Der von der Politik (Bundesregierung, EU-Kommission) vorgegebene Umbruch hin zum Elektroauto und das gestern von der EU-Kommission verkündete Verbot für Verbrennungsmotoren ab dem Jahr 2035 wird Teile des deutschen Arbeitsmarkts kräftig durchschütteln, so viel ist sicher. Völlig unabsehbar sind die konkreten Folgen für den Wohstand und den Arbeitsmarkt des ganzen Landes - hierzu widersprechen sich Studien deutlich.
Als sicher gilt, dass Zigtausende Stellen in den kommenden Jahren in mittelständischen Zulieferbetrieben und bei den Autobauern verschwinden werden, aber auch Zigtausende an anderer Stelle entstehen dürften. Entscheidend ist, wie groß die beiden Kennzahlen ausfallen.
Das Negativ-Szenario: Massive Arbeitsplatz- und Wohlstandsverluste
Das Münchner Ifo-Institut berichtete im Mai, dass bis zum Jahr 2025 durch die schrumpfende Verbrenner-Produktion unter dem Strich deutlich mehr Stellen wegfielen, als Beschäftigte in Rente gingen. Bis zu 221.000 Arbeitsplätze stünden insgesamt infolge der Elektrifizierung auf der Kippe. Die Ökonomen hatten sich in der vom Branchenverband VDA in Auftrag gegebenen Studie auf die Autoindustrie selbst konzentriert.
Es gibt allerdings noch weitaus drastischere Schätzungen zum bevorstehenden Arbeitsplatzabbau als jene des VDA. So geht das an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach angesiedelte Center of Automotive Management bis 2030 netto von einem Verlust von 15 bis 20 Prozent aller Arbeitsplätze aus, also inklusive der neu entstehenden Arbeitsplätze etwa für die Herstellung von Elektromotoren oder dem Zusammenbauen von Batterien, wie Heise berichtet. Dabei könnte es sich folglich um eine Größenordnung von 120.000 und 160.000 Stellen handeln.
Der ehemalige Präsident des Verbands der Automobilhersteller (VDA), Bernhard Mattes, rechnete Ende 2019 damit, dass die Umstellung auf Elektroantriebe die Autobranche in Deutschland Zehntausende Arbeitsplätze kostet. „Wir gehen davon aus, dass etwa 70.000 Stellen wegfallen“, sagte er dem Kölner Stadt-Anzeiger. Die deutsche Automobil-Branche umfasst rund 820.000 Arbeitsplätze, wenn man Zulieferbetriebe hinzuzählt.
Dem Ifo-Institut zufolge hängen rund 460.000 Beschäftigte indirekt an der Technologie der Verbrennungsmotoren entweder als Produzenten für Motoren oder als Zulieferer von Bauteilen und Kraftstoffen. „Wie viele dieser Stellen verloren gehen, hängt davon ab, wie viele der weltweit künftig nachgefragten Elektroautos in Deutschland gebaut werden. Und wie schnell die Zunahme der Elektromobilität geht", zitiert Heise das Ifo-Institut.
Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft schreibt in einer Stellungnahme: „Bereits unter den geltenden Flottengrenzwerten wären bis 2030 bis zu 215.000 Arbeitsplätze im Automobilsektor von der tiefgreifenden Transformation zur E-Mobilität betroffen. Das Verbot von Neuzulassungen für Verbrennungsmotoren ab 2035 wird diesen Druck weiter erhöhen. Davon werden vor allem die vielen mittelständischen Zulieferbetriebe betroffen sein. Das europäische Klimapaket wird so zur Belastungsprobe für den deutschen Mittelstand.“
Der Vorsitzende der christdemokratischen EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber, hatten das damals noch im Raum schwebende Verbot von Verbrennungsmotoren im April kritisiert. „Es reicht nicht, CO2-Vorgaben zu machen“, sagte Weber der Süddeutschen Zeitung und warnte mit Blick auf die 14 Millionen Arbeitsplätze in der europäischen Autoindustrie: „Der Ast, aus dem wir sitzen, sollte halten.“ Die Pläne des EU-Klimakommissars Frans Timmermanns machten ihm Sorge, sagte Weber und warnte mit Blick auf neue Euro7-Grenzwerte vor einer „Verbrenner-Verbotspolitik durch die Hintertür“. Europa setze bereits weltweit Maßstäbe bei der Klimapolitik und dürfe die Wende zu Klimaneutralität nicht auf dem Rücken der Menschen austragen, die sich kein neues E-Auto leisten könnten oder um ihren Arbeitsplatz fürchteten.
