Politik

EU könnte durch Klagen zerstört werden, warnt Brüssel

Justizkommissar Didier Reynders warnt vor den um sich greifenden Versuchen der Nationalstaaten, die Vorherrschaft des Europäischen Rechts zurückzudrängen. Nun schlägt die EU-Kommission zurück - mit einem Verfahren gegen Deutschland.
30.06.2021 15:00
Lesezeit: 2 min
Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

EU-Justizkommissar Didier Reynders will sich gegen die zunehmenden Klagen und Urteile von Mitgliedsstaaten zu wehren, die seiner Ansicht nach die Vorherrschaft des EU-Rechts angreifen. In einem Interview mit der Financial Times kritisierte er, dass der Vorrang von Europäischem Recht und Europäischem Gerichtshof (EuGH) zunehmende infrage gestellt werde.

Um dieser Bedrohung entgegenzuwirken, leitete die EU-Kommission im Juni ein Gerichtsverfahren gegen Deutschland ein. Dies ist eine Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom letzten Jahr. Karlsruhe hatte die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) beanstandet und sich damit zum ersten Mal über eine Vorabentscheidung des EuGH hinweggesetzt. Inzwischen ist das Bundesverfassungsgericht allerdings zurückgerudert und hat die Anleihekäufe der EZB doch noch für verfassungsmäßig erklärt.

Die nächste große juristische Herausforderung für Brüssel ist eine Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, die am 13. Juli fallen könnte. Darin geht es um die Frage, ob bestimmte Elemente der EU-Verträge mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Der Fall ist nach Ansicht von Rechtsexperten die bisher schwerste Herausforderung für die Rechtsordnung der EU.

EU-Justizkommissar Reynders sagte, die polnische Regierung mache sich in diesem Fall das deutsche Beispiel vom letzten Jahr zunutze und argumentiere nun ebenfalls, dass die nationale Verfassung und das nationale Verfassungsgericht Vorrang vor den Europäischen Verträgen und vor dem Europäischen Gerichtshof hätten.

Hochrangige Brüsseler Beamte sind zunehmend beunruhigt im Hinblick auf die um sich greifenden Anfechtungen der Vorherrschaft des Europäischen Rechts, ob diese nun von osteuropäischen Ländern wie Polen und Ungarn kommen oder von EU-Gründungsmitglieder wie Deutschland und Frankreich.

Reynders sagte, er habe nicht geahnt, dass es "so wichtig" sein würde, die Grundprinzipien des EU-Rechts zu verteidigen. "Was ist das Risiko, wenn wir uns nicht darum kümmern? Dass wir die Union selbst zerstören", sagte Reynders. Die EU basiere darauf, dass die Regeln in allen Mitgliedsstaaten einheitlich angewandt würden, und wenn dies nicht mehr der Fall sei, könne der Block untergraben werden.

"Wenn wir in einem Mitgliedsstaat ein Problem haben, ergibt sich daraus das Risiko eines Spillover-Effekts, dass man nun in allen Mitgliedsstaaten oder zumindest in einigen weiteren Mitgliedsstaaten die Tendenz hat, dass der Vorrang des EU-Rechts und die ausschließliche Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs in Frage gestellt wird", so der Belgier.

Mehr zum Thema: Merkel fordert neue Durchgriffsrechte für EU-Kommissare

In Frankreich legte die Regierung beim Conseil d'État, Frankreichs höchstem Verwaltungsgericht, Berufung ein, um ein EuGH-Urteil vom Oktober zu kippen, wonach die Sammlung von Daten durch die Sicherheitsdienste gegen die Datenschutzbestimmungen verstößt. Allerdings wurde Paris im April n de französischen Gericht teilweise zurückgewiesen.

