan
Mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan will das zentralasiatische Land Tadschikistan seine Grenze zu dem Nachbarland stärken. Russland werde dabei den Bau eines modernen Grenzpostens finanziell unterstützen, sagte Außenminister Sergej Lawrow am Mittwoch bei einem Besuch in Tadschikistan. Zudem solle es zusammen mit russischen Soldaten regelmäßig Übungen zur Bekämpfung von Terrorismus geben, erklärte Lawrow der Staatsagentur Tass zufolge und versprach weitere Unterstützung. Zuvor hatte Präsident Wladimir Putin zugesichert, die russische Militärbasis in Tadschikistan zu stärken, um die Sicherheit in der Region zu gewährleisten.
Die Ex-Sowjetrepublik befürchtet ein Erstarken extremistischer Kräfte in Afghanistan, das sich auch auf die Sicherheitslage in den zentralasiatischen Ländern bis hin nach Russland auswirken könnte. Moskau sei besorgt über die Aktivitäten militanter Kämpfer im Norden Afghanistans, sagte Lawrow.
Russland unterstützt die ins Stocken geratenen Friedensgespräche in Afghanistan zwischen den Taliban und der Regierung. Nach fast 20 Jahren haben USA und Nato den Abzug ihrer Soldaten aus Afghanistan eingeleitet. In den 1990er Jahre hatte es in Tadschikistan einen Bürgerkrieg zwischen der Regierung und islamischen Fundamentalisten gegeben, für die Afghanistan damals ein Rückzugsgebiet war.