Im Februar des laufenden Jahres warnte BMW-Betriebsratschef Manfred Schoch vor dem Verlust unzähliger Arbeitsplätze durch ein EU-weites Verbot von Benzin- und Dieselautos ab 2025. „Wir werden eine Arbeitslosigkeit erleben, wie wir sie noch nie gehabt haben. Wenn die Politiker hier den Hebel umlegen, wird es zappenduster in Deutschland“, sagte Schoch bei einem Forum des Autoclubs Mobil in Deutschland. Er habe Angst, dass die Politiker in Berlin und Brüssel nur noch das Thema „Klima“ sehen. Die Folgen für Arbeitsplätze, Wohlstand und individuelle Mobilität würden ausgeblendet. „Ich warne die Politik, das Thema Klima eindimensional anzugehen und mit dem Wohlstand in Deutschland zu pokern“, sagte der BMW-Betriebsratschef
Im November 2020 eskalierte bei Daimler die Situation, der Betriebsrat rief die Angestellten zu Demonstrationen gegen umfangreiche Stellestreichungen auf. Die Belegschaft habe schon Sparbeiträge in der Corona-Krise und zum Bewältigen des von der Politik geforderten Umbruchs hin zur Elektromobilität geleistet. „Doch es reicht dem Vorstand nicht. Funktionen sollen ins Ausland verlagert oder gleich ganz verkauft werden. In den Werken zittern die Beschäftigten und haben Angst um ihre Zukunft“, erklärte Betriebsratschef Michael Brecht. Der Dax-Konzern will die Personalkosten deutlich senken, um den teuren Wandel zu Elektroautos zu stemmen und den Gewinneinbruch in der Corona-Krise zu meistern. Eine konkrete Zahl zum geplanten Jobabbau nennt Daimler nicht. Spekuliert wird über 20.000 bis 30.000 gefährdete Stellen.
Im Oktober 2020 warf der Chefaufseher des Autozulieferers Continental der Politik eine Mitschuld am massiven Stellenabbau des Konzerns vor. „Man zerstört politisch die Autoindustrie, die ja noch 99 Prozent ihrer Wertschöpfung durch Autos mit Verbrennungsmotor generiert“, sagte der Aufsichtsratsvorsitzende Wolfgang Reitzle dem Nachrichtenportal The Pioneer. Hersteller und Kunden würden in die „noch nicht wirklich marktreife E-Mobilität“ getrieben, der Verbrenner „diffamiert“. „Ergebnis: Wir müssen Fabriken schließen und Arbeitsplätze abbauen“, sagte Reitzle.
„Wir werden in den kommenden Jahren eine Autoindustrie erleben, in der es Unternehmen gibt, die einfach nicht mehr mithalten können“, sagte Arndt Ellinghorst vom Investmentberater Evercore ISI im jahr 2019. Das Kleinwagen-Segment werde immer schwieriger, da die Kosten der CO2-Regulierung nicht weitergegeben werden könnten. „Klassische Zulieferer werden immer mehr in die Zange genommen, da die Hersteller sparen müssen.“
Die von der EU verfügten Klimaschutzmaßnahmen und CO2-Ziele könnten für einige Unternehmen nach Einschätzung von PSA-Chef Carlos Tavares in den kommenden zehn Jahren das Aus bedeuten. „Ich wäre überrascht, wenn wir angesichts des Ausmaßes der bevorstehenden Veränderung nicht ein paar Insolvenzen sehen würden“, sagte der Chef des französischen Autobauers im Jahr 2019 auf der IAA in Frankfurt.
Das Positiv-Szenario: Alles bleibt, wie es ist
Eine Studie der Denkfabrik Agora Verkehrswende und der Boston Consulting Group (BCG) stellt hingegen ein kleines Plus von 25.000 Arbeitsplätzen bei der Umstellung auf E-Autos in Deutschland in Aussicht.