Ungarn hat eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, die sein Einwanderungsgesetz für nichtig erklärt, an sein Verfassungsgericht zurückverwiesen, anstatt die Entscheidung des EuGH als endgültig zu akzeptieren. "Wenn man das nicht stoppt, wird es immer mehr Möglichkeiten für verschiedene Mitgliedsstaaten geben, den Vorrang des EU-Rechts und die Kompetenz des EuGH anzufechten", so Reynders.

Polen ist der dringendste nächste Fall. Nach Ansicht von Laurent Pech, Professor für Europarecht an der Middlesex University, käme ein Urteil gegen den Vorrang des EuGH einem "Atomschlag gegen die EU-Rechtsordnung" gleich, da es nicht nur ein EuGH-Urteil außer Kraft setzen würde, sondern EU-Vertragsbestimmungen. Die Kommission hätte kaum eine andere Wahl, als rechtliche Schritte gegen Warschau einzuleiten.

Reynders sagte, er wolle "nicht wochenlang warten, bevor er auf eine polnische Missachtung von EuGH-Urteilen reagiert". Der Belgier hat bereits einen ungewöhnlichen Schritt unternommen und Polens Regierung dazu aufgefordert, ihre Petition an das Verfassungsgericht zurückzuziehen, bevor es sein Urteil verkündet.

Laut Justizkommissar Reynders hat Brüssel nun damit begonnen, die rechtlichen Schritte der Mitgliedsstaaten zu überwachen. Es werde nach dem Sommer eine Entscheidung über die Eröffnung von Fällen treffen. Brüssel kann beim Europäischen Gerichtshof Geldstrafen gegen jene Länder beantragen, die sich nicht an die Urteile des EuGH halten.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Wirtschaft
Wirtschaft China jenseits der Schlagworte: Ein Insider berichtet – Megastädten und ländliche Transformation
14.09.2025

Uwe Behrens hat 27 Jahre in China und Indien gelebt und gearbeitet – lange bevor Schlagworte wie „Belt and Road Initiative“ bekannt...

DWN
Finanzen
Finanzen Debatte neu entfacht: Braucht die Erbschaftsteuer eine Reform?
13.09.2025

Im Bundeshaushalt fehlt das Geld, und immer wieder rücken dabei auch das Vermögen der Deutschen und eine gerechtere Besteuerung in den...

DWN
Technologie
Technologie IoT-Baumaschinen: Wie Digitalisierung die Baustelle verändert
13.09.2025

IoT-Baumaschinen verändern Baustellen grundlegend: mehr Effizienz, Sicherheit und Nachhaltigkeit. Wer nicht digitalisiert, riskiert...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Darf der Chef in mein Postfach? Urteil zeigt Grenzen für Arbeitgeber
13.09.2025

Arbeitsrecht im digitalen Zeitalter: Darf ein Arbeitgeber nach Ende des Arbeitsverhältnisses noch in das E-Mail-Postfach seiner...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Kritik am Verbrenner-Verbot der EU: So nicht umsetzbar
13.09.2025

Das Verbrenner-Verbot der EU steht vor dem Scheitern: Käufer verweigern sich Elektroautos, Hersteller warnen vor unrealistischen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Energiewende: WWF-Ranking sieht Brandenburg ganz vorn
13.09.2025

Die Energiewende schreitet ungleichmäßig voran – während Brandenburg laut Umweltverband WWF glänzt, hinken andere Länder hinterher....

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Lightcast-Bericht: KI-Kenntnisse treiben Gehälter massiv nach oben
13.09.2025

Wer KI beherrscht, kassiert kräftig ab: Laut einer globalen Studie steigern KI-Fähigkeiten das Gehalt um bis zu 43 Prozent – in manchen...

DWN
Panorama
Panorama Frost, Dürre, steigende Kosten: Weihnachtsbäume werden teurer
13.09.2025

Weihnachtsbäume stehen schon jetzt im Fokus: Frost, Trockenheit und steigende Kosten setzen Tannenbaumproduzenten unter Druck. Zwar gibt...