Der Untersuchung zufolge dürfte die Elektromobilität im Vergleich der Jahre 2020 und 2030 bei den Herstellern unterm Strich 70.000 Arbeitsplätze kosten, weil die Produktion weniger aufwendig wird. Auf den Antriebsstrang konzentrierte Zulieferer verlieren demnach 95.000 Jobs, weil ihre Produkte seltener benötigt werden. Weitere 15.000 Arbeitsplätze verschwinden in den Werkstätten, weil Elektroautos in der Regel wartungsärmer sind als Verbrenner.
Aber der Umbruch habe auch positive Seiten, so die Studienautoren. So erwarten die Autoren etwa 95.000 neue Stellen bei anderen Zulieferern, beispielsweise für Batterien. Zudem muss die Ladeinfrastruktur entstehen und genügend Strom produziert werden, was für 95.000 Stellen in Energieinfrastruktur und -herstellung sorgen soll. Weitere 15.000 dürfte es demzufolge bei Anlagenbau und Dienstleistungen geben, weil Autowerke umgebaut werden müssen. Unter dem Strich bliebe also ein Plus von 25.000 Arbeitsplätzen.
Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation war Ende 2020 im Auftrag des Nachhaltigkeitsbeirats von Volkswagen zu dem Ergebnis gelangt, dass E-Mobilität und Vernetzung insgesamt „sehr viel geringere“ Folgen für die Beschäftigung im Konzern hätten als bei früheren Betrachtungen angenommen: In den sechs analysierten Werken werde der Bedarf an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um 2.900 sinken, der Großteil im Karosseriebau oder in der Montage bliebe erhalten.
„Die automobile Arbeitswelt wird sich im kommenden Jahrzehnt fundamental wandeln“, so Kristian Kuhlmann von BCG. „Hier entsteht ein großer Bedarf an Umschulung und Weiterbildung der Arbeitnehmer.“ Für fast die Hälfte der heute rund 1,7 Millionen Stellen in der Branche und angrenzenden Industriezweigen ändere sich das Berufsbild. Bei einer halben Million Arbeitnehmern bestehe Weiterbildungsbedarf.
Dabei kommt es sehr darauf an, ob ein Weltkonzern, ein Mittelständler oder ein kleiner Zulieferer den Umschwung für die Belegschaft organisieren muss. Großunternehmen wie Volkswagen, BMW oder Daimler stecken bereits viel Geld in Maßnahmen zur „Transformation“. Die Gewerkschaften und Regierungen der drei deutschen Haupt-Autoländer Niedersachsen, Bayern und Baden-Württemberg haben das Thema ebenfalls längst erkannt. Niedersachsen etwa hat sich an der Bildung regionaler „Hubs“ beteiligt, um den Austausch vor allem für weniger finanzstarke Zulieferer zu erleichtern und mehr Fortbildungen anzuschieben.
„Die Transformation der Jobs ist kein Automatismus, sondern hängt an den richtigen Rahmenbedingungen, die geschaffen werden müssen“, sagt auch ein Sprecher des VDA zu der aktuellen Analyse. Die Bundesagentur für Arbeit richtet sich auf Probleme bei kleineren Zulieferern ein. „Es werden sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren gehen, damit müssen wir rechnen“, sagte BA-Chef Detlef Scheele Anfang Juni. Insgesamt erwartet er aber, dass der Transformationsprozess „aller Voraussicht nach relativ gut gelingen“ werde.
Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) wirbt für „Technologieoffenheit“. Er will neben batteriebetriebenen Fahrzeugen auch auf Brennstoffzellenautos sowie Fahrzeuge mit synthetischen Kraftstoffen setzen. VW-Chef Herbert Diess hält wenig davon - er setzt voll auf den Hochlauf reiner Stromer, hält die Energieeffizienz sowie die Kostenstrukturen anderer Antriebe für klar unterlegen.
Zu den Gewinnern des anstehenden Wandels könne insgesamt der Osten Deutschlands gehören, sagt Kuhlmann. Er verwies auf die Ansiedlung etwa von Werken zur Fertigung von Batteriezellen für Elektroautos. Im Einzelnen geht die Studie in der Region von 16.000 zusätzlichen Stellen aus. In Westdeutschland erwartet sie demgegenüber ein Plus von 6.000, in Norddeutschland von 5.000. Verlierer wäre Süddeutschland mit prognostizierten Rückgängen um je 2.000 Arbeitsplätzen.